Demokratie hat sich durchgesetzt
Nach angespannten, teils dramatischen Wochen ging am 20. August der guatemaltekische Wahlkrimi zu Ende – zunächst einmal. Der erste Wahlgang im Juni ging mit einem unerwarteten Aus einiger auch von der Demoskopie auf die ersten Plätze gesetzten Favoriten und dem 2. Platz für die linksorientierte Partei SEMILLA und ihren Spitzenkandidaten Bernardo Arévalo einher. Dies hatte für heftige Reaktionen weiter Teile des politischen Establishments gesorgt und setzte eine auch für Guatemala unbekannte Dimension der Justizialisierung des Wahlprozesses in Gang.
Dieses politische Erdbeben, in keiner der Umfragen vorhergesehen, rief zunächst zahlreiche Parteien auf den Plan, die breiten Wahlbetrug witterten. Schnell stellte sich bei angeordneten Nachzählungen heraus, dass keines der Ergebnisse korrigiert werden musste, selbst in der Hauptstadt Guatemala-Stadt mit einem Abstand von lediglich knapp 400 Stimmen zwischen den beiden erstplatzierten Kandidaten, hatte das Ergebnis Bestand. Der Vorwurf des Wahlbetruges fiel daher innerhalb kurzer Zeit in sich zusammen.
Das war angesichts eines insgesamt transparenten und der öffentlichen Kontrolle zugänglichen Wahl- und Auszählungsprozesses auch nicht weiter verwunderlich. Die zu hinterfragenden und die Wahlen beeinflussenden Aktionen wie insbesondere die Zu- und Nichtzulassung bestimmter Kandidaturen oder die Annullierung der Partei des in allen Umfragen Erstplatzierten einer Präsidentschaftskandidatur im laufenden Wahlkampf und damit das Ende weiterer rund 1.200 Kandidaturen für Parlament und Kommunen dieser Partei durch den Wahlgerichtshof fanden vorher statt.
Nachdem der Vorwurf des Wahlbetruges in sich zusammengebrochen war, schlug das ¨System“ jedoch zu. Teile der Justiz traten auf den Plan. Zunächst wurde dem Wahlgerichtshof (TSE) verboten, das amtliche Wahlergebnis und damit das Bewerberduo für die Stichwahlen am 20. August festzustellen. Damit schien der Wahltermin am 20. August gefährdet. Dies wiederum mobilisierte die Anhänger nicht nur von SEMILLA, sondern auch andere Akteure und Parteien bis hin zur Internationalen Gemeinschaft, die sehr deutlich zum Ausdruck brachten, dass sie die Anerkennung der Ergebnisse des 1. Wahlganges und die ordnungsgemäße Durchführung der Stichwahlen erwarten.
In diesem Kontext hat der TSE, der als Teil des Institutionensystems ebenfalls viel Kritik, Misstrauen bis zum Vorwurf durch die Regierung korrumpiert zu werden, ausgesetzt ist, an Glaubwürdigkeit zurückgewonnen, da er von Beginn an daraufsetzte, die Ergebnisse vom 20. Juni zu offizialisieren und den 2. Wahlgang zu garantieren. Damit geriet aber auch der TSE selbst in die Schusslinie der Justiz.
Dies ist zurückzuführen auf die in Gang gesetzte Untersuchung gegen SEMILLA mit dem Vorwurf, die Partei habe bei ihrer Gründung (im Jahre 2017 und legalisiert im November 2018) erforderliche Dokumente gefälscht.
Dies zielte zunächst darauf ab, deren Kandidaten Arévalo aus dem Rennen um die Präsidentschaft zu nehmen, was durch das Verfassungsgericht gestoppt wurde. Die strafrechtlichen Untersuchungen gegen SEMILLA dürften jedoch weitergeführt werden.
In der Folge wurden Büros von SEMILLA, aber auch Büros des TSE und untergeordneter Einrichtungen von Sturmtruppen in Masken untersucht, Dokumente beschlagnahmt usw. Bei diesen Bildern konnte man den Eindruck gewinnen, es handele sich um ein Vorgehen gegen höchst gefährliche terroristische Untergrundzellen oder Organisationen der Organisierten Kriminalität.
Auch wurden Untersuchungen gegen alle Mitarbeiter und die Freiwillige in den Wahllokalen angekündigt. Schließlich gab die Staatsanwaltschaft wenige Tage vor der Wahl sogar bekannt, dass unmittelbar nach der Wahl erste Verhaftungen erfolgen würden.
Es kristallisierte sich ein ¨Verfolgertrio“, bestehend aus der Generalstaatsanwältin, einem Richter und einem Sonderstaatsanwalt heraus, das, bei aller zu konstatierenden partiellen
Dysfunktionalität des politischen Systems nicht so agieren könnte wie es agierte, hätte es nicht die absolute Rückendeckung bestimmter Kreise.
Am Wahltag selbst hat nun eine Richterin des TSE, die nach den Wahlen die neue Präsidentin des TSE hätte werden sollen, ihren Rücktritt angekündigt. Als Begründung führte sie an, wenn die Staatsanwaltschaft einen Prozess gegen sie eröffnen wolle, dann solle sie das tun, sie stünde zur Verfügung und könne sich dann nicht auf ihre Immunität berufen.
Auch wenn der Kongress diesen Rücktritt erst noch annehmen muss, steckt viel explosiver Symbolismus in diesem Schritt, zeigt er doch, wie fragil und gefährdet Gewaltenteilung und das institutionelle System Guatemalas sind.
Politische Rahmenbedingungen
Guatemala ist mental und strukturell ein tief konservatives Land, ideologische Etiketten wie ¨liberal¨, ¨sozialdemokratisch¨ oder ähnliches mehr sind daher von begrenztem Aussagewert. Fragt man nach den fundamentalistischen Kräften in SEMILLA, die es mit Blick auf Landenteignungen beispielswiese auch gibt, dann erhält man vielfach zur Antwort: „Der Feminismus“.
Aus europäischer Sicht mag man das etwas belächeln, aber in einem Land, in dem die Agenda 2030 von vielen als eine von der internationalen Linken aufoktroyierte Zwangsagenda verstanden wird, sind solche Perzeptionen ernst zu nehmen.
Darauf spekulierte Sandra Torres, als sie, im Übrigen selbst Kandidatin einer Partei, die sich noch vor Jahren selbst als ¨sozialdemokratisch¨ charakterisierte, am Tag nach dem 1. Wahlgang Arévalo attackierte und mit Blick auf die diskutierte gleichgeschlechtliche Ehe versprach, die Kinder Guatemalas zu schützen. Evangelikale warnten davor, dass es mehr homosexuelle Priester gäbe. Die Heirat der lesbischen Tochter Arévalos in Mexiko wurde durch die Medien geschleift.
Mit ihrer strategisch durchaus geschickten Aussage, die sozialdemokratische Selbsteinordnung gehöre der Vergangenheit an
und ihre Ideologie sei nunmehr ¨Guatemala¨ öffnete Torres einen Schirm, unter dem sie gerade in der Schlussphase des Wahlkampfes sehr unterschiedliche Kräfte zusammenzuführen versuchte. Hervorzuheben sind dabei ihre intensivierten Kontakte zu den in Guatemala durchaus einflussreichen konservativen evangelikalen Kräften ebenso wie der Schulterschluss mit einer Vielzahl von neugewählten Bürgermeistern der Regierungspartei VAMOS.
Erinnerungen an die USA kamen hoch, als versucht wurde, Arévalo, der während des Exils seines Vaters in Uruguay geboren wurde, aber guatemaltekischer Staatsbürger ist, als „Uruguayer¨ zu bezeichnen, um ihm damit das Recht zu kandidieren, streitig zu machen.
Das Wahlergebnis
Die wenigen Umfragen vor dem 2. Wahlgang sahen alle Arévalo mit weitem Abstand vor Torres. Diese Umfragen spiegelten nach Einschätzung vieler Experten zwar eine realistische Grundtendenz wieder, ein derart großer Abstand wurde jedoch allgemein für unwahrscheinlich gehalten. Vielmehr wurde vermutet, dass es ein ¨voto oculto¨, d.h. ein verstecktes Votum für Torres geben könnte von Menschen, die sich nicht trauen, ihre Wahlpräferenz zuzugeben.
SEMILLA, bis zum 1. Wahlgang eine eher im urbanen Milieu verankerte Partei, ist es in den darauffolgenden Wochen gelungen, diese Barriere zu überwinden und erhielt immer mehr Zulauf auch in ländlichen Gebieten. Arévalo, bis zum 1. Wahlgang kaum jemandem bekannt, der temperamentsmäßig eher behäbig bis langweilig rüberkommt und Bierzelte nicht zum Toben bringt, gewinnt aber stark im unmittelbaren und persönlichen Kontakt, was gerade im ländlichen Bereich neue Räume für ihn geschaffen hat.
Er und seine Partei waren, so die Vermutung vieler Beobachter, nicht auf dem Radar der aktuell Regierenden, sonst wäre er wie andere Kandidaten und Parteien vermutlich erst gar nicht zu den Wahlen zugelassen worden.
Arévalo hat unter dem Motto ¨Wechsel und Zukunft¨ einen sachlichen Wahlkampf geführt, das Gespräch und die Debatte gesucht, während Torres jeder unmittelbaren Debatte mit ihm aus dem Weg gegangen ist.
Auch der Umstand, dass sich ein beträchtlicher Teil der jungen Wähler für ihn eingesetzt hat, war ein wesentlicher Einflussfaktor.
Die Schmutzkampagnen haben nicht gegriffen, vielmehr deutet einiges darauf hin, dass die Verfolgung durch die Justiz und die damit überwiegend zugunsten SEMILLAS wirkende Atmosphäre im Endergebnis eine unschätzbare Wahlkampfhilfe für Arévalo war.
Ergebnis eindeutig – Auswirkungen unklar
So eindeutig das Wahlergebnis auch ist, noch in der Wahlnacht überboten sich die Analysten mit denkbaren Szenarien, besonders positive sind bislang nicht darunter.
Man hält es nicht für ausgemacht, dass Arévalo bis zum 14. Januar 2024, dem offiziellen Tag der Amtsübergabe, gelangt. Der amtierende Staatspräsident hat zwar im Gegensatz zu Torres bereits am frühen Wahlabend Arévalo gratuliert und eine ordnungsgemäße Amtsübergabe zugesagt, aber er ist der scheidende Präsident, seine Macht schwindet von Tag zu Tag.
Torres und ihre Partei UNE haben sich eine Bewertung des Wahlergebnisses bis zur Auszählung der letzten Stimme vorbehalten.
Ist mit einer landesweiten Anfechtung aller Wahllokalauszählungen durch die UNE zu rechnen? Wird wie nach dem 1. Wahlgang mit Hilfe der Justiz versucht werden, die offizielle Feststellung des Wahlergebnisses zu verhindern und damit der Justiz weitere Handlungsspielräume zu eröffnen? Welche Szenarien eröffnet eine Situation, in der, aus welchen Gründen auch immer, am 14. Januar die Kandidatin für die Vize-Präsidentschaft das Präsidentenamt übernehmen müsste? Welches wäre das Procedere, wenn auch sie verhindert würde?
All diese Spekulationen, die hoffentlich Spekulationen bleiben, zeigen jedoch deutlich, in welchem spannungsgeladenen und explosiven politischen Klima der Übergang zur neuen Präsidentschaft stattfinden wird.
Arévalo und die ¨gobernabilidad¨
Bis Arévalo am 14. Januar 2024 als neuer Staatspräsident vereidigt werden kann, werden die kommenden Monate bis zu diesem verfassungsmäßig festgelegten Datum zeigen, was bestimmte Kräfte und Machtfaktoren
einzusetzen und riskieren bereit sind. Spielt man auch nach den Wahlen noch auf ¨Alles oder Nichts¨? Mit wem und welchen Methoden? Oder setzt man nach der Vereidigung auf eine de-facto-Blockade des neuen Präsidenten mit allen damit für das Land verbundenen negativen Konsequenzen? Welchen Weg wird die Mischung aus persönlichen Interessen (eine vierte Kandidatur von Torres dürfte kaum realistisch sein) und strukturellen Interessen ergeben?
Einen ersten Hinweis auf diese mögliche Strategie gibt die Debatte über die Neuwahl der Richter des Obersten Gerichtshofes (die seit rund vier Jahren über ihre Amtszeit hinaus im Amt sind) durch die noch bestehende Koalitionsmehrheit. Dies würde dem künftigen Präsidenten noch vor seinem Amtsantritt ein gewichtiges ¨Gegen-Organ¨mit auf den Weg zu geben. Aber auch unabhängig davon ist die Frage der ¨gobernabilidad¨, der ¨Regierbarkeit¨ des Landes gestellt.
Dies ist an mehreren Faktoren festzumachen:
- SEMILLA ist eine kleine Partei, die von ihrem Erfolg selbst wohl am meisten überrascht war. Es dürfte Arévalo schwer bis unmöglich fallen, alle wichtigen Positionen mit eigenen Leuten und Vertrauten zu besetzen. Er ist daher auf Rekrutierungen angewiesen, die ein hohes Risiko bergen.
- SEMILLA verfügt lediglich über 23 von insgesamt 160 Abgeordneten. Für die Umsetzung von Gesetzesvorhaben im Parlament bedarf Arévalo daher der Unterstützung vor allem von den Parteien, die zu seinen erklärten Widersachern zählen.
- Sollte SEMILLA als Partei annulliert werden, würde dies zwar die Wahl Arévalos nicht beeinträchtigen und auch die gewählten Abgeordneten könnten ihre Mandate behalten. Sie wären dann aber ¨unabhängige Abgeordnete¨ und hätten keinen Fraktionsstatus mehr, was natürlich die Arbeits- und Einflussmöglichkeiten im Kongress massiv beschneiden würde.
- Völlig offen ist die Frage, wie sich die sogenannten ¨faktischen Mächte¨, d.h. organisierte Interessengruppen bis hin zur OK oder dem Narcoeinfluss sich zu den von Arévalo angekündigten Reformen verhalten werden.
Der Regierbarkeitskontext, innerhalb dessen der Staatspräsident nur einer von mehreren Faktoren ist, wird letztlich über den Erfolg der Regierung Arévalo entscheiden.
In Arévalo haben sich sehr vielgestaltige Interessen, Hoffnungen und Erwartungen gebündelt. Auf ihn und seine Regierung wartet angesichts des komplexen Problemdrucks eine Herkules-Arbeit. Die Hoffnung auf tiefgreifende Veränderungen und Verbesserungen im Land und die damit einhergehenden Erwartungen an die neue Regierung sind jedoch von einer Dimension, die in vier Jahren nicht erfüllt werden können, so dass Enttäuschungen auch in einem unproblematischeren politischen und gesellschaftlichen Kontext vorprogrammiert wären.
Es bleibt die Hoffnung, dass durch diese Wahl ausreichend Selbstreinigungskräfte geweckt worden sind, die in der Lage sind, das in Misskredit und unter Druck geratene politische Systems Guatemalas, eines Landes, das vor Jahrzehnten unter vielen Opfern seinen Weg zur Demokratie gefunden hat, zu stabilisieren, zu modernisieren und zu stärken.
Vielleicht sind diese Wahlen die letzte Chance Guatemalas, sich als demokratischer Hort in einem Zentralamerika zu beweisen, in dem autokratische bis diktatorische Tendenzen und Systeme an Boden gewonnen haben und entsprechende Versuchungen in so manchem Land existent sind.
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