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IMAGO / ITAR-TASS

Reportage sui paesi

Die Menschenrechtslage in Belarus am Vorabend des "Einheitlichen Wahltags"

Das repressive System im heutigen Belarus ist nicht weniger brutal als in Putins Russland

Nur wenige Tage, nachdem die Eilmeldung vom Tod Alexej Nawalnys weltweit Schlagzeilen macht, berichten unabhängige belarusische Medien über eine weitere Tragödie, die einen ähnlichen Charakter hat, aber wohl viel weniger Aufmerksamkeit erregen wird. Der politische Gefangene Ihar Lednik starb in einem Minsker Krankenhaus, nachdem er trotz eines bekannten Herzleidens inhaftiert worden war. Ihm war vorgeworfen worden, Lukaschenka "verleumdet" zu haben – mit einer Publikation, die die Auflösung des Unionsstaates mit Russland forderte. Dies unterstreicht einmal mehr, dass das repressive System im heutigen Belarus nicht weniger brutal ist als in Putins Russland. Seit 2020 sind in Belarus mindestens fünf politische Gefangene ums Leben gekommen, vier von ihnen innerhalb der letzten neun Monate. Seit letztem Frühjahr sind mindestens sechs weitere politische Gefangene, darunter die prominentesten Anführer der demokratischen Proteste von 2020, "verschwunden". Ehemalige Häftlinge und Angehörige beschreiben die Zustände in den Strafkolonien als "schleichenden Tod" und die UNO sieht Anzeichen von "Verbrechen gegen die Menschlichkeit". Da die Repressionen darauf abzielen, Lukaschenkas Herrschaft über „Wahlen“ hinaus abzusichern, soll dieser Bericht einen Überblick über die Menschenrechtslage in Belarus am Vorabend des „einheitlichen Wahltages“ am 25. Februar 2024 geben.

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Der „einheitliche Wahltag“

Als das Lukaschenka-Regime am 20. November 2023 einen „einheitlichen“ Wahltag für die Parlaments- und Kommunalwahlen ankündigte, gab es damit offiziell den Startschuss für einen politischen Prozess, der mehr als ein Jahr dauern wird. Der 25. Februar markiert den Beginn dieser Periode, die nicht vor den Präsidentschafts-„Wahlen“ von 2025 abgeschlossen sein wird. Nachdem die beispiellosen pro-demokratischen Proteste im Herbst 2020 das autoritäre System fast gestürzt hätten, will Lukaschenka diesmal „nichts anbrennen“ lassen.

Ein Element der Kontrolle ist die Gestaltung des Prozesses. Am „einheitlichen Wahltag“ werden 110 Mitglieder der Abgeordnetenkammer und 12.514 Abgeordnete in 1.284 Gemeinderäten „gewählt“ – das heißt vor allem, dass sorgfältig vorbestimmte Kandidaten für diese Posten bestätigt werden. Zum ersten Mal in Belarus darf nicht ein einziger Oppositionskandidat antreten. Die Wahlkommissionen wurden durchweg mit anonymen Loyalisten besetzt und es sind keine OSZE-Beobachter zugelassen.

Im Laufe des Frühjahrs, voraussichtlich bis April, werden dann bis zu 1200 Delegierte in das neugeschaffene höchste Verfassungsorgan berufen – die sogenannte Allbelarusische Volksversammlung. Danach hat Lukaschenka mindestens bis zum 20. Juli 2025 Zeit, seine "Wiederwahl" zu inszenieren oder jemand anderen zum Präsidenten zu ernennen, vorausgesetzt, er fühlt sich als Vorsitzender der „Versammlung“ sicher genug, die Fäden der Macht weiter in den Händen zu halten.

Das zweite Schlüsselelement besteht darin, die Gesellschaft zu kontrollieren, indem die Repressionen noch weiter verschärft werden. In den letzten Jahren gab es bereits viele Berichte von belarusischen und internationalen Organisationen über die schreckliche Menschenrechtssituation in Belarus. Jetzt fährt Lukaschenkas Sicherheitsapparat seine „Bemühungen“ noch einmal hoch. Das Ziel scheint so weit gefasst, dass nicht nur politische Strukturen ausgemerzt werden sollen – wie es mit dem Verbot aller demokratischen politischen Parteien geschehen ist –, sondern auch alle Anzeichen von Selbstorganisation oder Selbstverwaltung in der Gesellschaft. Das Regime zielt darauf ab, eine allgemeine Atmosphäre der Angst und politischen Aussichtslosigkeit zu schaffen, damit Leute gar nicht erst auf die Idee kommen, gegen irgendetwas zu protestieren. Neben manchen gezielten, personalisierten Maßnahmen setzt es auf Mechanismen, die ganze Teile der Bevölkerung gemeinsam unterdrücken. Damit weitete es den Wirkbereich von Repressionen aus und geht nicht nur von den Großstädten in die Regionen und sogar über die Landesgrenzen hinaus.

Damit werden auch Lukaschenkas Vergeltungsmaßnahmen gegen Belarusen im Ausland zunehmend systematisiert, z.B. indem der Diaspora konsularische Dienstleistungen verweigert werden. Dieser Prozess führt auch zur „legalistischen“ Kriminalisierung der im Exil lebenden Opposition durch das Regime und zur Vergiftung von Kontakten zwischen den im Land verbliebenen Aktivisten (oder auch nur Familienmitgliedern) und der pro-demokratischen Diaspora.

 

Wichtige Tendenzen in den Jahren 2023 und 2024

Politische Gefangene

Im Jahr 2023 erließen belarusische Gerichte mindestens 4.466 Urteile in Verwaltungsverfahren, von denen in 1.822 Fällen Geldstrafen und in 2.005 Fällen Verwaltungsfreiheitsstrafen verhängt wurden. Allein im Januar 2024 erhielt das Menschenrechtszentrum Viasna Informationen über mindestens 560 Fälle von Repression, darunter 310 Inhaftierungen und 349 Verwaltungsverfahren (390 im Dezember 2023) aus politischen Gründen. Das bedeutet, dass im vergangenen Monat jeden Tag mindestens 10 Personen aus politischen Gründen festgenommen wurden.

Ende 2023 waren Viasna 4.248 Personen bekannt, die aufgrund politisch motivierter Vorwürfe zu unterschiedlichen Strafen verurteilt wurden, darunter 910 Frauen. 1.603 von ihnen wurden im vergangenen Jahr verurteilt. Am 31. Januar 2024 gab es in Belarus 1.429 politische Gefangene. Aber da die Einstufung von Gefangenen als „politisch“ von den Kapazitäten der Menschenrechtsorganisationen abhängt, die jeden Fall nach einer bestimmten Methodik bewerten, und einige Gefangene darum bitten, nicht als „politisch“ eingestuft zu werden, um die zusätzlichen Härten der Haft zu vermeiden, könnte die Dunkelziffer dreimal höher liegen. Insgesamt sind Viasna mehr als 4.500 Verurteilungen in politisch motivierten Strafverfahren bekannt.

Laut Zeugenaussagen aus erster Hand oder von Familienangehörigen werden die meisten politischen Gefangenen unter besonders harten Bedingungen festgehalten, die oft Folter gleichkommen. Nach einer Schätzung des UN-Menschenrechtsrats könnte es sich dabei sogar um „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ handeln. Die breite Sammlung von Berichten ehemaliger politischer Gefangener, die psychischen Druck, körperliche Gewalt, aber auch Demütigungen und Beleidigungen durch Polizeibeamte erlebt haben, zeigt deutlich, dass es sich nicht um Einzelfälle handelt, sondern um ein weit verbreitetes Phänomen.

Der jüngste Tod des politischen Gefangenen Ihad Lednik am 20. Februar 2024 ist dementsprechend nur die Spitze eines Eisbergs aus Gewalt. Mindestens fünf politische Gefangene sind Berichten zufolge seit 2020 in Lukaschenkas Gefängnissen an den Folgen von Folter oder unzureichender medizinischer Versorgung gestorben – vier davon in den letzten neun Monaten.

Ein alarmierender „Trend“ des Jahres 2023 war, dass einige der "prominentesten" politischen Gefangenen spurlos verschwunden sind. Zu ihren Namen gehören Maria Kalesnikava (keine Nachrichten seit dem 15. Februar 2023), Mikalai Statkevich (seit 10. Februar 2023), Siarhei Tsikhanouski (seit 9. März 2023), Ihar Losik (seit 20. Februar 2023), Viktar Babaryka (seit 25. April  2023  ), Friedensnobelpreisträger Ales Bjaljazki und andere politische Gefangene. Weder ihre Angehörigen noch ihre Anwälte durften Kontakt aufnehmen und da Kalesnikava und Babaryka schon bereits zuvor einmal ins Krankenhaus hatten eingeliefert werden müssen, fragen sich viele, ob sie überhaupt noch am Leben sind.

Innerhalb des Strafvollzugs werden politische Gefangene regelmäßig verstärkten Überwachungsmaßnahmen und Einschränkungen unterworfen, auch solchen, die gesetzlich nicht vorgesehen sind. Mit Stand Januar 2024 kennt Viasna die Namen von 100 politischen Gefangenen, die von der Gefängnisverwaltung wegen „Verstoßes gegen die Regeln des Gefängnisalltags“ angeklagt wurden. Bei 67 politischen Gefangenen wurde deswegen die Haftzeit erhöht. Es ist nicht einmal ungewöhnlich, dass Haftstrafen aufgrund (angeblichen) „böswilligen Ungehorsams gegenüber der Gefängnisverwaltung“ verlängert werden. Im Jahr 2023 geschah dies in nicht weniger als 29 Fällen, bei sechs politischen Gefangenen sogar mehrfach.

Einige politische Gefangene verbüßen Haftzeitenzeiten, die in den meisten westlichen Ländern über dem Maß von „lebenslänglich“ liegen. Andere wurden zu kürzeren Strafen verurteilt und somit sind immerhin über 1.500 Menschen bereits wieder entlassen oder in eine andere Vollzugskategorie überführt worden, wie etwa Hausarrest statt Gefängnis.

 

„Extremisten“ und „Terroristen“

Im vergangenen Jahr gab es einen deutlichen Anstieg der Strafverfahren wegen „Gründung, Führung und Beteiligung an extremistischen Gruppierungen“ sowie „Beihilfe und Finanzierung extremistischer Aktivitäten“. Ende 2023 umfasste die Liste „extremistischer“ Gruppen 169 Organisationen, von denen 62 im Jahr 2023 hinzugekommen waren.

Die „Extremistenliste“ von Einzelpersonen, die am 23. März 2022 von Lukaschenkas Innenministerium angelegt wurde, wuchs im Laufe des Jahres 2023 um 1.391 Personen auf insgesamt 3.654. Im Januar 2024 kamen weitere 86 Fälle hinzu. Gleichzeitig werden Einzelpersonen immer noch routinemäßig strafrechtlich verfolgt, weil sie an den Protesten von 2020 teilgenommen oder Protestaktionen in Online-Kommentaren unterstützt haben.

Eine Kategorie, die noch weiter geht, ist die des Terrorismus. Vor 2020 umfasste das Verzeichnis des KGB vor allem Bürger aus Afghanistan, Syrien, Somalia und Nordkorea – basierend auf Listen des UN-Sicherheitsrats. Seit 2020 sind immer mehr belarusische Staatsangehörige hinzugekommen, so dass Ende 2023 397 von 1.156 „Terroristen“ Belarusen waren.

Im Jahr 2023 setzten die Behörden die Praxis fort, auch Medienportale, Telegrammkanäle, Symbole, Utensilien, Publikationen und Bücher (darunter auch Werke klassischer Schriftsteller) als „extremistisches Material“ zu bezeichnen. Insgesamt erließen Lukaschenkas Gerichte im Jahr 2023 888 Entscheidungen, in denen Materialien als „extremistisch“ eingestuft wurden – etwa 20 Prozent mehr als im Vorjahr. Allein im Januar 2024 wurden weitere 107 solcher Entscheidungen getroffen.

Eine derartige Kategorisierung seitens der Behörden bedeutet, dass es für die Menschen in Belarus brandgefährlich ist, überhaupt noch freie Medien zu lesen oder gar als extremistisch gebrandmarkte NGOs oder politische Gefangene zu unterstützen. Wer dies dennoch tut, geht erhebliche persönliche Risiken ein. Mit „Terroristen“ – lies: pro-demokratischen Politikern – überhaupt in Kontakt zu stehen ist der sichere Weg zu einem Strafverfahren und damit ins Gefängnis. Es ist wichtig, dies im Blick zu haben, wenn man beurteilen will, warum freie Medien im erzwungenen Exil an Lesern in Belarus verlieren oder es keine Straßenproteste mehr gibt.

 

Verschiebung „rechtlicher“ Standards

Innerhalb des Lukaschenka-Systems haben die Gerichte längst eine Funktion als Repressionsinstrument übernommen. Am 25. März 2023 traten Änderungen des Strafgesetzbuches in Kraft, die die Möglichkeit vorsehen, die Todesstrafe – Belarus ist das letzte Land in Europa, das diese noch umsetzt – gegen Regierungsbeamte und Militärangehörige anzuwenden, die wegen „Hochverrats“ verurteilt wurden (Teil 2, Artikel 356 des Strafgesetzbuches). Das Hauptziel des Dokuments ist es, eine Atmosphäre der Angst zu schaffen, da der Begriff „Verrat“ einen weiten Interpretationsspielraum und eine quasi willkürliche Anwendung eröffnet.

 

Vergiftung der Beziehungen zu Belarusen im Ausland

Um die horizontalen Beziehungen und die Solidarität innerhalb der belarusischen Gesellschaft zu untergraben und die Verbindungen zwischen der im Exil lebenden Opposition und Aktivisten in Belarus zu kappen, führt das Regime sowohl breit angelegte als auch gezielte Aktionen durch. Im Jahr 2023 verfolgten die Behörden weiterhin Einzelpersonen wegen angeblicher Finanzierung „extremistischer Aktivitäten“, d.h. wegen Spenden an Solidaritätsfonds oder an belarusische Freiwillige in der Ukraine. Abgesehen von Geldstrafen werden die Menschen regelmäßig aufgefordert, für solche Spenden enorme Summen an „Reparationen“ an das Regime zu zahlen.

Strafanzeige kann auch nachträglich erstattet werden, wenn eine Empfängerorganisation zum Zeitpunkt der Spende noch nicht als „extremistisch“ eingestuft war. Bis heute weiß Viasna von mindestens 58 Personen, die wegen „Finanzierung einer extremistischen Gruppe“ verurteilt wurden. In den meisten Fällen handelt es sich dabei um Spenden an militärische Verbände in der Ukraine, wie das Kalinouski-Regiment. Die gegen sie verhängten Haftstrafen belaufen sich auf insgesamt 185 Jahre.

Der dramatischste Fall war die Verfolgung von über 229 Menschen wegen des Verdachts, (ehemalige) politische Gefangene und ihre Familien im Rahmen des humanitären Projekts INeedHelpBy unterstützt zu haben. Das Projekt war gerade erst als „extremistisch“ eingestuft worden, als die Anklage erhoben wurde. Belarusische Menschenrechtsverteidiger geben an, dass die Zahl 229 nur die ihnen bekannten Fälle widerspiegelt, während die tatsächliche Zahl der Betroffenen bis zu 700 Personen erreichen könnte.

Am 7. September 2023 trat in Belarus Lukaschenkos Dekret in Kraft, wonach seine diplomatischen Vertretungen keine Pässe mehr an Belarusen ausstellen, die sich dauerhaft im Ausland aufhalten. Mit dem Dekret wird auch ein neues Verfahren für die Ausstellung von Dokumenten und die Durchführung notarieller Handlungen eingeführt. Von nun an sollen etwa Immobilientransaktionen oder bestimmte Verwaltungsverfahren nur noch persönlich in Belarus oder auf der Grundlage einer auf dem Territorium von Belarus ausgestellten Vollmacht durchgeführt werden können. Längerfristig kann dies dazu führen, dass Belarusen im politischen Exil massenhaft enteignet werden. Viele von ihnen sind bereits in Abwesenheit verurteilt oder gegen sie ist ein Strafverfahren anhängig. Eine typische Einschätzung lautet: „Wenn meine Eltern in Belarus sterben, kann ich nicht zur Beerdigung kommen und das Haus meiner Kindheit holt sich den Staat“.

Tatsächlich wurden laut Viasna im Jahr 2023 mindestens 207 Menschen nach Kontrollen an der belarusischen Grenze, auch an der zu Russland, festgenommen. Fast alle von ihnen wurden zu administrativer Haft oder Geldstrafen verurteilt, unter anderem wegen der Veröffentlichung von Nachrichten aus unabhängigen Medien. Mindestens 18 von ihnen erhielten ein Strafverfahren, was bei zwei Dritteln zu einer Gefängnisstrafe führte.

 

Zusätzlicher Druck auf die demokratischen Kräfte

Im Januar 2024 leitete Lukaschenkas Ermittlungskomitee ein spezielles Strafverfahren gegen 20 Personen ein, die als „Tsikhanouskayas Analysten“ bezeichnet wurden. Zu diesen Personen zählen Experten, Wissenschaftler und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die mit demokratischen Initiativen in Verbindung stehen. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen vor, sich einer „Verschwörung“ angeschlossen zu haben, um die Staatsmacht in der Republik Belarus mit verfassungswidrigen Mitteln an sich zu reißen.

Bei einem weiteren Vorfall blockierte das Regime den Zugang zu YouTube in der Silvesternacht für erstaunliche 10 Minuten. Offenbarer Hintergrund war, dass Sviatlana Tsikhanouskaya eine Neujahrsansprache angekündigt hatte, die die Menschen in Belarus aber aus Sicht des Regimes nicht sehen sollten. Während dieser Schritt letztlich nur zusätzliche Aufmerksamkeit für das Video einbrachte, hatten Mitglieder des Koordinierungsrats (KR) und ihre Verwandten in Belarus weniger „Glück“. Am 20. November 2023 wurde ein neues Strafverfahren gegen die KR-Mitglieder nach sechs Artikeln des Strafgesetzbuches eingeleitet. Zwischen dem 28. November und dem 3. Dezember 2023 wurden mehr als 130 Durchsuchungen in ihren Wohnungen oder gemeldeten Wohnorten durchgeführt und 145 Anordnungen zur Beschlagnahme von Eigentum erlassen.

 

Säuberungen im Bildungssektor

In den letzten Monaten geriet vor allem der Bildungssektor unter zusätzlichen Druck. Bei einem hochrangigen Treffen Mitte Oktober forderte Lukaschenka von Universitätsrektoren und Beamten, die Bildungseinrichtungen des Landes vollständig von Mitarbeitern zu säubern, die Sympathien für die Proteste von 2020 geäußert hatten. Mitte Februar forderte Lukaschenka die Einsetzung einer Arbeitsgruppe, die bis zum 1. September das Bildungssystem überprüfen und „die Universitäten aufrütteln“ soll. Ziel ist es, die Bildungsinhalte stärker auf militärische und patriotische Bildung auszurichten und wirksamere Maßnahmen zu ergreifen, um die Abwanderung talentierter Absolventen an ausländische Universitäten zu verhindern. Abgesehen vom allgemeinen Braindrain will Lukaschenka ausdrücklich verhinderten, dass solche Leute nach einer Zeit im westlichen Ausland mit einer „verdrehten Denkweise“ zurückkehren würden. Von Fernsehpropagandisten verbreitete Gerüchte, dass die Europäische Humanistische Universität (EHU) in Vilnius als extremistisch eingestuft werden könnte, und die Entlassung von Schulleitern im westlichen Belarus, wo besonders viele Abiturienten den Weg an polnische Universitäten suchen, weist in die gleiche Richtung.

Eine weitere Maßnahme, die von Bildungsminister Andrej Iwawez vorgeschlagen wurde, ist die Ausweitung der Praxis der obligatorischen Arbeitseinsätze. Derzeit sind Absolventen belarusischer Universitäten, die kostenlos studiert haben, verpflichtet, zwei Jahre lang an einem zugewiesenen Arbeitsplatz zu arbeiten, mit der Option, sich „freizukaufen“. Diese Option könnte fallen gelassen und der obligatorische Dienst auf andere Gruppen ausgeweitet werden.

 

Faktor Russland

Experten weisen oft darauf hin, dass der Kreml Belarus als eine Art „Testgelände“ für politische Repressionen betrachtet. Methoden, die hier „gut funktioniert“ haben, werden später in Russland angewendet. Obwohl Lukaschenkas Repressionen „hausgemacht“ sind, zeigen beide Systeme in jüngster Zeit Bestrebungen, ihre Listen von „Extremisten“ zu synchronisieren. Bisher hatten oppositionelle Belarusen noch die Möglichkeit, über Russland aus dem Land zu fliehen, da die dortigen Strafverfolgungsbehörden nicht aktiv nach ihnen suchten. Ein gemeinsamer Mechanismus könnte das ändern und zu einer weiteren Blockade der sozialen Medien in Belarus oder sogar zu einer Diskriminierung religiöser Gruppen führen, wie etwa der in Russland verfolgten Zeugen Jehovas.

Der wichtigste „russische Faktor“ ist jedoch das alarmierende Fortschreiten der Russifizierung. In den vergangenen zwölf Monaten wurde dies in höchst symbolischer Weise sichtbar, etwa durch die Abschaffung der Latinka, einer Umschrift der belarusischen Sprache mit lateinischem Alphabet, oder die Umdeutung früherer Helden wie Kastus Kalinouski als „antibelarusische Figuren“. Sogar ein gemeinsames Geschichtsbuch wurde angekündigt, das wohl vor allem russische imperiale Narrative vermitteln würde.

Obwohl die Russifizierung von einigen pro-russischen Aktivisten aus Belarus aktiv unterstützt wird, besteht kein Zweifel daran, dass dieser Prozess insgesamt von oben vorangetrieben wird. Dies hat starke Auswirkungen auf die Wirtschaft und das Unternehmertum, wo viele Firmen auf den russischen Markt umgelenkt und oft direkt in die Kriegsmaschinerie eingebunden werden. Ein besonders verwundbares Feld ist jedoch der Bereich der Kultur. Hohe Beamte fordern die Schaffung eines „gemeinsamen Kulturraums von Belarus und Russland“. Die Schaffung eines gemeinsamen „Informationsraums“ wurde bereits auf dem jüngsten Gipfel des Obersten Staatsrats des Unionsstaats Ende Januar 2024 vereinbart. Ein dort vorgestellter Dreijahresplan sieht einen großen Block humanitärer, kultureller und sozialer Fragen vor. Ein gemeinsames Medienunternehmen des Unionsstaates mit Sitz in Moskau ist ebenfalls in Planung.

Im Alltag gibt es viele Beispiele für Russifizierung im Kultur- und Bildungsbereich. Dieser ist für die Bewahrung und Entwicklung der Identität des Landes von besonders hoher Relevanz und bildet letztlich eine entscheidende Grundlage für die nationale Souveränität und Widerstandsfähigkeit von Belarus als eigenständiger Kulturnation. Ein umfassender Bericht über die „Russifizierung im Kulturraum von Belarus 2022-2023“ wurde von PEN Belarus vorgelegt. Dort findet sich eine Vielzahl von Beispielen bei Ausstellungen, Konzerten, der Filmindustrie, Literatur und Projekten des kulturellen Gedächtnisses. Mit der Einführung eines staatlichen „Verzeichnisses der Veranstalter von Kultur- und Unterhaltungsveranstaltungen“ müssen alle geplanten Konzerte samt Teilnehmern von Ideologen und Strafverfolgungsbehörden auf Regimetreue überprüft werden. Nur wenige Darsteller bestehen eine solche Prüfung. In den Musiksälen von Belarus finden heute vor allem Konzerte ideologisch verifizierter russischer Musiker statt.

Aus russischer Sicht ist all dies viel mehr als gängige „Kulturdiplomatie“. Seit dem groß angelegten Einmarsch in die Ukraine haben die russischen Behörden Rekordsummen in Propaganda investiert. Nach den im Entwurf des Haushaltsgesetzes für die nächsten drei Jahre vorgelegten Daten beliefen sich die Kosten staatliche Medien im Jahr 2023 auf 122,1 Milliarden Rubel. Das übersteigt die Budgets mehrerer mittelgroßer russischer Regionen.

 

Schlüsse

Während in früheren Jahrzehnten die Intensität der Repressionen durch das belarusische Regime einer gewissen Zyklizität folgte, hat der Druck seit 2020 immer nur stetig zugenommen. Lukaschenka hat deutlich gemacht, dass er jeden bestrafen will, der es vor vier Jahren gewagt hat, sich gegen ihn aufzulehnen, und seine Sicherheitsdienste folgen dieser Weisung. Das wichtigste innenpolitische Instrument des belarusischen Regimes bleibt somit die Repression im weitesten Sinne – Kontrolle, Verbote, Einschränkungen, Überwachung, Nötigung, Einschüchterung, Bestrafung etc. – und die jüngsten Trends deuten auf eine geografische Ausdehnung in die Regionen und über die Landesgrenzen hinaus hin.

Auf der einen Seite demonstriert das Regime, dass es jetzt auf rohe Gewalt angewiesen ist, um sich gegen das eigene Volk zu „verteidigen“. Seit 2020 misstrauen die Behörden nicht nur politischen Gruppierungen, sondern der belarusischen (Zivil-)Gesellschaft insgesamt. Aus ihrer Sicht ist jeder, der Erfahrung und Ambitionen zur Selbstorganisation aufweist, „potentiell gefährlich“.

Auf der anderen Seite scheint sich die Dynamik der Repression verselbstständigt zu haben, wenn verschiedene Sicherheitsorgane darum zu konkurrieren scheinen, wer die höchsten „Erfolge“ vorweisen kann. In diesem Bericht wurden einige Zahlen zitiert, die von Menschenrechtsorganisationen zusammengestellt wurden. Es ist jedoch wichtig zu bedenken, dass die meisten dieser Zahlen sehr konservative Schätzungen darstellen. In Belarus gibt es viel mehr Repression, als diese Zahlen zeigen (können).

Leider deutet der Beginn der „Wahlperiode“ – die von den demokratischen Kräften im Exil eher als „Spezialoperation zur Machtsicherung" betrachtet wird – darauf hin, dass das Ausmaß der Repressionen wahrscheinlich mindestens bis zum Frühjahr 2025 andauern wird. Die jüngsten Großrazzien der Polizei – die Fälle des Koordinierungsrats und der „Analysten Tsikhanouskayas“, die Einschüchterung ehemaliger Wahlbeobachter, Durchsuchungen bei ehemaligen politischen Gefangenen und ihren Angehörigen – zeigen vielmehr, dass die „Wahlen“ für das Regime Anlass sind, die Repression noch weiter zu verschärfen.

Für das Land ist es eine Tragödie, die über das menschliche Leid hinausgeht. Ein Umfeld, das Initiative und Innovation allgemein erstickt, beschränkt das Potenzial der Zivilgesellschaft und des Unternehmertums erheblich. Der Brain-Drain lässt das Land ausbluten und die Russifizierung von Kultur, Sprache und Bildung untergräbt aktiv die nationale Widerstandsfähigkeit der belarusischen Gesellschaft gegenüber ihrem übergriffigen Nachbarn im Osten.

Für die demokratischen Kräfte bedeutet die Situation ein Dilemma. Ihre Möglichkeiten, das Regime direkt zu beeinflussen oder unter Druck zu setzen, sind sehr begrenzt. Auf der einen Seite besteht ein sehr breiter Konsens darüber, dass die Freilassung politischer Gefangener eine dringende Priorität in ihrer Arbeit sein sollte. Auf der anderen Seite sind sich verschiedene politische Gruppen uneinig, ob sie mit dem Regime verhandeln und es damit „relegitimieren“ sollten. Doch im Moment zeigen die Behörden ohnehin keinerlei Bereitschaft, einen sinnvollen Dialog über die Freilassung der Gefangenen zu führen – und wenn, wäre aus ihrer Sicht dafür nur der Westen ein Ansprechpartner. Für Lukaschenka allerdings ist die Bestrafung derjenigen, die versucht haben, ihn zu „stürzen“, eine Frage der persönlichen Rachenahme. Leider könnte der Tod Nawalnys in Russland die Sicherheitskräfte nur noch weiter „ermutigen“, das Gewaltniveau anzuheben.

Für den Westen wirft dies mehrere Fragen auf: Tun wir wirklich alles in unserer Macht Stehende, um die Opfer von Repressionen zu unterstützen und uns für die Freilassung politischer Gefangener einzusetzen? Der Tod Nawalnys löste zu Recht weltweite Empörung aus. Auch der Tod und das Verschwindenlassen politischer Gefangener in Belarus verdienen eine überzeugende Reaktion. Die Menschen in Belarus werden die Glaubwürdigkeit des Westens, unseres politischen Systems und unserer „europäischen“ Werte nicht nur an unseren Worten messen, sondern auch an unseren Taten.

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Jakob Wöllenstein

Jakob Wöllenstein

Leiter des Auslandsbüros Belarus

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La Fondazione Konrad Adenauer è presente con uffici propri in circa 70 Paesi dei cinque Continenti. I collaboratori presenti sul posto possono riferire direttamente su avvenimenti attuali e sviluppi nel lungo periodo nei Paesi in cui sono impegnati. Sotto "Notizie dai Paesi" mettono a disposizione degli utenti del sito web della Fondazione Konrad Adenauer analisi, informazioni di background e valutazioni esclusive.

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