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Reuters/Adriano Machado

国別リポート

Wahl der Präsidenten von Abgeordnetenhaus und Senat

Anja Czymmeck, Kevin Oswald

Vorteil Bolsonaro

Die Wahlsiege von Arthur Lira (Progressistas, PP) und Rodrigo Pacheco (Democratas, DEM) im Rennen um die wichtigen Präsidentenämter von Abgeordnetenhaus und Senat stellen ein Wunschresultat für Jair Bolsonaro dar. Der Staatspräsident muss ein Impeachment-Verfahren kaum noch fürchten und hat nach einem Dämpfer bei den Kommunalwahlen zuletzt nun einen Etappensieg errungen, der auch im Hinblick auf seine potenzielle Wiederwahl im kommenden Jahr nicht zu unterschätzen ist. Abseits der anhaltenden innenpolitischen Machtkämpfe rutschen unterdessen Millionen von Brasilianern aufgrund ausgelaufener Hilfsprogramme in extreme Armut ab.

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Das brasilianische Parlament, der Congresso Nacional, als Organ der Legislative in einem präsidentiellen System besteht aus zwei Kammern. Im Senat repräsentieren jeweils drei, für acht Jahre direkt gewählte Senatoren einen der 26 Bundesstaaten sowie den Distrito Federal mit der Hauptstadt Brasilia. Im Abgeordnetenhaus sitzen 513 deputados, die nach dem Prinzip des personalisierten Verhältniswahlrechts für jeweils vier Jahre gewählt werden. Ein grundlegendes Problem ist die extreme Fragmentierung des brasilianischen Parteiensystems, welche sich in der Präsenz von 30 Klein- und Kleinstparteien im Kongress widerspiegelt. Auch deswegen ist Politik in Brasilien ein permanenter Prozess des Interessen- und Machtausgleichs. Die Neubesetzung der Ämter der turnusgemäß nach zwei Jahren abzulösenden Präsidenten der Abgeordnetenkammer und des Senats hat nun ordentlich Bewegung in Brasiliens politisches Spiel gebracht. Eindeutig unter den Profiteuren der Personalrochaden in einer insgesamt schwer durchschaubaren Gemengelage ist Staatspräsident Jair Bolsonaro.

Arthur Lira und Rodrigo Pacheco: Bolsonaros Wunschkandidaten setzen sich durch  

In der Nacht zum 2. Februar haben sich die von Präsident Bolsonaro favorisierten Kandidaten jeweils bereits in der ersten Abstimmungsrunde gegen ihre Widersacher durchgesetzt. Arthur Lira (PP), 51 Jahre alt und Abgeordneter aus Alagoas, gehörte bereits fünf verschiedenen politischen Parteien an und gilt als einer der Anführer des sogenannten Centrão, einer Gruppe weitgehend ideologiefreier und programmatisch breit aufgestellter Parteien, denen es oftmals um den Erwerb bzw. Erhalt von politischen Ämtern geht. Bolsonaro hatte seine Unterstützung für Lira mehrfach öffentlich bekundet. Weil auch der Kandidat Baleia Rossi (Movimento Democrático Brasileiro, MDB) im amtierenden Präsidenten der Abgeordnetenkammer, Rodrigo Maia (DEM), einen gewichtigen Fürsprecher gehabt hatte, war ursprünglich ein knapper Wahlausgang erwartet worden. Ausschlaggebend für die Unterstützung vieler DEM-Abgeordneter war auch die Reaktion des Parteivorsitzenden der DEM, ACM Neto, der die Abstimmung „frei“ gab, so dass die Fraktion der DEM auch Lira unterstütze.

So siegte Lira letztlich deutlich mit 302 Stimmen vor Rossi mit 145. Auffällig ist, dass neben der DEM zahlreiche Abgeordnete wohl relativ kurzfristig ihre Präferenz änderten, nachdem die Regierung im Monat Januar eine Rekordanzahl von emendas parlamentares bewilligt hatte. Dabei handelt es sich um Änderungsanträge, mit deren Hilfe der Kongress auf die Budgetallokation der Bundesmittel Einfluss nehmen kann. Ins Bild passt auch, dass insbesondere die Abgeordneten nun für Lira stimmten, deren Wahlkreise in besonderem Maße von der Umwidmung der Haushaltsmittel profitiert haben.

Während im Abgeordnetenhaus wohl auf diese Weise die ein oder andere Stimme mit in Brasilien durchaus üblichen Praktiken an der Grenze zur Korruption für den aus Sicht der Regierung geeigneteren Kandidaten abgegeben wurde, brach sich bei der Abstimmung im Senat das Phänomen des Antilavajatismo bahn und zeigt die Probleme der brasilianischen Politik schonungslos auf. Mit 57 zu 21 Stimmen siegte Rodrigo Pacheco (DEM) und konnte dabei auf eine extrem breite und heterogene Gruppe an Unterstützern zählen. Pacheco war Wunschkandidat seines Vorgängers im Amt, Davi Alcolumbre (DEM), Favorit von Präsident Bolsonaro und erhielt neben den Stimmen aus zahlreichen Parteien der Mitte überraschenderweise auch diejenigen der Hauptoppositionspartei PT sowie sogar der Partei seiner Gegenkandidatin. Die Hauptursache dafür ist, dass Simone Tebet (MDB) als überzeugte Anti-Korruptionskämpferin gilt und die Lava Jato Ermittlungen weiterführen möchte, wobei eine parteiübergreifende Vielzahl ihrer Senatorenkollegen augenscheinlich ein persönliches Interesse daran hat, genau dies zu verhindern. 
     
Rodrigo Maias tiefer Fall und die Zerrissenheit der Opposition

Neben den unterlegenen Kandidaten geht Rodrigo Maia, der bisher amtierende Präsident des Abgeordnetenhauses, als großer Verlierer des vorangegangenen Machtkampfs hervor. Maia hatte zunächst mit einer dritten Amtszeit geliebäugelt, obwohl dies laut Verfassung nicht vorgesehen ist. Anschließend schaffte er es nicht, seine eigene Partei auf Linie zu halten und konnte nicht verhindern, dass Teile der DEM für Lira stimmten. In einer zunehmend polarisierten Gemengelage mit einem schwer berechenbaren Präsidenten war Maia in der Vergangenheit das „Gesicht“ der Legislative gewesen, die es immer wieder vermochte, Gesetzesvorhaben abzuändern und eine konstruktive Rolle zu spielen. So hatten sich insbesondere auf Initiative Maias die Parlamentarier im vergangenen Jahr beispielsweise für eine Erhöhung der Krisensoforthilfe auxílio emergencial von 200 auf 600 Reais stark gemacht. Sein Einfluss auf die brasilianische Politik wird in Zukunft wesentlich geringer sein, auch der Verbleib bei den DEM steht in Frage.

Relevanz der Präsidentenämter und Konsequenzen der Wahl für die Regierung Bolsonaro

Mit der aus seiner Sicht erfolgreichen Einflussnahme auf die Wahl der Präsidenten von Abgeordnetenhaus und Senat scheint sich der Blick von Jair Bolsonaro auf den Kongress geändert zu haben. Während er früher Parlamentarier stets als Teil der velha política, d. h. des Establishments bezeichnete, mit dem seine Regierung nichts mehr zu tun haben wolle und einen konfrontativen Kurs gegenüber dem Kongress verfolgte, scheint Bolsonaro gemerkt zu haben, dass die aktive Gestaltung von Politik und die Umsetzung seiner Reformvorhaben gegen den Kongress nur schwer möglich ist. Der Präsident wird nach gängiger brasilianischer Praxis im presidencialismo de coalição weiterhin verhandeln und vermitteln, Mehrheiten sichern und Interessen ausgleichen müssen, doch mit den neu gewählten, ihm nicht abgeneigten Präsidenten Lira und Pacheco könnte vieles einfacher werden. Sie haben weitreichende Kompetenzen und Einfluss in ihrer jeweiligen Kammer, bestimmen bei der personellen Besetzung von Ausschüssen mit und können beispielsweise über die Einberufung von Untersuchungsausschüssen entscheiden.  Von größter Wichtigkeit ist zudem die Regelung, dass der Präsident des Abgeordnetenhauses über die Aufnahme eines Impeachment-Verfahrens gegen den Staatspräsidenten entscheiden kann. Dass Arthur Lira einen der über 60 vorliegenden Anträge auf Amtsenthebung Bolsonaros ernsthaft prüfen und ein Verfahren eröffnen wird, gilt als nahezu ausgeschlossen. Und doch steht fest, dass Bolsonaro dem centrão eine Gegenleistung wird anbieten müssen. Dabei geht man davon aus, dass vielleicht ursprünglich abgeschaffte Ministerien wiederbelebt werden oder auch Umbesetzungen in der Regierung vorgenommen werden, um sich für die Unterstützung erkenntlich zu zeigen. Über die Frage, welche Politiker unter Umständen in naher Zukunft mit einem Ministerposten belohnt werden könnten, wird bereits munter spekuliert.      

Ende des auxílio emergencial: Bereits 20 bis 30 Millionen Brasilianer leben in extremer Armut  

Während im Kongress und im Senat um Ämter und Macht und generell um eine möglichst vorteilhafte Ausgangsposition für das kommende Wahljahr gerungen wird und der bereits beginnende Wahlkampf in Brasilien somit in eine neue Phase geht, verschärfen sich die Pandemiesituation und die wirtschaftliche Lage der Bevölkerung. Nach der nahezu vollständigen Einstellung der Auszahlung von Corona-Soforthilfen durch die Regierung bei anhaltend hohen Infektions- und Todeszahlen rutschen immer mehr Brasilianer in Armut und extreme Armut ab. Die weitreichenden Unterstützungsmaßnahmen für Arbeitslose und Beschäftigte im informellen Sektor kamen im vergangenen Jahr einem Drittel der Bevölkerung zugute. Im Monat Januar sank das Einkommen vieler Familien und Alleinerziehender signifikant, da sie nun beispielsweise lediglich staatliche Hilfe aus dem Programm Bolsa Familia weiterbeziehen. Andere Betroffene fallen komplett durchs Raster und sind mit Einnahmen von nahezu null zunehmend auf Lebensmittelspenden angewiesen, wie Hilfsorganisationen berichten. Da ein nachhaltiger wirtschaftlicher Post-Corona-Aufschwung und eine damit verbundene Belebung des Arbeitsmarkts noch in weiter Ferne sind, könnte sich die Situation in den kommenden Wochen und Monaten noch dramatischer darstellen. Berechnungen des Ökonomen Daniel Duque von der Fundação Getúlio Vargas zeigen, dass bereits wohl 10 bis 15 Prozent der Bevölkerung mit weniger als 155 Reais pro Monat auskommen müssen, was etwa einem Dollar am Tag entspricht. Dieser hohe Prozentsatz extremer Armut entspricht den Werten aus den Jahren zwischen 2006 und 2010. Forderungen vonseiten der Bundesstaaten, beispielsweise zumindest die vulnerabelsten Gruppen mit einem geringeren Betrag weiterhin zu unterstützen, erteilte Präsident Bolsonaro in einer Live-Session in den sozialen Medien am 28. Januar eine deutliche Absage. Eine Verlängerung der Maßnahmen würde „Brasilien in den Ruin treiben“, stattdessen „müsse man arbeiten“, sagte Bolsonaro. Im selben Statement forderte der Präsident zudem eine teilweise Rückkehr der Fans in die Fußballstadien, was seine nach wie vor verharmlosende Haltung bezüglich der Pandemie verdeutlicht. Wirtschaftsminister Guedes teilte mit, dass man über eine Wiederaufnahme des Hilfsprogramms im Jahr 2021 zwar grundsätzlich reden könne, dann jedoch im Gegenzug Abstriche beim Haushalt – konkret in den Bereichen Gesundheit, Bildung und öffentliche Sicherheit – gemacht werden müssten. Die Staatsverschuldung Brasiliens erreichte mit annährend 90 Prozent in Relation zum Bruttoinlandsprodukt jüngst einen historischen Höchststand.

Fazit und Ausblick

Die Wahlsiege der von ihm unterstützten Kandidaten Arthur Lira (PP) und Rodrigo Pacheco (DEM) haben Bolsonaro als deren Unterstützer in eine Lage versetzt, die den Präsidenten gestärkt erscheinen lässt – zum einen rückt das Schreckensszenario eines langwierigen Impeachment-Verfahrens zunächst in den Hintergrund, zum anderen könnten verbesserte Beziehungen zu den Spitzen von Senat und Abgeordnetenhaus für Bolsonaro bei der Umsetzung wichtiger Projekte seiner politischen Agenda hilfreich sein. Darüber hinaus hat sich die Opposition in einem schlechten Zustand präsentiert, denn sie hat es nicht vermocht, eine Einheit zu bilden, um die Kandidaten Bolsonaros zu verhindern. So erscheint es im Moment auch nur schwer vorstellbar, dass DEM, MDB und der Partido da Social Democracia Brasileiro (PSDB) einen gemeinsamen Gegenkandidaten für die Präsidentschaft aufstellen werden. Dennoch bleibt die Lage volatil und bis zu den Wahlen 2022 ist es noch ein weiter Weg, auf dem die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie das Land und die Regierung weiterhin in Atem halten werden.

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Anja Czymmeck

Anja Czymmeck

Leiterin des Auslandsbüros Frankreich

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