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„Der Meister führte, ohne uns zu belehren“

з Prof. Dr. Bernhard Vogel

Dolf Sternberger

Wenn ich diesen Krieg und dieses Regime überlebe, dann muss ich mich selbst, dann müssen wir uns um die Politik kümmern, dann dürfen wir nicht mehr so herumplätschern in den reinen Meditationen, Spekulationen und in der Poesie." So erinnert sich Dolf Sternberger noch Jahrzehnte später in einem Interview mit Joachim Lange an Augenblick und Situation seines Entschlusses, sich der Politik zuzuwenden.

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In den Jahren der Weimarer Republik, in seiner Heidelberger Studentenzeit, spielt die Politik für Dolf Sternberger und seinen Freundeskreis keine Rolle. Die "res publica" sei nicht zur Sprache gekommen, sondern exklusiv nur die "res intima". Politik habe man nicht bei Jaspers gelernt, sondern erst "durch Hitler, e contrario", meint er fast 60 Jahre später, anlässlich eines Vortrags zum Heidelberger Universitätsjubiläum von 1986. Aber er fügt hinzu: "Hätten wir diese Erfahrung der Kommunikation nicht gemacht und diesen Begriff der Liebe nicht gewonnen und wäre es uns damit, mit der "res intima", nicht so ernst gewesen, so hätten wir wahrscheinlich nicht gewusst, was zu verteidigen sei."

Die Heidelberger Jahre - die lebenslange Freundschaft mit Hannah Arendt hatte hier ihren Anfang genommen - haben ihn auf die Zeit der Diktatur vorbereitet. Die Zeit der Diktatur aber hat ihn befähigt, ein großer Lehrer zu werden. Die Jahre der Hitlerdiktatur seien "wahrhaftig des Teufels" gewesen, so seine ständige Redewendung. Er brachte es nicht über sich, Joachim Fests große Hitlerbiografie zu lesen. Das Monster Hitler war ihm "stets allzu ekelhaft".

Als der Krieg zu Ende war, gründete er im Oktober 1945 zusammen mit Karl Jaspers, Alfred Weber und Werner Krauss, dem später Marie Luise Kaschnitz folgte, die Zeitschrift "Die Wandlung". Aus einer Artikelserie, die sich mit der Verwahrlosung der Sprache im Dritten Reich auseinandersetzte, entstand zusammen mit Gerhard Storz und Wilhelm G. Süskind sein "Wörterbuch des Unmenschen", das viele Auflagen erlebte und von erheblicher Wirkung sein sollte.

1946 erhebt Sternberger als Erster die Forderung nach der (Wieder-) Einführung des Faches Politische Wissenschaft an deutschen Hochschulen und wird so mit Ernst Fraenkel, Otto Suhr, Heinrich von der Gablenz und Eugen Kogon zu einem ihrer Gründungsväter. Auf Einladung des "Heidelberger Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands" hält er im Mai 1946 einen Vortrag. Die Politik "muss ... auf die Hochschule - als eine Wissenschaft". Angesiedelt zwischen Philosophie, Recht, Geschichte und Gesellschaftslehre. Nicht als Zusatzangebot oder als schmackhaftes Beiwerk.

Sternberger versteht die Politische Wissenschaft als eine Wissenschaft von unserer eigenen menschlichen Ordnung und Unordnung - die sich niemals "mit der bloßen Registrierung von Daten begnügen (darf), sie muss es zum Urteil bringen, wenn sie ihrem eigenen Anspruch und dem hohen Vorbild ihrer großen abendländischen Überlieferung genügen will."

In Hessen kommt es schon im April 1948 zur Einrichtung dreier Professuren. 1950 wird Wolfgang Abendroth nach Marburg berufen, 1951 Eugen Kogon nach Darmstadt und schließlich 1953 Carlo Schmid nach Frankfurt. Nach der Gründung der Bundesrepublik dauert es mehr als ein Jahrzehnt, bis alle Universitäten wenigstens einen Lehrstuhl für Politikwissenschaft ausweisen. 1960 gab es 24 Professuren, im Jahre 2000 298.

Politische Wissenschaft ist für Dolf Sternberger zugleich normative und empirische Wissenschaft. Er hat dafür gesorgt, dass die Politische Wissenschaft Geisteswissenschaft geblieben ist. Als ihm die philosophische Fakultät der Universität Heidelberg 1947 einen Lehrauftrag übertragen will und ihm die Frage vorlegt, was er denn eigentlich lehren wolle - man dachte an Publizistik oder Philosophie -, war seine Antwort: "Es gibt nur eines: Politik." Sternberger hat sich damals durchaus die Frage gestellt, Politiker zu werden, aber dann hätte er sich mit einer Partei identifizieren müssen. "Ich habe einmal die einen, einmal die anderen gewählt." Er wollte seine Unabhängigkeit wahren. "Ich habe mich mit dem Staat identifiziert, mit der Verfassung, mit dem Verfassungsstaat, mit dem Parlamentarismus, mit dem repräsentativen System, aber nicht mit einer einzelnen Partei." Er war von Staatsleidenschaft, Verfassungsleidenschaft, nicht von Parteileidenschaft durchdrungen.

Seit 1951 leitet er am Alfred-Weber-Institut eine Forschungsgruppe - die Keimzelle des späteren Instituts für Politische Wissenschaft. Die ersten empirischen Studien entstehen hier. 1955 wird er zum Honorarprofessor ernannt, wird 1960 zunächst persönlicher Ordinarius und schließlich 1962 - endlich - ordentlicher Professor und Direktor des Instituts für Politische Wissenschaft.

Als wir in den frühen Fünfzigerjahren zu studieren begannen, da war es das Neue, das Unbekannte, das uns an der Politischen Wissenschaft reizte. In der deutschen Hochschullandschaft waren Inseln entstanden, auf denen das Fach in Deutschland - wieder - heimisch zu werden begann. Ich selbst habe es in Heidelberg erlebt. Alfred Weber kam aus dem inneren Exil und legte unter anderem sein Buch "Der dritte oder der vierte Mensch" vor. Alexander Rüstow kam 1949 aus der Türkei zurück und brachte wesentliche Teile seines voluminösen, dreibändigen Werkes "Ortsbestimmung der Gegenwart" mit. Karl Löwith hatte in Japan überlebt, Hans-Georg Gadamer kam aus Leipzig, Carl Joachim Friedrich, der schon Mitte der Zwanzigerjahre in die USA ausgewandert war, kam in der Uniform eines amerikanischen Offiziers.

Sternberger kam mittwochs, am späten Vormittag traf er auf dem Hauptbahnhof ein. Sprechstunde, Fakultätssitzung der - von ihm wegen der Möglichkeit eines interdisziplinären Gesprächs so geliebten - Philosophischen Fakultät, deren spätere Auflösung er als Barbarei empfand, Vorbereitung der Vorlesung, abends Canasta bei Freunden. Donnerstags Vorlesung und Prüfungen, Post, Geselligkeit.

Freitags um 14 Uhr das Seminar der Forschungsgruppe Sternberger - dreistündig. Um 17 Uhr musste Schluss sein, kurz nach 17 Uhr ging der Zug zurück nach Frankfurt, später nach Darmstadt. Das Seminar, nur für Fortgeschrittene, über lange Jahre in einer Dachstube der Anatomie. Eine weit und breit einmalige Veranstaltung. Nichts war schwieriger, als in dieses Seminar, das nicht mehr als 20 bis 25 Mitglieder umfasste, aufgenommen zu werden. Die fachkundige Debatte, nicht das Vortragen von Referaten stand im Mittelpunkt. Die Sitzordnung war streng festgelegt; die Reihenfolge der Wortmeldungen auch. Der Meister führte, ohne uns zu belehren. Solange Helmut Kohl an den Sitzungen teilnahm, übernahm er das Contra-Präsidium. Man neigte, dem Zeitgeist entsprechend, eher nach links. Wer der CDU angehörte, war bemüht, dies zu verbergen. Helmut Kohl verbarg es nicht.

In seiner Antrittsvorlesung im November 1960 formulierte er, im Gegensatz zu Carl Schmitt, aber auch zu Max Weber: "Der Gegenstand und das Ziel der Politik ist der Friede." "Frieden herzustellen, Frieden zu bewahren, zu gewährleisten, zu stärken und freilich auch zu verteidigen ist Politik." Das Wesen des Friedens aber ist es, ihn zu regeln. Sein Wesen ist es nicht, den Streit abzuweisen und auszuschließen oder gar abzuschaffen. Der Staat, wenn er als Gemeinwesen glückt, ist der Ort verwirklichten Friedens. Der Friede beruht auf vertraglicher Vereinbarung, nicht auf Herrschaft. Sternberger war vom elementaren Freiheitsverlangen der Menschen überzeugt. Am 5. Mai 1946 fällt der wichtige, immer wieder zitierte Satz "Keine Freiheit den Feinden der Freiheit".

Was geschehen war, sollte sich nie wiederholen. Später hat er diesen Satz ausdrücklich auf alle anderen Verfassungsfeinde bezogen. Er war für ihn die Richtschnur zur Verteidigung der Verfassung. Der demokratische Verfassungsstaat ist die beste dem Menschen mögliche Organisationsform. Die klassische Lehre von der Gewaltenteilung nach Montesquieu ist im parlamentarischen System aufgehoben. Die Machtkontrolle wird im Parlament durch die Opposition ausgeübt. Sie bildet die Alternative zur Regierung und sichert dem Wähler die Ausübung politischer Kontrolle. Der Bürger soll ein loyaler Freund dieses Staates und seiner Institutionen sein. "Ich wünschte, ein Bürger zu sein", so der auf ein Bekenntnis Theodor Mommsens in seinem Testament zurückgehende Titel einer Aufsatzsammlung aus dem Jahre 1967.

Als seine beiden bedeutsamsten wissenschaftlichen Werke gelten "Grund und Abgrund der Macht. Kritik der Rechtmäßigkeit heutiger Regierungen" (1962) und "Drei Wurzeln der Politik" (1978). Alexander Schwan hat Letzteres "das gewichtigste, originellste, auch schönste Werk deutscher Politischer Philosophie in der Nachkriegszeit" genannt. In "Drei Wurzeln der Politik", sein eigentliches Opus magnum - der bestimmte Artikel fehlt mit Bedacht, denn Sternberger lässt natürlich auch noch andere Wurzeln gelten -, widmet er sich den "politologischen", den "eschatologischen" und den "dämonologischen" Wurzeln: Aristoteles, Augustinus und Machiavelli. Nicht der Herrscher (Il Principe), noch die Gemeinschaft der Heiligen (Gottesstaat), die Bürgerschaft ist die zentrale Figur der Politik. Aristoteles steht Sternberger am nächsten. Die "Politik" des Aristoteles ist für ihn "das Grundbuch der abendländischen Staatslehre".

Zum 30. Jahrestag der Verabschiedung des Grundgesetzes (1979) prägt Sternberger - als Überschrift eines Leitartikels in der FAZ - den Begriff "Verfassungspatriotismus". Diese seine Wortschöpfung hat die weiteste Verbreitung gefunden. Sie wird bis heute vielfach - wenn auch nicht immer korrekt - zitiert und nach wie vor häufig missverstanden. Andere Autoren, wie etwa Jürgen Habermas, haben sie sich zu eigen gemacht und anders als Sternberger interpretiert. Ralf Dahrendorf hält Sternbergers Wortprägung für eine Kopfgeburt.

Der Verfassungsstaat bedarf zu seiner Identifikation des Patriotismus, er braucht Vaterlandsliebe als Bürgertugend, schon gar in Zeiten einer geteilten Nation, im Deutschland vor der Wiedervereinigung, in dem die Frage nach der Loyalität zu einem geteilten Land die Gemüter bewegt hat. "Ich wollte nicht einen Ersatz für den nationalen Patriotismus bieten ... Vielmehr wollte ich darauf aufmerksam machen, dass Patriotismus in einer europäischen Haupttradition schon immer und wesentlich etwas mit Staatsverfassung zu tun hatte, ja, dass Patriotismus ursprünglich und wesentlich Verfassungspatriotismus gewesen ist", bemerkt er anlässlich eines Kolloquiums zu seinem 80. Geburtstag im November 1987.

Für Sternberger ist die Verfassung das Vaterland des Bürgers. Das Vaterland sei "weder Natur noch Idee, sondern das geschichtliche Feld und Medium unseres eigenen freien Wirkens und Bildens", schreibt er schon 1947 in einem Essay in "Die Wandlung". "Der Begriff des Vaterlandes erfüllt sich erst in seiner freien Verfassung - nicht bloß in seiner geschriebenen, sondern in der lebenden Verfassung, in der wir alle uns als Bürger dieses Landes befinden, an der wir täglich teilnehmen und uns weiterbilden". Denn "Es gibt kein Vaterland in der Despotie ... nur eine bürgerliche Verfassung kann eine vaterländische Verfassung sein".

Auch in der veränderten Situation von heute kann uns seine Wortprägung hilfreich sein. "Gegen erklärte Feinde muss die Verfassung verteidigt werden, das ist patriotische Pflicht." Vor politischen Gruppierungen, die zum Systemwechsel aufrufen, sei gewarnt. Der ideale Gehalt der sternbergerschen Wortprägung bleibt eine nützliche und hilfreiche Orientierung für unser nationales Selbstverständnis.

Sternberger hat keine Schule begründet, aber an seinem Tisch saßen spätere Professoren, zwei Hochschulpräsidenten, Journalisten, Herausgeber und Chefredakteure großer Tageszeitungen, Abgeordnete aller Fraktionen, Oberbürgermeister, Minister, auch ein Ministerpräsident und ein Bundeskanzler. 1972 verlässt er, nicht ohne Bitterkeit, die Universität. Nicht das Aufbegehren der 68er hat ihn betroffen gemacht, die Regelverletzungen, die Missachtung der Spielregeln haben ihn verzweifelt berührt, und zu seinem Ekel an der Entwicklung geführt. Als Publizist, als Essayist, aber auch als Wissenschaftler hat er weiter gewirkt.

Sternberger hat viele öffentliche Ehrungen erfahren. 1989 wurde er mit dem Großkreuz des Bundesverdienstordens ausgezeichnet. Er war Ehrendoktor der Pariser Sorbonne (1980) und der Universität Trier (1982). Die Bayerische Akademie der Schönen Künste hat ihm 1977 den Literaturpreis verliehen. Goethe (Frankfurt 1989), Reuchlin (Pforzheim 1980), Wilhelm von Humboldt (Helmholtzgesellschaft 1983), Leuschner (Hessen 1977), Bloch (Ludwigshafen 1985), Zuckmayer (Rheinland-Pfalz 1986) und viele andere müssten sich versammeln, wenn alle zusammenkämen, die Sternberger verliehenen Preisen ihren Namen gaben.

Sternbergers Ehrgeiz war nie auf etwas anderes gerichtet als auf den Ruf, ein Lehrer des Common sense zu sein, schreibt Joachim Fest. Und in der Tat, Dolf Sternberger gehört zu den Klassikern des politischen Denkens. Er ist ein unermüdlicher Streiter für den Verfassungsstaat, für repräsentative Demokratie und Mehrheitswahlrecht. Ein Lehrmeister der Politik, ein Lehrmeister des Friedens, "ein unbeugsamer Verteidiger der Freiheit" (Weinrich). Als Wissenschaftler, durch sein publizistisches Wirken und durch seine faszinierende Sprachfähigkeit hat er über Jahrzehnte in die Öffentlichkeit hineingewirkt. Er hat die Bundesrepublik Deutschland mitgeprägt, vor allem aber kommt ihm das Verdienst zu, sein Fach, die Politische Wissenschaft, an Deutschlands Hochschulen wieder heimisch gemacht zu haben.

Als er im Juli 1989 - einen Tag vor seinem 82. Geburtstag - in Frankfurt/M. stirbt, ist die Mauer noch nicht gefallen. Die Wiedervereinigung hat er nicht mehr erlebt. In einem bin ich mir sicher: Er hätte es begrüßt, dass dazu der Weg über den Artikel 23 des Grundgesetzes gegangen worden ist, er hätte es begrüßt, dass das Grundgesetz von 1949 auch die Verfassung der neuen Bundesrepublik ist. Kritisiert hätte er die allzu häufigen Grundgesetzänderungen und die Unsitte, Detailregelungen, die allenfalls in Gesetze, häufig aber nur in Verordnungen gehören, in Verfassungsartikel aufzunehmen und der deutschen Sprache mitunter Gewalt anzutun.

Dolf Sternberger, vor 100 Jahren, am 28. Juli 1907, in Wiesbaden geboren, ist nicht vergessen, auch wenn wir beklagen, dass seine Erkenntnisse nicht häufiger von den heutigen Vertretern unseres Faches gelehrt, dass seine Werke nicht aufmerksamer gelesen, seine Begriffsprägungen in der öffentlichen Diskussion nicht häufiger zitiert, und sein Staats- und Verfassungsverständnis nicht präsenter ist. Er kann uns helfen, die Bundesrepublik Deutschland in guter Verfassung zu halten oder - für Zweifler - sie wieder in gute Verfassung zu bringen. Wir sollten dafür sorgen, dass sein Lebenswerk lebendig bleibt.

Mit freundlicher Genehmigung der „Welt“

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Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.

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Axel-Springer-Verlag, Die Welt

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Hamburg Deutschland