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„Die DDR im Geschichtsbewusstsein der Deutschen“

з Dr. Angela Merkel
Rede von Frau Bundesministerin a.D. Dr. Angela Merkel MdB, Vorsitzende der CDU-Deutschlands beim „Wendgräbener Gespräch anlässlich des Gedenktages 17. Juni 1953“ am 13. Juni 2002 im Bildungszentrum der KAS Schloß Wendgräben.

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Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Herr Böhmer,

meine Damen und Herren, stellvertretend Herr von Below,

lieber Kollege aus dem deutschen Bundestag,

liebe Kollegen aus dem Landtag

und vor allen Dingen: verehrte Gäste,

ich bin ein Jahr und einen Monat nach dem 17. Juni 1953 geboren worden. Viele von Ihnen haben schon gelebt, andere sind noch jünger. Dieser Tag war ja, und es ist ganz interessant, dabei in die Augen von Westdeutschen zu schauen, über Jahre ein Gedenktag, der in der alten Bundesrepublik arbeitsfrei war. Er muss dann doch mit zunehmenden Jahren der deutschen Teilung soweit in Vergessenheit geraten sein, dass sich heute, wenn man an den 17. Juni erinnert, immer ein etwas verlegener Blick bei den Bürgerinnen und Bürgern der alten Bundesländer zeigt. Scheinbar kommt ein wenig ein schlechtes Gewissen auf, weil man an dem Tag irgendwie doch nicht so an den Osten gedacht, sondern lieber eine Frühlingswanderung gemacht hat. Das ist zumindest meine Schlussfolgerung.

Ich kann den Bürgerinnen und Bürgern aus den alten Bundesländern sagen, wir nehmen ihnen das nicht übel. Wir haben das an anderen Tagen auch so gemacht. Deswegen braucht man kein kollektives schlechtes Gewissen zu entwickeln.

In diesem Jahr findet am 17. Juni unser Bundesparteitag statt. Ich habe Helmut Kohl und Jean Claude Juncker gebeten, zu Beginn dieses Parteitages auch an die Wurzeln der Christlich Demokratischen Union zu erinnern. Dieser Teil des Parteitages war mit dem Titel „Vom Arbeiteraufstand zur Europäischen Einigung Deutschlands im geschichtlichen Blick“ überschrieben. Als ich aber bei der Vorstandssitzung der Konrad-Adenauer-Stiftung am letzten Freitag war und wir über die Verdrehung von Geschichte, insbesondere durch linke Medien und durch Sozialdemokraten, gesprochen haben, sagte plötzlich ein erbostes Mitglied des Vorstandes der Konrad-Adenauer-Stiftung, nun sei es schon so, dass wir vom 17. Juni nur noch als Tag des Arbeiteraufstandes und nicht mehr als Tag des Volksaufstandes sprächen, so fange Geschichtsverdrehung an. Daraufhin schaute ich etwas bekümmert, weil gerade die Einladungen zum Bundesparteitag der Christlich Demokratischen Union verschickt waren und darin nach bestem Wissen und Gewissen vom „Arbeiteraufstand zur Europäischen Einigung“ die Rede war und nicht vom „Volksaufstand“.

Für die Menschen in der früheren DDR war der 17. Juni sowieso ein „Untag“. Insofern stand die Frage, ob es sich um einen Arbeiter- oder um einen Volksaufstand handelte, auch nicht im Zentrum unserer Betrachtungen. Aber klar wird an diesem kleinen Beispiel, dass hier schon etwas beginnt, was sich, wenn wir als Deutsche gemeinsam unsere Geschichte betrachten, wahrscheinlich durch jede Periode der deutschen Geschichte zieht. Ich meine eine in Ost und West zum Teil ganz unterschiedliche Wahrnehmung von Worten und Ereignissen.

Ich frage mich, ob diese feine Differenzierung zwischen Arbeiter- und Volksaufstand auch etwas damit zu tun haben kann, dass Arbeiter scheinbar ja „nur“ um materielle Werte kämpfen konnten, während sich im Geschichtsbewusstsein der westdeutschen Bevölkerung doch eher der ideelle Kampf um die Freiheit verankert hatte, die mehr dem ganzen Volk zugeordnet wurde. Daran schließt im übrigen eine zweite sehr spannende Frage an, die uns Otto Schily in den Zeiten der Einigung so beantwortet hat: Die Geschehnisse von 1989 seien nur die simple Sehnsucht der Ostdeutschen nach der Banane gewesen, und deshalb habe die Mauer fallen müssen.

Es ist ja schon richtig: In unserem Geschichtsunterricht marxistischer Prägung in der ehemaligen DDR haben wir gelernt, dass das Sein das Bewusstsein bestimme und dass deshalb ohne eine materielle Grundlage die Freiheit auch nicht mehr so viel wert sei. Am besten ist es deshalb, wenn materielle und ideelle Werte zusammengehen. Herr Professor Böhmer hat vorhin ja auch von der sozialen Gerechtigkeit gesprochen. Ich denke, die Sache ist noch einfacher. Denn eine Unterscheidung vorzunehmen, wonach das eine nun wirklich des Kampfes nicht wert sei, das andere dagegen alle Anstrengung lohne, hat wahrscheinlich ohnehin mit dem realen menschlichen Leben wenig zu tun.

Ich empfand es deshalb als beschämend und empörend, dass der 1989 noch in vielen linken Köpfen herumschwirrende Gedanke eines geteilten Deutschlands nun plötzlich dadurch gerettet werden sollte, indem man uns dafür beschimpfte, dass wir jetzt auch einmal ganz freiheitlich eine Banane kaufen durften. So kann es mit Sicherheit nicht sein.

Natürlich bewegen wir uns aber bei dieser Frage in einem extrem schwierigen Feld: Es geht um die DDR im Geschichtsbewusstsein der Deutschen. Für die meisten von uns hier ist die DDR ja gar keine Geschichte, sondern Teil des eigenen Lebens. Die zwei, drei Generationen, die heute hier sitzen, werden für spätere Generationen, die die DDR nicht mehr erlebt haben, ihr Bild der DDR prägen. Wir stellen heute die Weichen für ihre Wahrnehmung. Die DDR im Geschichtsbewusstsein der Deutschen ist zudem Teil dessen, was wir in der Folge als Prozess der Deutschen Einigung erlebt haben. Dabei dürfte die DDR im Bewusstsein derer, die sie in der Realität erlebt haben, und derer, die im Rias-Radio und im westdeutschen Fernsehen darüber etwas gehört und gesehen haben, zu recht unterschiedlichen Schlussfolgerungen führen. Wenn eines Tages ein gemeinsames Verständnis in ganz Deutschland über die DDR erreicht werden könnte, wäre dies Ausdruck eines hohen Grades von gelungener deutscher Einigung.

Eigentlich müsste eine solche Veranstaltung wie diese hier mit ganz verschiedenen Menschen zum selben Thema in allen Teilen der Bundesrepublik Deutschland stattfinden. Es würde mich sehr interessieren, wie man z.B. in einer Bildungsstätte in Baden-Württemberg oder in Niedersachsen über das Thema „Die DDR im Geschichtsbewusstsein der Deutschen“ sprechen würde. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang daran, dass ich mich als Kind einmal von meinen Cousinen aus Hamburg verletzt gefühlt habe, als sie erzählten, die Deutschen hätten bei der Olympiade leider überhaupt keine Gold-Medaille gewonnen. Darauf antwortete ich, dass es nach meiner Wahrnehmung mindestens 10 gewesen seien. Meine Cousinen schauten mich etwas befremdet an und meinten, dass zwar die DDR diese Medaillen errungen haben mag, aber doch Deutschland keine Gold-Medaille gewonnen habe. Daraufhin entstand zwischen uns Kindern eine längere Diskussion über die Frage, ob wir in der DDR eigentlich auch noch deutsch sein durften oder ob Deutschland auf die Grenzen der alten Bundesrepublik Deutschland beschränkt war. Ich fürchte, in der Wahrnehmung vieler Deutscher ist die deutsche Geschichte seit 1945 im Wesentlichen die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und nicht eine - wenn auch bis 1989 getrennte - Geschichte von DDR und Bundesrepublik Deutschland.

Vielleicht können wir uns ja darauf einigen, dass die neuen Bundesländer auch früher nicht nur eine Art virtueller Geltungsbereich des Grundgesetzes waren, sondern ganz einfach zu Deutschland gehörten. Auf dieser Grundlage können wir darum ringen, wer von uns in Ost und West leichter und unbefangener über die jeweils eigene Geschichte sprechen kann. Ich glaube, dass der durchschnittliche Bundesbürger in den alten Bundesländern natürlich und erfreulicherweise - und deshalb wollten wir ja auch gerne dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beitreten - ein ungebrocheneres Verhältnis zu seiner gesellschaftlichen Ordnung hat als die allermeisten Bürgerinnen und Bürger der DDR. Das ist ja auch völlig nachvollziehbar.

Die Menschen in der früheren DDR hatten dagegen „ihrem“ Land gegenüber höchst widersprüchliche Empfindungen. Am Anfang war die Auflehnung sehr groß, weil die Menschen sich noch sehr klar an die Zeit vor dem Nationalsozialismus erinnerten, weil sie noch sehr gut wussten, was Freiheit ist. Nach und nach sind dann aber auch in den 40 Jahren DDR Generationen herangewachsen, die das überhaupt nicht mehr erlebt haben und nur noch die Diktatur kannten. Auf der anderen Seite erlebten sie eine DDR, die mit wachsender Dauer ihrer Existenz durchaus etwas freiheitlichere Züge bekam. Die dramatische Zwangskollektivierung, Aktionen des Staates gegen Menschen, die noch in der Nachkriegszeit in die Sowjetunion verschleppt wurden, Gefangennahmen - all diese Erlebnisse nahmen ja im Laufe der Jahre nicht zu. Vielmehr waren die Grenzen in der letzten Phase des Bestehens der DDR ein wenig durchlässiger geworden. Auch Antennen wurden nicht mehr sofort vom Dach montiert, wenn sie in die vermeintlich falsche Richtung ausgerichtet waren, wie das z. B. bei Aktionen Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre noch sehr massiv der Fall war. Auch Besuchsmöglichkeiten wurden besser. Wir müssen also, um das System der DDR in seiner ganzen Härte verstehen zu können, die Erinnerung an die fünfziger und den Anfang der sechziger Jahre wach halten.

Zudem müssen sich die Deutschen daran gewöhnen, dass sie zwei ganz unterschiedliche Äste und Stränge ihrer Geschichte haben. Folgerichtig verfügen die Bürgerinnen und Bürger in unserem seit 1990 geeinten Land über 40 Jahre unterschiedlicher Erfahrungen. Diese Erfahrungen werden nun - 12 Jahre nach der Einheit - langsam zur Geschichte. Dennoch spüren wir, dass sie auch immer noch Gegenwart sind.

Als ich 1990 in die Politik kam, habe ich mich in der alten Bundesrepublik oft gefragt, ob die Menschen in den alten Ländern eigentlich wissen, wie viel Sozialismus es auch bei ihnen gibt. Mir ist das immer daran aufgefallen - ich halte dieses im Übrigen für einen der schwierigsten Teile beim gemeinsamen Sprechen über die Wiedervereinigung -, dass auch viele Westdeutsche im Grunde dem Denken beigepflichtet haben, man könne und solle auf einen Staat und seine Institutionen durchaus erst einmal schimpfen. Der sei an allem Schuld, die Politiker seien sowieso dumm. Hätten sie uns diese oder jene Steuererhöhung angekündigt, hätten wir natürlich gerne für die deutsche Einigung bezahlt. So liefen ja damals, 1990, die Diskussionen. Irgendwie habe ich mich, offen gesagt, dabei an manche Züge in der DDR früher erinnert, nach dem Motto: Eigentlich kann man klagen und einfach weiter schimpfen.

Wenn man also in dieser Form gemeinsam über die neue Bundesrepublik Deutschland oder die alte Bundesrepublik Deutschland geklagt hat, gelangte man zu einem interessanten Punkt. Der war nämlich erreicht, wenn man als Ostdeutscher auf etwas hinwies, das vielleicht auch in der DDR ganz gut war. In dem Moment wurde der westdeutsche Gesprächsteilnehmer meistens sehr ernst und meinte, das Grundgesetz und alles, was er so habe, sei so schlecht nicht. Das lasse er sich von uns auch nicht madig machen. Besser als die DDR sei die Bundesrepublik ohnehin allemal gewesen. Nun hatte ich ja meinem Gesprächspartner überhaupt nicht sagen wollen, dass die Bundesrepublik schlechter als die DDR gewesen sei. Im Gegenteil, außerdem sind wir Ostdeutschen ja freiwillig und schnell nicht nur der

D-Mark beigetreten, sondern dem Geltungsbereich des Grundgesetzes insgesamt. Ich bin im übrigen ein durchaus glücklicher Bundesbürger. Aber gerade in einer freiheitlichen Ordnung muss das ja noch nicht zur völligen Kritiklosigkeit Mängeln und Fehlern gegenüber führen, die auch diese Bundesrepublik aufweist.

Wenn man also beim durchschnittlichen „alten“ Bundesbürger ganz tief gräbt, dann ist er doch durchaus ein wenig stolz auf sein Land. Das wiederum hat mich sehr beruhigt. Es hätte mich doch schon sehr bekümmert, wenn wir nach der deutschen Einigung eigentlich wieder in ein Land gekommen wären, das man genauso kritisch betrachten muss, wie man die frühere DDR betrachtet hat.

Ich glaube, wir haben gemeinsam zwischen Ost und West über diese Dinge zu wenig gesprochen. Deshalb sind Veranstaltungen wie diese so wichtig. Gleichzeitig müssen wir uns dabei intensiv mit der Frage auseinander setzen, warum der Sozialismus gescheitert ist.

Diese Frage ist gar nicht so einfach zu beantworten, wie viele von uns denken mögen. Dabei ist z.B. interessant, dass im Jahre 1990 noch 77 % der früheren Bewohner der DDR gesagt haben, an der DDR sei vieles zu ändern gewesen. 10 Jahre später sagten dies nur noch 44 %. Ich denke, dass das Ausmaß des ökonomischen Versagens der sozialistischen Ordnung der DDR von vielen ein Stück weit verdrängt wird, weil wir natürlich das Glück hatten, dass man uns nach der Wiedervereinigung sehr schnell geholfen hat und auch helfen musste, damit sich nicht alle mobilen DDR-Bürger gen Westen bewegen. Wenn man aber nach Polen, Tschechien, Ungarn oder Rumänien fährt, bekommt man einen kleinen Eindruck davon, was uns Ostdeutschen durch die Solidarität und die Stabilität der alten Bundesrepublik Deutschland glücklicherweise erspart geblieben ist.

An dieser Stelle mache ich allerdings eine Anmerkung: Ich finde es interessant, dass wir in der DDR beim Vergleich mit Polen, Tschechien und Ungarn immer froh waren, festzustellen, unter den sozialistischen Ländern allemal noch die Besten zu sein. Deshalb, so scheint mir, lassen wir es auch heute eigentlich nicht gerne zu, mit anderen verglichen zu werden, wenn wir fürchten müssen, schlechter abzuschneiden.

Dieses Empfinden ist im übrigen auch einmal einer gesonderten Betrachtung wert, denn wir haben ja sehr wohl profitiert von vielem, was unsere polnischen Freunde hinter der Grenze besser konnten, sei es, einen billigeren Haarschnitt beim Frisör zu bekommen, seien es gute Autoreifen, die dort erhältlich waren, und vieles mehr. Auch zu DDR-Zeiten war also das Geben und Nehmen sehr deutlich ausgeprägt.

Woher nehmen wir also das Selbstbewusstsein, uns für besser zu halten und das angesichts der Tatsache, dass die Tschechen 1968 den Einmarsch der Panzer, die doch bei uns stationiert waren, erleben mussten? Oder gegenüber Polen, die die Solidarnosc gegründet haben? Woher also nehmen wir eigentlich das Selbstbewusstsein, dass wir irgendwie doch besser oder im Zweifelsfalle auch noch ein wenig mutiger waren? Diese Frage muss gestellt werden. Denn ich glaube, wir waren weder die Mutigsten noch die Tapfersten, sondern bestenfalls Durchschnitt.

Bemerkenswert ist für mich dabei auch die Art und Weise, wie sich z.B. die Polen mit dem Sozialismus auseinandergesetzt haben. Wenn wir auf wissenschaftlichen Konferenzen waren, waren die Polen immer - wie wir es früher genannt haben - „die fröhlichste Baracke im Lager“. Die Tschechen setzten sich mit der Lage etwas ernster auseinander, und wir? Na ja, wir waren, wie gesagt, nicht immer die Allermutigsten. Zugegebenermaßen ist uns der Mut aber auch in besonderer Weise schwer gemacht worden. Denn als sog. „Vorposten zur kapitalistischen Welt“ mussten wir aus Sicht des Staates natürlich in besonderer Weise abgeschottet werden. Durch unsere besondere Situation als geteilte Nation gab es ja ganz andere bzw. besondere Fluchtmög lichkeiten, Verwandtschaftsbeziehungen und vieles andere.

Die DDR war eine Diktatur. Da gibt es gar nichts zu diskutieren. Ich habe mich deshalb sehr über Herrn Höppner geärgert, der unentwegt den Menschen weiß machen wollte, dass die DDR kein Unrechtsstaat gewesen sei. Sie war ein Unrechtsstaat. Mit diesem Befund ist aber an anderer Stelle nicht selten ein Missverständnis verbunden. Denn für die diejenigen in der alten Bundesrepublik, die keinen persönlichen Kontakt in die frühere DDR hatten, gab es eben nicht die Gesichter, die Menschen, die Familien, das Leben, sondern für sie gab es nur den Unrechtsstaat, das politische System in der DDR. Für sie hatte dieser Unrechtsstaat gar keine Gesichter. Für sie waren Menschen, die plötzlich nach der Wiedervereinigung kamen und sagten, sie hätten in der DDR eigentlich auch öfter gelacht und es sei manchmal auch lustig gewesen, völlig unverständlich. Aber ich sage: Wir haben Weihnachten gefeiert, unsere Eltern haben genauso mit uns geschimpft, wie sie das heute in der Freiheit tun. Eine meiner verblüffendsten Erfahrungen war, dass man früher beim Schauen des Westfernsehens dachte, Abwaschen mit Pril oder Palmolive sei doch eigentlich keine schlechte Tätigkeit mehr. Die Enttäuschung war dann groß, als man nach 1990 Palmolive in der Hand hatte und das Abwaschen weiter genauso langweilig war wie früher.

Ich nenne dieses Beispiel stellvertretend für viele Erfahrungen, denn wir aus der früheren DDR haben uns natürlich auch ein bestimmtes Bild vom Westen gemacht. Dieses Bild war mit der Erarbeitung des Wohlstandes im Westen, mit den vielen Beschwernissen in harter Arbeit vieler, gar nicht verbunden. Für uns war da nur die heile Welt der Reklame, und es stellte sich - verkürzt gesagt - nur noch die Frage, ob wir da endlich auch hinkommen. Deshalb waren wir nach 1990 ein wenig enttäuscht, dass das Leben im Westen auch zum Teil sehr schwer und sehr unterschiedlich ist, dass sehr hart gearbeitet werden muss und es auch Probleme gibt. Weil umgekehrt gleichzeitig viele in der alten Bundesrepublik keine Erfahrung damit hatten, wie das Leben in der DDR war, ist es schwierig, sich voneinander ein konkretes, lebendiges Bild zu vermitteln.

Wer zum Beispiel jetzt in Berlin in das neue Jüdische Museum geht, der sieht, dass dort versucht wird, die Geschichte der Juden in Deutschland an ganz praktischen Lebensbeispielen aufzuarbeiten. Der Besucher soll erfahren, wie ein Wohnzimmer, der Schulunterricht oder eine jüdische Synagoge aussahen. Vielleicht müssen wir auch noch viel mehr darstellen und erzählen, wie das Leben auf beiden Seiten wirklich war. Wir im Osten wissen z.B., was Hellerau war. Wir wissen, was WBS 70 war. Man konnte sich dann gleich den Couchtisch dazu denken und wusste, wo man aneckte und wo man nicht aneckte. Man wusste aber eben auch, WBS 70 war schon für die Meisten ein großer Fortschritt, gemessen an dem, wie man vorher gewohnt hatte. Mir ist es also wichtig, dass wir uns erzählen, was sich in unserem Leben abgespielt hat.

Dabei müssen wir wissen: Die deutsche Einheit konnte überhaupt nur gelingen, weil die Institutionen der bürgerlichen Welt in der früheren DDR nicht völlig zerschlagen waren. Der Staat hat zwar alles versucht, um die Leute mit möglichst ineffizienter Organisation der Arbeit und ihrer Dauerbeschäftigung irgendwie vom privaten Leben abzuhalten, aber vollständig gelungen ist das natürlich nicht. Die deutsche Einheit wäre nach vierzig Jahren überhaupt nicht möglich gewesen, wenn in den Familien nicht auch Werte weitergegeben worden wären, wenn nicht Familie so gelebt worden wäre, wie sie auch in der alten Bundesrepublik gelebt wurde, wenn nicht Menschen füreinander Verantwortung übernommen hätten, wenn es nicht Engagement und Beziehungen gegeben hätten.

Eine Bemerkung am Rande: Für mich ist es eine besonders merkwürdige Erfahrung, dass nach der Wende plötzlich all das weg war, was wir unter Gemeinschaftlichkeit in der früheren DDR verstanden haben. Eine Cousine hat einmal zu mir gesagt, unsere Gemeinschaftlichkeit, auf die wir uns so viel einbildeten, sei doch nichts weiter als eine Notgemeinschaft, weil wir ja dauernd miteinander tauschen müssten. Das hatte ich damals empört zurückgewiesen. Später stellte ich allerdings fest, dass nach der Wende in den großen Neubaublocks plötzlich gar keine Hausfeste mehr stattfanden und die Leute dann Klage darüber führten, dass das nun nicht mehr ginge. Wenn man dann gefragt hat, warum das so sei - nach meinem Kenntnisstand sind diese Feste mit der deutschen Wiedervereinigung nicht verboten worden -, kam allenfalls die Antwort, dass man jetzt für solche Feste selber etwas zahlen müsse und es deshalb keinen Spaß mehr mache.

Doch zurück zu meinem eigentlichen Punkt: Die Institutionen und allen voran die Familien, aber auch die Kirchen, waren in der DDR auch unter widrigen Umständen weiter da. Sie haben ein hohes Maß an Stabilität und Kontinuität gebracht, mit denen uns die deutsche Einigung gelingen konnte. Wir müssen es jetzt schaffen, und das sage ich für die neuen Bundesländer insgesamt, die Darstellung des schlechten Staatssystems DDR tatsächlich nachvollziehbar zu machen, damit auch in der alten Bundesrepublik verstanden wird, dass glücklicherweise nicht einmal in einer solchen Diktatur wie der der DDR das menschliche Leben völlig und ausschließlich vom Staat bestimmt sein konnte.

Deshalb sage ich auch eindeutig: Selbst ein schwieriger Staat, ein diktatorischer Staat, rechtfertigt nicht, elementare menschliche Werte außer Acht zu lassen. Man musste z.B. nicht Stasispitzel sein. Das heißt nicht, dass man jemandem heute nicht vergeben kann, wenn er früher in eine solche Lage gekommen ist. Aber es war wirklich nicht so, dass man Stasispitzel sein musste, sondern man musste an manchen Stellen nur etwas Mut haben, und wenn man Glück hatte, hatte man auch Eltern, die einem das mit auf den Lebensweg gegeben haben. Man musste und konnte versuchen, sich nicht erpressen zu lassen.

Ein Bericht der Berliner Zeitung über Angela Marquardts Enttarnung als Stasispitzel war mit den Worten überschrieben: „Vater Stasispitzel, Mutter Stasispitzel, Adoptivmutter Stasispitzel, Tochter Stasispitzel“. Offensichtlich nach dem Motto: Was sollte aus dem Kind auch anderes werden. Nun mag diese Familie ja befördernd gewirkt haben, aber erklären kann sie dennoch nicht alles.

Deshalb hat sich der Deutsche Bundestag mit großer Mehrheit dazu entschlossen zu sagen, wer früher bei der Stasi war, soll nicht wieder im öffentlichen Dienst tätig sein. „Stasi in die Produktion“, hat man 1989 anfangs weise gesagt. Das hieß ja nicht, dass diese Leute nie wieder die Möglichkeit haben sollten zu arbeiten. Wir haben aber von der „Produktion“ gesprochen und gemeint, dass sie nie mehr die Möglichkeit haben sollten, andere Menschen zu kujonieren. Das wollten wir nicht mehr, und das finde ich richtig. Deshalb muss heute weder mit staatlichen Zuschüssen forschen, noch muss im Staatsapparat arbeiten, wer früher andere Leute erpresst und ihnen Schaden zugefügt hat.

Mir scheint: Wir brauchen eine gesamtdeutsche Debatte über Mut - das hat sehr viel mit unserer Geschichte zu tun. Wer ist mutig, und wie viel Mut kann man von jemandem verlangen? Wenn wir in der Politik ganz harte Diskussionen führen, frage ich mich manchmal in den politischen Kreisen, die ja nun gesamtdeutsch sind, wer sich hier wohl traut, etwas zu sagen. Dann denke ich gelegentlich, ob man dennoch den Mund aufmacht oder nicht, wenn jetzt auch noch der Abiturplatz für das Kind davon abgehangen hätte. Ich vermute einmal, dass wir gesamtdeutsch ziemlich gleich sind. Deshalb warne ich sehr davor, über den Mut anderer allzu leichtfertig zu sprechen, weil es oft sehr schwierig ist, sich in die jeweils konkrete Situation hineinzudenken.

Jeder von uns hatte seine schwachen Seiten. Das ist doch ganz klar. Ich habe auch immer dazu gestanden. Ich kann mich noch genau an ein Erlebnis erinnern, als ich als Politikerin zum ersten Jahrestag der Währungsunion an einer Podiumsdiskussion in Schwerin teilgenommen hatte und jeder der Teilnehmer aus seinem Leben berichtete. Ich erzählte u.a., dass ich eine Marxismus-Leninismus-Arbeit schreiben musste, bevor ich mein Physikdiplom ablegen konnte. Daraufhin schoss ein Spiegel-Korrespondent auf mich zu und fragte, wo die Arbeit sei. Ich antwortete ihm, ob er es mir glaube oder nicht, ich hätte sie nur in einem Exemplar angefertigt. Da wir ja in der früheren DDR keine Kopiermöglichkeiten hatten, musste ich alles auf der Handschreibmaschine schreiben. Weil ich beim Einlegen des Blaupapiers unentwegt doppelt beschriebene Seiten produziert hatte und keine anständigen Duplikate, habe ich den Text nur einmal geschrieben und abgegeben. Nach der Veranstaltung wurden umfangreiche Recherchen an der Akademie der Wissenschaften angestellt, um irgendwie dieser M-L-Arbeit habhaft zu werden. Irgendwann hat mir ein freundlicher Sozialdemokrat gesagt, auch er habe jetzt mitbekommen, dass alle Arbeiten vernichtet worden seien. Mir wars, ehrlich gesagt, egal. Aber die Sensationslust, mit der sich jemand darauf gestürzt hatte, um 10, 15, 20 Jahre später vielleicht dreimal das Wort Sozialismus in irgendeiner Arbeit zu finden und damit einen Menschen an den Pranger zu stellen - viele von ihnen haben ja so etwas erlebt - diese Sensationslust hat mit der Notwendigkeit, die deutsche Geschichte aufzuarbeiten wirklich überhaupt nichts zu tun.

Es ist für mich eine weitere spannende Frage, ob wir Ostdeutschen im Bewusstsein auch derer, die in Westdeutschland gelebt haben, vielleicht über Fähigkeiten und Fertigkeiten verfügt haben, die für Gesamtdeutschland heute hilfreich sein könnten. Denn aus der Not erwachsen ja manchmal auch Tugenden. So finde ich z.B., dass wir besser gelernt haben, zwischen den Zeilen zu lesen. Darin waren wir Ostdeutschen großartig. Das ist nun heute nicht mehr so gefragt, heute geht es eher darum, eine dicke Überschrift zu produzieren. Aber immerhin, wenn es einmal wieder in Mode kommt, können wir zwischen den Zeilen lesen.

Ich möchte eine zweite Fähigkeit herausstellen. Es ist die Fähigkeit, gut zu improvisieren. Weil wir Ostdeutschen so gut improvisieren können, sind wir eigentlich die geeigneten Geschöpfe für das 21. Jahrhundert. Denn Improvisieren bedeutet, vernetzt denken zu können, verschiedene Sachverhalte zusammenzubringen und zu einer Lösung zu führen. Das steht der totalen Spezialisierung, wie wir sie ja heute oft kennen, entgegen. Deutschland würde also gut tun, sich ein wenig von der Improvisationsfähigkeit dessen zu erhalten, was aus der Not in der DDR, die ich nie wieder erleben will, geboren war. Dieses vernetzte Denken muss wirklich gepflegt werden. Ansonsten werden wir noch stärker, als wir heute denken, Menschen aus anderen Ländern in unser Land holen müssen.

Wir im Osten haben aus dem Mangel gelernt. Ich zum Beispiel habe aus dem Mangel an Wettbewerb in der früheren DDR eine größere Freude am Wettbewerb mitbekommen als viele in der alten Bundesrepublik, die vielleicht sehr harte Erfahrungen mit Wettbewerb machen mussten, mit Wettbewerb in verschiedenen Schulformen zum Beispiel. Wir dagegen haben unendlich lange in der Polytechnischen Oberschule gesessen. Wenn man Glück hatte, kam man nach der 8. Klasse auf die Erweiterte Oberschule. Da sagt man sich natürlich, ein differenziertes Schulsystem ist besser, um die unterschiedlichen Begabungen und Fähigkeiten zu fördern. Wettbewerb kann also etwas sehr Gutes sein.

Wir haben auch aus dem Mangel an Freiheit, dem Mangel an Diskussionskultur, dem Mangel öffentlich streiten zu dürfen, gelernt. Ich bin heute manchmal enttäuscht, dass die Debattenkultur in der alten Bundesrepublik Deutschland nach so vielen Jahren Demokratie im Grunde nicht sonderlich ausgeprägt ist. Auch daran könnten wir arbeiten. In Ermangelung überzeugender Argumente kommt man meines Erachtens zu oft zu schnell zur persönlichen Beleidigung; hier könnten wir gesamtdeutsch noch ein paar Fortschritte machen.

Zu unserem Thema „Die DDR im Geschichtsbewusstsein der Deutschen“ gehört auch ein Blick in die Schulbücher aller Bundesländer. Was wird dort etwa zur Rolle der Kirchen oder zur Fremdbestimmung durch einen massiven Einfluss der Sowjetunion gelehrt? Durch diesen Einfluss sind ja unsere eigenen geschichtlichen Erfahrungen in Deutschland zerschlagen worden, alles, was an die guten Traditionen Deutschlands hätte erinnern können. Zuerst wurden die Länder aufgelöst, dann wurde die Hauptstadt gestärkt. In der Sowjetunion gab es nur Moskau. Diese Stadt war das Zentrum. Hier gab es zwischen Zarismus und Leninismus kaum einen Unterschied. Auch die Kollektivierung, das Wegnehmen von Eigentum, auch des Verständnisses von Eigentum, waren Ergebnisse einer wirklich massiven Einflussnahme des sowjetischen Systems, das aus seiner eigenen Geschichte heraus den Wert von Eigentum überhaupt nicht kannte.

Das alles hat natürlich den Menschen unendlich wehgetan. Was haben die Bauern gelitten, als die Zwangskollektivierung kam. Was haben sie gelitten, als sie plötzlich ihre Rinder in den Rinderoffenstall stellen mussten, obwohl klar war, dass die Kühe erfrieren würden, wenn sie dort in ihrem eigenen Dreck im Winter bei minus 10 und minus 20 Grad stehen müssten. Der Staat hat den Leuten das Engagement und die Tatkraft ausgetrieben. Der Staat hat sie immer wieder an die Wand rennen lassen, und zum Schluss hat man sich gewundert, dass sie sich für nichts mehr einsetzen konnten. Es ist bestürzend, was in den 40 Jahren DDR auch an menschlicher Kraft verloren gegangen ist oder umgelenkt wurde.

Die Menschen haben sich den ganzen Tag angestrengt. Trotzdem war das Ergebnis nur Reibung, Wärme und Rauch, der aufstieg. Sonst kam nichts heraus, aber nicht wegen der Menschen, sondern allein deshalb, weil das Leben unsinnig organisiert war. Hierzu fällt mir ein kleines Erlebnis ein: Ich kam einmal zwei Stunden zu spät mit dem Zug in Prag an und klagte meinem damaligen Professor, dass alles so schrecklich sei. Er sagte mir: „Frau Merkel, sie wissen doch, wir nehmen an einem großen Experiment teil. Wir beide wissen, es wird nicht zum Erfolg führen. Aber es gibt so viele, die denken, es könnte klappen, und deshalb müssen wir noch ein bisschen mitmachen.“

Manchmal tut es richtig weh, wenn man überlegt, wie sehr man sich angestrengt hat - und zum Schluss war trotzdem kein Erfolg zu sehen. Die Menschen in den alten Bundesländern können das oft gar nicht verstehen, weil sie ja nicht wissen, wie viel Energie es z.B. erforderte, die vielen Spee-Pakete mühselig zusammen zu bekommen. Das ist ja nichts Messbares, mit dem man nachweisen konnte, was wir geschafft und geleistet hatten. All das mag im Rückblick lustig klingen. Ich meine das jedoch sehr ernst. Zum Schluss gibt es dann bei manchen in den alten Bundesländern das große Missverständnis, dass vielleicht manch einer gar keine Lust zum Arbeiten gehabt hätte.

Es ist wahr: Manch einer konnte zum Schluss vielleicht wirklich nicht mehr mit Freiheit umgehen. Wem sein ganzes Leben lang gesagt wird, was passieren soll, wer sich gleichsam selbst abgewöhnt hat, darüber nachzudenken, dass er eigentlich noch andere Möglichkeiten hätte, der war 1990 natürlich von der Freiheit erst einmal überfordert. Václav Havel hat das sehr treffend beschrieben.

Woher soll die Fähigkeit kommen, unter verschiedenen Optionen auszuwählen, wenn man das nicht gelernt hat? Wenn ich heute junge Menschen bei uns sehe, die aus der Schule kommen und ganz selbstbewusst ihr Leben in Angriff nehmen, dann denke ich manchmal: Jetzt sehen wir die erste Generation, die wirklich davon profitiert, dass sie gelernt hat zu entscheiden und zu wissen, dass jede Entscheidung auch eine persönliche Anstrengung ist. Es ist aber auch eine Generation, die diese Anstrengung gerne auf sich nimmt. Herr Professor Böhmer hat zu Recht gesagt, es sei unser Ziel, dass die Menschen wirklich etwas zu entscheiden haben und nicht wieder aus anderen ökonomischen Gründen die Möglichkeit nicht bekommen, am Aufbau mitzuwirken.

Die Begeisterung über die Wende war riesig, aber viele sind dann anschließend auch enttäuscht worden. Nicht enttäuscht, weil ihnen die Freiheit nicht gefallen hat, nicht enttäuscht, weil sie die Bundesrepublik Deutschland nicht leiden konnten, sondern enttäuscht, weil für sie in der Arbeitswelt durch die Umstrukturierung und die notwendigen Veränderungen kein Platz war. Trotzdem sind die Veränderungen notwendig gewesen, und das Reden der PDS, die Enttäuschungen seien allein die Schuld der alten Bundesrepublik Deutschland, ist völlig absurd.

Von allen Beschäftigten in der früheren DDR waren z.B. 12,5 % in der Landwirtschaft beschäftigt, das heißt, bis zu 60 % in ländlichen Regionen wie dieser hier. In der modernen Landwirtschaft der Europäischen Union und in der Bundesrepublik Deutschland hat man heute aber nur noch 1,5 % Beschäftigte. Dann bedeutet das natürlich für eine große Gruppe von Menschen in Ostdeutschland, dass sie schlicht und ergreifend kaum noch eine Chance auf dem Arbeitsmarkt hat. Denen können sie nicht einfach sagen, sie sollten zu SAP und IBM gehen und sich mal schnell von Traktorist oder Rinderzüchter auf Programmierer umschulen lassen. Die schnelle Umschulung gelingt halt nicht. Für diese Schicksale muss man Verständnis entwickeln.

Den jungen Leuten aber muss man sagen, dass sie sich in der neuen Zeit zurechtfinden müssen und nicht die alten Verhaltensmuster übernehmen dürfen. Natürlich ist es auch nicht ganz so einfach, wenn die einzigen, die in einer Familie einen regelmäßigen Tagesablauf haben, die Kinder sind, weil sie in die Schule gehen, während Vater und Mutter immer zu Hause bleiben, weil sie arbeitslos sind.

Das alles sind Fragen an der Schnittstelle von Geschichte und Gegenwart, und wir müssen klären, wie wir mit diesen Fragen umgehen. Ich spreche gerne darüber, und ich spreche darüber auch mit Liebe. Weil ich überzeugt bin, dass wir, wenn wir es richtig machen, unglaublich viel für Gesamtdeutschland aus diesen Fragen lernen könnten.

Wir könnten auch darüber sprechen, was aus unserer gemeinsamen Erfahrung heraus jetzt Not tut. Ich denke zum Beispiel, dass die, die früher in der DDR gelebt haben, sich mit Veränderungen manchmal fast leichter tun, weil sie wissen, dass Veränderung auch etwas Gutes ist, weil sie wissen, dass unsere Altstädte längst zerfallen wären, wenn der Sozialismus weiter geherrscht hätte. Wenn wir heute nach Quedlinburg gehen oder nach Magdeburg oder hier nach Wendgräben, dann weiß man doch, dass alles kurz vor dem Verfall war. Die halbe Altstadt von Greifswald ist schon zugedeckt worden, als Honecker einmal dort hingefahren ist. Das darf man ja alles nicht vergessen. Ich habe in meinem Wahlkreis in Stralsund siebenhundert Denkmale. Davon ist nicht ein einziges noch in Ordnung gewesen, als die DDR zusammengebrochen ist.

Weil wir also wissen, dass Veränderung etwas Gutes bedeuten kann, haben wir auch nicht eine solche Angst oder Panik vor Veränderung, wie ich sie manchmal in der alten Bundesrepublik antreffe. Was war die Umstellung der Postleitzahlen dort für ein Drama. Gott sei Dank hat es am Ende ganz Deutschland geschafft. Mit diesem Mut zur Veränderung können wir etwas bewegen.

Wir haben auch erlebt, und das ist eine wichtige Erfahrung, dass ein Staat, wenn er ökonomisch ruiniert ist und gesellschaftlich zerstörerisch wirkt, zusammenbrechen kann. Natürlich ist die Bundesrepublik Deutschland weit davon entfernt. Aber ich sage sehr deutlich, dass wir keinen Rechtsanspruch darauf haben, auf Dauer zu den Ländern mit dem größten Wohlstand zu gehören. Auch wir müssen uns schon ein wenig anstrengen, und die Erkenntnis, dass man aus dem, was man kann, auch etwas machen sollte, ist meines Erachtens in den neuen Bundesländern mindestens so stark verbreitet wie in den alten Bundesländern.

Wenn ich mir dagegen aber anschaue, mit welchem Großmut man in Deutschland z.B. sagt, die grüne Gentechnologie sei eigentlich nichts für uns, dann kann man sich schon Sorgen machen. Bei der roten Gentechnologie hat man sich gleich zehn Jahre Zeit gelassen, bis die erste Insulinproduktionsanlage in Frankfurt am Main zugelassen wurde. Was war die Folge: Die Wiederaufarbeitung in Hanau ist nach Frankreich verlagert worden. Der Chef ist mitgegangen. Die tausend neuen Arbeitsplätze sind nicht bei uns, sondern in Frankreich entstanden.

Auch der Transrapid wird nicht bei uns, sondern nun in China gebaut, weil wir uns nicht dazu durchringen konnten. Herr Müntefering wollte ihn dann noch eingleisig bauen. Heute fahren wir nach China und wundern uns, dass die dort so schnell sind, und anschließend schimpfen wir über die Globalisierung. So wird es nicht gehen. Wir haben die Aufgabe, aus dem, was wir können, auch etwas zu machen. Denn das, was eine Bevölkerung kann, was die Menschen in einem Lande können, das ist die wichtigste Ressource, die wir haben.

Die Magdeburger Börde hat vielleicht noch die Bodenwertzahl 100. Da haben wir noch die Braunkohle, die ist einigermaßen kostendeckend, bei der Steinkohle aber müssen wir schon zuzahlen und mit Kies alleine - dem richtigen Kies hier aus der Erde - wird man den Wohlstand eines Industrielandes auch nicht aufbauen. Wir müssen uns also anstrengen. Wir hier in den neuen Bundesländern sind zu dieser Anstrengung bereit. Deshalb versuche ich auch immer, die Freude an der Veränderung in meiner politischen Arbeit nach ganz Deutschland zu tragen. Veränderung bedeutet etwas Gutes für uns.

Wir brauchen auch eine tiefgehende Debatte - ich kann hier nur noch ein paar Anmerkungen dazu machen - über die Frage: Was ist unser Selbstverständnis von Deutschland? Günter de Bruyn hat kürzlich in einem sehr schönen Interview etwas dazu gesagt, wie wir mit den Schatten- und den Lichtseiten unserer Geschichte umgehen können, mit unserer langen deutschen Geschichte, die im Übrigen immer eine föderale, von Stämmen geprägte Geschichte war.

Wie also können wir mit dieser Bundesrepublik Deutschland umgehen? Dürfen wir stolz auf sie sein, oder sollen wir das lieber nicht sagen, dürfen wir sie kritisieren, dürfen wir sagen, das ist unser Vaterland oder ist der Begriff Vaterland ein altmodischer Begriff? Bei solchen Diskussionen, sie merken das sofort, knistert es.

Noch schwieriger sind die Diskussionen z.B. über den 8. Mai. War das ein Tag der Befreiung? Wenn man sagt, es war ein Tag der Befreiung dort, wo die Amerikaner und Engländer hingekommen sind, war es dann auch ein Tag der Befreiung dort, wo die Russen hingekommen sind, oder war das der Beginn der neuen Diktatur? Wahrscheinlich ist an beidem etwas dran. Wir müssen also über unser Selbstverständnis sprechen und dabei die interessanten Unterschiede zwischen Ost und West anerkennen.

Die Westdeutschen hatten die D-Mark, die soziale Marktwirtschaft, da gab es eine hohe Identifikation mit dem, was man nach dem II. Weltkrieg unter Deutschland verstanden hat. Für uns war das Bekenntnis, Deutscher zu sein, ja fast schon Teil eines Widerstandsaktes, weil man damit den Gedanken der deutschen Einheit wach gehalten hat. Damit hat man sich gegen den Staat gestellt, der eigentlich wollte, dass man den Gedanken an nationale Einheit und Identität möglichst schnell vergisst. Daraus hat sich aber auch ein viel unbefangeneres Verhältnis zu der Frage, ob ich sagen soll, dass ich gerne Deutscher bin oder nicht, entwickelt. Diese Debatte über unsere Nation sollten wir viel intensiver als bislang führen. Denn sie ist wichtig, wichtig für unser Selbstverständnis, wichtig dafür, dass wir uns weder besser noch schlechter vorkommen als andere Nationen. Diese Debatte ist wichtig, damit wir mit unseren schwierigen geschichtlichen Erfahrungen, aber auch mit unseren guten geschichtlichen Erfahrungen, mit der Erfahrung einer friedlichen Revolution, mit der Erfahrung der Veränderung, zurechtkommen und daraus die Hoffnung und den Willen ziehen, ein gutes gemeinsames Deutschland zu bauen.

Lassen Sie mich eine letzte Bemerkung machen. Es ist unsäglich, und wir dürfen das niemals unwidersprochen lassen, wenn die PDS oder Teile der Sozialdemokratie, die mit der PDS zusammenarbeiten, die Hoheit über die geschichtliche Interpretation der DDR bekommen wollen. Dagegen muss angegangen werden. Wir müssen deshalb der Opfer und der vielen Leiden in der früheren DDR in angemessener Weise gedenken.

Es gibt natürlich eine Tendenz zur Verdrängung, eine Tendenz, erst einmal zu schauen, dass wir heute alle erfolgreich werden. Manch einer, der davon spricht, wie er gelitten hat, stört einfach auf diesem Weg. Ich halte es aber für ganz wichtig und auch für ein Zeichen von Demokratie und Menschlichkeit, wie wir mit den Opfern in der eigenen Gesellschaft umgehen. Wir müssen aufpassen, dass sie nicht zum Schluss als ein wenig wirr hingestellt werden und dass nicht gefordert wird, sie sollten doch endlich aufhören zu mahnen. Wir müssen die Opfer vielmehr als Aufforderung zur Auseinandersetzung mit unserer Geschichte begreifen und uns dieser Auseinandersetzung stellen. Von jemandem, der wirklich gelitten hat in der DDR, lasse ich mir durchaus sagen, dass ich in manchen Situationen ziemlich feige war. Das stimmt mich dann nachdenklich, weil ich weiß, dass es Menschen gab, die mehr Mut als viele andere hatten. Dieser Mut darf jetzt wirklich nicht unter den Teppich gekehrt werden. Er muss Anerkennung finden.

Unser Thema bietet viel Diskussionsstoff, und deshalb wünsche ich mir, dass dazu noch weitere Veranstaltungen stattfinden in West und Ost und am besten auch mit gemischtem Publikum aus West und Ost, denn es ist wichtig, dass wir über unser Land miteinander ins Gespräch kommen.

Ich danke Ihnen, dass sie heute so zahlreich erschienen sind, dass wir miteinander sprechen konnten. Bei der Behandlung der Schnittstelle zwischen Geschichte und Gegenwart sollten wir es als Chance begreifen, dass wir diejenigen sind, die noch über die Interpretation der Geschichte befinden können. Wir haben zu einem spannenden Zeitpunkt deutscher Geschichte gelebt - soviel kann man heute sicher sagen. Die friedliche Revolution, der Fall der Mauer - das war ein unglaubliches Ereignis. Nicht jede Generation erlebt so etwas Tolles.

Deshalb sollten wir vielleicht mehr als sonst kleine Tagebücher führen und damit etwas weiter geben von dem, was mit Sicherheit in hundert, zweihundert Jahren als eine der interessantesten Perioden deutscher Geschichte betrachtet werden wird.

Herzlichen Dank für ihre Aufmerksamkeit.

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Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.

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Sankt Augustin Deutschland