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Wo ist die EU in der Corona-Krise?

Der Streit um die Finanzierung von Hilfsprogrammen

Der EU-Stabilitätspakt konnte die Staatschuldenkrise im Euro-Raum nicht verhindern. Das engt in Krisenzeiten, wie jetzt wieder bei der Corona-Pandemie, die Handlungsspielräume mancher Euro-Partner ein. Rufe nach finanzieller Hilfe werden laut. Sind diese berechtigt? Und was verbirgt sich hinter dem Streit über gemeinsame Corona-Anleihen? Der Beitrag erklärt die zugegeben komplizierten Hintergründe und legt die Argumente für und wider gemeinsamer Anleihen dar. (Lesedauer: 40 Minuten)

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I. Teil: Vertragliche Grundlagen des Euro

1. Der „Stabilitätspakt“: kein Erfolgsmodell

2. Teuer erkaufte Währungsstabilität

 

II. Teil: Der Streit um gemeinsame Anleihen

1. Voraussetzungen eines solidarischen Europas

2. Argumente für „Corona-Bonds“

3. Gründe gegen „Corona-Bonds“

4. Worum geht es: Die Verbindung von Haftung und Kontrolle

 

I. Teil: Vertragliche Grundlagen des Euro

Im Euro-Raum mit seinen heute 19 Staaten[1] kamen Länder mit weicher Währung (wie Italien) und harter Währung (wie Deutschland) zusammen. Weist eine Währung eine hohe Inflationsrate (innere Geldwert-Labilität) und sinkende Wechselkurse (Abwertung im Außenwert) auf, wird sie als weiche Währung eingestuft, andersherum bei innerer Geldwert-Stabilität und Aufwertung im Außenwert als harte Währung. Die Geldwertstabilität, also die innere und äußere Kaufkraft, hängt in erster Linie von der Geldpolitik der Notenbank ab, ebenso aber von der Finanzpolitik und Wirtschaftsleistung eines Staates oder Währungsraums.

Durch die Abwertung seiner Währung kann ein Staat eine Verteuerung von Importen und eine Verbilligung von Exporten erreichen, die die Wettbewerbsfähigkeit seiner Wirtschaft preislich verbessert und tendenziell seine Zahlungsbilanzdefizite ausgleicht. Durch eine Aufwertung verbilligen sich Importe und verteuern sich Exporte, was tendenziell Zahlungsbilanzüberschüsse ausgleicht und wiederum Motivation zu noch mehr Effizienz und Qualität in der Exportwirtschaft sein kann, wie das Beispiel Deutschlands vor der Währungsunion zeigt.

Innerhalb einer Währungsgemeinschaft entfallen diese Möglichkeiten, Ungleichgewichte über Währungspolitik auszugleichen. Wirtschaftlich schwächere Partner werden hier einem verstärkten Wettbewerbsdruck ausgesetzt, dem man nun eigentlich mit niedrigeren Preisen und Löhnen begegnen müsste, da eine Abwertung nicht mehr möglich ist. Passiert das nicht, sinkt die Wettbewerbsfähigkeit weiter. Gleichzeitig „profitieren“ diese Länder aber, auch wenn sie bereits höher verschuldet sind, vom weitgehenden Wegfall der wechselkursbedingten Risikoprämien auf weiche Währungen. Zudem kommt ihnen die Bonität der finanziell solideren Partnerstaaten und ggf. die Politik der Notenbank zugute, die den eigentlich für sie am Markt fälligen Zinsaufschlag senken und so die weitere Kreditaufnahme zu günstigen Konditionen ermöglicht. Das führt zu der Verlockung, den eigenen Lebensstandard immer mehr „auf Pump“ zu finanzieren.

Auf der anderen Seite „profitieren“ insbesondere exportstarke Länder vom Wegfall der Wechselkurse im Währungsraum, womit die Transaktionskosten sinken. Wenn Importe, etwa aus Deutschland, von Partnern im Euro-Raum aber dauerhaft über viel zu hohe Schulden finanziert werden, für die der Exporteur selbst mit haftet, dann gerät das Wirtschafts- und Finanzsystem in einer Währungsunion in Schieflage, dann ist dieser Handel nicht mehr reell und wird die marktwirtschaftliche Ordnung unterhöhlt. 2018 betrug der Anteil des deutschen Handels mit der Eurozone immerhin bei den Exporten 37,5 % (2017: 37,0 %) und beiden Importen 37,2% (2017: 36,9%).[2]

Zu diesen währungspolitischen Zusammenhängen kommt hinzu, dass im Euro-Raum zwar die Geldpolitik zentralisiert wurde, aber die Finanz- und Wirtschaftspolitik dezentral in nationalen Händen blieb. Damit das funktionieren kann, ist finanzpolitisch erstens Haushaltsdisziplin und zweitens die Beachtung des Prinzips der Eigenverantwortung und eigenen Haftung absolut unerlässlich. Denn die Auswirkungen fehlgeleiteter Haushaltspolitik einzelner Staaten wären für die Währungsunion als Ganzes schwerwiegend. Und die Erfahrung zeigt: Wenn es ums Geld geht, kommt es selbst in guten Familien schnell zu Unfrieden und Streit.[3]

Aus diesen Gründen hat man sich bei der Einführung des Euro - vor allem auf Initiative Deutschlands – finanzpolitisch auf gemeinsame Kriterien zur Annäherung (Konvergenzkriterien) als vertragliche Grundlage der Gemeinschaftswährung verständigt. Sie sind als integraler Bestandteil der Währungsunion heute vor allem im „Stabilitäts- und Wachstumspakts“ niedergelegt, der für finanzpolitische Stabilität durch Haushaltsdisziplin und für ein solides Wirtschaftswachstum durch Wettbewerbsfähigkeit sorgen sollte. Dazu gehören insbesondere:

  1. Die Begrenzung der staatlichen Schulden auf nicht mehr als 60 % des Bruttoinlandproduktes (BIP).
  2. Die Beschränkung des Haushaltsdefizits auf nicht mehr als 3 % des BIP.
  3. Das Verbot von Krediten der Europäischen Zentralbank (EZB) oder der Zentralbanken für Staaten sowie das Verbot des unmittelbaren Erwerbs von Schuldtiteln/Anleihen von Staaten durch die EZB oder die nationalen Zentralbanken.
  4. Das Prinzip der finanzpolitischen Eigenverantwortung, also des Haftungsausschlusses (Nichtbeistandsklausel) seitens der Gemeinschaft oder einzelner Mitglieder für Schulden von Mitgliedsstaaten.[4]

 

Aufgrund dieser vertraglichen Grundlagen erklärte die CDU im Europawahlkampf 1999 den Wählern in einer Broschüre unter der Überschrift: „Was kostet uns der Euro?“, dass eine Überschuldung eines Euro-Staates von vornherein wegen des Stabilitätspakts ausgeschlossen werden könne und darüber hinaus eine Haftung der EU oder einzelner EU-Staaten für Partner vertraglich verboten sei.[5] Damit sollte Befürchtungen entgegengesteuert werden, der Euro-Raum könne sich zu einer Transfer- und Schuldenunion entwickeln.

 

1. Der „Stabilitätspakt“: kein Erfolgsmodell

Bekanntlich ist es anders gekommen: Hohe Staatsschulden haben sich in der Eurozone zu einem existentiellen Problem entwickelt, das die Hilfe und Mithaftung von Euro-Partnerländern notwendig macht. Der Haftungsausschluss, dass die einen Staaten für Ausgaben der anderen nicht haften, wurde 2012 durch die Schaffung des „Europäischen Stabilitätsmechanismus“ (ESM) eingeschränkt, eines Hilfsprogramms unter strikten wirtschaftspolitischen Auflagen für Euro-Staaten, die in finanzielle Schwierigkeiten geratenen sind. Der ESM hat ein Stammkapital von rund 705 Mrd. Euro, davon beträgt der deutsche Finanzierungs- und Haftungsanteil 190 Mrd. Euro (21,7 Mrd. an eingezahltem und rund 168,3 Mrd. an abrufbarem Kapital).[6] Irland, Portugal, Spanien, Zypern und insbesondere Griechenland wurden bisher von dem ESM gestützt. Bundesbankpräsident Jens Weidmann meint zu den Folgen: Die Krisenmaßnahmen hätten das Prinzip der Eigenverantwortung und eigenen Haftung dauerhaft geschwächt, zu einer Risikoumverteilung geführt und Elemente gemeinschaftlicher Haftung etabliert. Dadurch werde die „Grundlage für eine stabile und erfolgreiche Währungsunion“ untergraben.[7]

Diese Entwicklung wurde politisch von Anfang an dadurch befördert, dass die Interpretation des Stabilitätspaktes umstritten war und seine Anwendung lax gehandhabt wurde. So erfüllten bereits bei der Einführung des Euro als Zahlungsmittel 2002 mindestens drei der zwölf Euro-Staaten die notwendigen Kriterien offensichtlich nicht: Italien, Belgien und Griechenland, wobei letzteres „eigene Berechnungsregeln“ zugrunde gelegt hatte. Nach Zahlen von Eurostat lag 2001 die Verschuldung von Belgien bei 107,6 %, von Griechenland bei geschönten 107,1 % und von Italien bei 104,7 % des BIP. Andere Mitgliedsstaaten kamen den Kriterien nur formaliter nach mit Hilfe kurzfristiger „haushaltspolitischer Konstruktionen“. Seitens der Hüter der Verträge hatte das damals und späterhin jedoch kaum Folgen. Daran hat sich auch durch die Möglichkeit finanzieller Sanktionen im neuen Europäischen Fiskalpakt von 2012 nicht allzu viel geändert, weil man bis heute viel Wert auf eine „flexible“ politische Handhabung legt und die Kriterien dadurch weiter verwässert. In Krisenzeiten wirkt sich das dann unheilvoll aus.

Nach dem „Stresstest“ der Weltfinanzkrise von 2007 bis 2009 lagen deshalb im Jahr 2010 bereits neun (!) von damals 16 Euro-Ländern weit über der Schuldenobergrenze von 60 % des BIP. Es folgte die Euro-Staatsschuldenkrise. 2014 befanden sich mit Estland, Lettland, Luxemburg und der Slowakei nur mehr vier kleine Länder, darunter drei Neumitglieder, unter der Schuldenobergrenze, die 14 anderen dagegen meist weit darüber: Griechenland mit 178,9 % Schulden vom BIB, Italien mit 131,8 %, Portugal mit 130,6 %, Zypern mit 108 %, Belgien mit 107,5 %, Irland mit 104,1 %, Spanien mit 100,4 %, Frankreich mit 94,9 %, Österreich mit 84 %, Slowenien mit 80,4 %, Deutschland mit 75,3 %, Niederlande mit 67,9 %, Malta mit 63,4 %, Finnland mit 60,2 %.

In den fünf wirtschaftlich eigentlich guten Jahren seit 2014 hat sich nach Zahlen vom 3. Quartal 2019[8] in Bezug auf Griechenland mit 178,2 % (-0,7) und Italien mit 137,3 % (+5,5) nichts verbessert an der horrenden Verschuldung; bei anderen nur wenig: Portugal konnte die Schulden zumindest leicht senken auf 120,5 % (-10,1); Belgien nur ganz wenig auf 102,3 % (-5,2); Frankreich hat noch zugelegt auf 100,5 % (+5,6); Spanien und Zypern liegen immer noch bei hohen 97,9 (-2,5) bzw. 97,8 % (-10,2).

Andere Länder haben dagegen größere Sparanstrengungen unternommen: so hat Österreich seine Schulden auf 71,1 % (-12,9) gesenkt, Slowenien auf 68,1 % (-12,3) und Deutschland sogar auf 61,2 % (-14,1); den größten Erfolg haben Irland, Malta und die Niederlande vorzuweisen. Irland reduzierte seine Schulden von 104,1 auf 62,6 % (-41,5), Malta auf 43,1 % (-20,3) und die Niederlande auf 49,3 % (-18,6 %). Das zeigt, was positiv möglich ist.

Die Zahlen zeigen aber auch, dass sich in den südlichen Ländern des Euro-Raums wenig bis gar nichts mit Blick auf eine Schuldenkonsolidierung getan hat. Die durch die Währungsunion gegebene Möglichkeit, relativ günstig Schulden zu machen, hat man dort weiter weidlich genutzt. In den anderen Ländern wurde deutlich mehr getan, so dass die Schuldenschere im Euro-Raum noch mehr auseinandergegangen ist. Dabei ist bemerkenswert, dass die meisten der ärmeren und wirtschaftlich schwächeren, aber aufstrebenden mittelosteuropäischen EU-Partner (Estland, Lettland, Litauen, Slowakei als Euro-Länder sowie Bulgarien, Polen, Tschechien, Rumänien) weit unter der Schuldenobergrenze rangieren; nur Kroatien 74,9 %, Ungarn 68,2 % und Slowenien 68,1 % liegen darüber.[9]

Die Schuldenproblematik im Euro-Raum besteht also fort. Gleichzeitig ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf in den hochverschuldeten südlichen Ländern mit Ausnahme von Belgien und Frankreich unterdurchschnittlich.[10] Zwischen 2009 und 2017 war das Wachstum in Italien (1,3 %), Portugal (2,3 %) und Zypern (je 2,3 %) sowie Spanien (5,5 %) am weitaus schwächsten; Griechenland hat sogar einen Verlust um 21,7 % zu verzeichnen.[11] Damit steht das zweite Versprechen des Euro neben der Stabilität auf dem Spiel: der „Wohlstand für alle“.

Hinzu kommt, dass der Anteil der EU am globalen BIP seit der Euro-Einführung verstärkt und kontinuierlich sinkt: um fast ein Drittel von 23,16 % 2002 auf 16,28 % 2018 (-6,88 Punkte = -30 %). Das ist kein Ausweis wirtschaftlicher Stärke. Die Prognose des Internationalen Währungsfonds geht von einer weiteren Reduzierung auf 14,63 % bis 2024 aus (-8,53 Punkte = -37 % zu 2002).[12]

Fazit: Der „Stabilitäts- und Wachstumspakt“ ist sowohl im Blick auf Schuldenstabilität wie auf Wachstum bisher kein Erfolgsmodell. Im Rückblick spricht vieles dafür, dass es besser gewesen wäre, von vornherein die Stabilitätskriterien ernster zu nehmen und Griechenland wie auch Italien nicht in den Euro-Raum aufzunehmen. Wie das Beispiel von Ländern wie Großbritannien, Dänemark und Schweden, aber auch der mittelosteuropäischen Staaten zeigt, die nicht der Euro-Zone angehören, wäre dies für die EU „kein Beinbruch“ gewesen. So aber entfaltet ein Problem, das im Euro-Raum von Anfang an bestand, stetig seine unterminierende Wirkung hinsichtlich der vertraglichen Grundlagen, insbesondere in Krisenzeiten. Denn wer es nicht schafft, in guten Zeiten finanz- und wirtschaftspolitischen Spielraum zurückzugewinnen, der steht bei negativen konjunkturellen Entwicklungen oder gar Krisen noch einmal schlechter da, wenn es gilt, Schocks abzufangen.

 

2. Teuer erkaufte Währungsstabilität

Wo Schatten ist, gibt es aber auch Licht. Positiv ist festzustellen: der Euro ist trotz alledem bisher eine durchaus solide Währung. Die Inflationsrate im Euro-Raum ist bisher gering: sie lag 2009 bei 0,2 %, stieg in Folge der Finanzkrise bis 2011 auf 2,7 % an, sank danach wieder bis 2015/16 auf 0,2 %. Durch die expansive Geldpolitik der EZB (Quantitative Lockerung) mit ihren riesigen Anleihe-Kaufprogrammen, die das Ziel einer Inflation von 2 % verfolgen, stieg die Inflation bis 2018 auf 1,8 %, lag jedoch 2019 schon wieder bei 1,2 %.

Der Wechselkurs des Euros ist ebenfalls relativ stabil: gegenüber dem US-Dollar bewegte er sich in den letzten fünf Jahren zwischen 1,04 und 1,25 Dollar, im Mittel bei ca. 1,12 Dollar; im Verhältnis zum Jen in Japan zwischen 1,12 und 1,40 Jen bei einem Mittel von etwa 1,25; gegenüber dem Schweitzer Franken lag er im gleichen Zeitraum zwischen 1,03 und 1,20 Franken, im Mittel bei ca. 1,13. Gegenüber allen drei Währungen verlor der Euro jedoch seit April 2018: rund 15 % gegenüber dem Dollar und rund 13 % gegenüber dem Jen und Franken. Gegenüber Gold hat er seit Mitte 2019 schon 25 % an Wert verloren. Zeichen einer Abwertung?

Die Währungsstabilität einschließlich der Rettung und Stützung hochverschuldeter Partner  ist nämlich teuer erkauft worden: durch die Schleifung der vertraglichen Grundlagen, durch teure Hilfsmaßnahmen (ESM siehe oben), Staatsanleihe-Käufe in großem Umfang, eine lockere Geld- und Null-Zins-Politik mit Umverteilungswirkung sowie durch große Ungleichgewichte in den Target-2-Salden: Hier sind alleine die Forderungen der Bundesbank gegenüber der EZB  von rund 150 Mrd. 2009 auf aktuell bald eine Billion Euro angewachsen. Dem stehen Verbindlichkeiten Italiens von rund einer halben Billion Euro und Spaniens von rund 400 Mrd. Euro bei der EZB gegenüberstehen.[13]

In der Bilanz der EZB stehen aktuell durch die Anleihen-Kaufprogramme der letzten Jahre knapp drei Billionen Euro (3.000 Mrd. €), die dort mit rund 60 % der Bilanzsumme zu Buche schlagen. Der Kauf von Staatsanleihen macht über 80 % des Programms aus, obwohl dieser eigentlich gar kein geldpolitisches Instrument sein sollte.[14] Damit werden die EZB und die nationalen Notenbanken immer mehr zu einem der größten Gläubiger der eigenen Staaten. Wie bei Gewinnen der EZB ist Deutschland auch bei Verlusten durch Ausfall oder Wertminderung der angekauften Wertpapiere mit etwas mehr als 26 % beteiligt.[15]

Das bleibt nicht ohne Folgen: Zum einen wirken die Ankäufe der Anleihen weiter entkoppelnd auf das Refinanzierungsrisiko und damit weniger disziplinierend auf die Finanzpolitik der Mitgliedsstaaten. Der Druck für notwendige Strukturreformen wird gedämpft bzw. ganz genommen, wie jetzt durch die Aussetzung der Stabilitätskriterien durch die EU. Dabei könnten eigentlich wohlhabende Staaten gerade in einer Notsituation durchaus auch mit substanziellen eigenen Beiträgen, etwa einem Solidaritätsbeitrag der Bürger, Einkommensverzicht oder der Erhöhung des Rentenalters, auf die Krise reagieren. Zum anderen und vor allem kann diese Entwicklung, die nun noch einmal durch die aktuelle Krise potenziert wird, auf „eine starke Abwertung des Euro“ hinauslaufen.[16]

 

II. Teil: Der Streit um gemeinsame Anleihen

Vor dem Hintergrund der in Teil eins analysierten kritischen Entwicklung, die schon einmal in einer Krise die strukturellen Probleme des Euro-Raums offenlegte, wird jetzt mitten in der Corona-Pandemie über die Art und Weise der Finanzierung von Hilfsmaßnahmen durch die EU gestritten. Es ist klar, dass in einer solchen außerordentlichen Notsituation der Druck gerade seitens der hochverschuldeten und von der Pandemie besonders betroffenen Staaten sowohl auf die Geldpolitik der EZB wie auch auf die Finanzpolitik der EU enorm steigt. Die EZB hat darauf schnell und konsequent mit einem in dieser Höhe beispiellosen Rettungspaket reagiert.

Durch die im letzten September beschlossene Wiederaufnahme des Anleihen-Kaufprogramms mit 20 Mrd. Euro pro Monat, die am 12. März angekündigte Aufstockung um 120 Mrd. für das Jahr 2020 und das am 18. März aufgelegte Pandemie-Anleihen-Kaufprogramm über 750 Mrd. unter Reduzierung der Sicherheitskriterien für den Kauf stellt die EZB in diesem Jahr (April – Dezember) den Eurostaaten und der Wirtschaft 1,05 Billionen Euro (1.050 Mrd.) neues Geld zur Verfügung.[17]

Für ein Konsolidierungsprogramm, wie es Bundesbandpräsident Jens Weidmann nach den Erfahrungen der Euro-Krise 2015 vorschlug mit einer „Stärkung der ursprünglichen institutionellen Struktur der Währungsunion“, „größeren Anreizen zur Einhaltung der fiskalischen Regeln“ und einer zurückhaltenden Geldpolitik, die die „disziplinierende Wirkung der Finanzmärkte“ achtet,[18] ist jetzt kaum die Zeit. Aktuell ist schnelle konkrete Hilfe notwendig. Völlig unmöglich wäre dies jedoch auch jetzt nicht, wie etwa das radikal marktwirtschaftliche Transformationsprogramm des polnischen Finanzministers Leszek Balcerowicz nach 1989 in Polen zeigt.[19]

Schwieriger haben sich angesichts der oben beschriebenen Entwicklungen die EU-Finanzminister bei der Bereitstellung weiterer Hilfen getan. Aber auch hier fiel am 10. April die Entscheidung für ein Hilfspaket über zunächst bis zu 540 Mrd. Euro. Ein „Wiederaufbau-Fonds“ (für staatliche Wirtschaftspolitik und Konjunkturprogramme?) solle später folgen, heißt es. Die jetzt beschlossene Hilfe soll aus 240 Mrd. Euro Krediten für bedürftige EU-Staaten bestehen, die vom ESM mit der offenen Auflage ausgegeben werden sollen, diese zur Deckung „direkter oder indirekter Gesundheitskosten“ einzusetzen; aus 200 Mrd. Euro Garantien für Unternehmenskredite der Europäischen Investitionsbank sowie aus einem Kurzarbeiterprogramm der EU-Kommission über 100 Mrd. Euro, um Arbeitsplätze zu sichern.[20]

 

1. Voraussetzungen eines solidarischen Europas

Die Antwort auf die Frage: „Wo ist Europa in dieser Krise?“ heißt also. Die Europäische Union und ihre Zentralbank sind da und helfen in einem sehr großen Umfang. Bleibt der Streit um die „Corona-Bonds“, also um eine gemeinsame Schuldenaufnahme über Anleihen mit gemeinsamer Haftung für ein weiteres Hilfsprogramm, so wie das die hochverschuldeten Länder unter Führung von Frankreich und Italien wie schon früher in der Euro-Staatsschuldenkrise fordern, was jedoch von den weniger verschuldeten Staaten im Norden – insbesondere den Niederlanden und Deutschland - bisher abgelehnt wird.[21]

Dabei sind vorweg zwei Hinweise zu den Begriffen Hilfsbedürftigkeit und Solidarität von Bedeutung. Zunächst ist es so, dass die „südlichen Länder“ an sich keineswegs arm oder mittellos sind: Was das Vermögen pro Kopf angeht, stehen Italien, Belgien und Frankreich vor Deutschland. Spanien befindet sich auf Augenhöhe mit Deutschland. Ebenso liegen diese Länder sowie Portugal und Griechenland diesbezüglich weit vor allen mittelosteuropäischen Staaten. Die Kriterien der Hilfsbedürftigkeit sind daher differenzierter zu bestimmen. Sodann ist bezüglich der jetzt reklamierten Solidarität zwischen der Rechtspflicht zum Beistand zu unterscheiden, die sich für die Mitglieder einer Rechtsgemeinschaft zu deren Zusammenhalt ergibt, sowie einer ungeschuldeten freiwilligen Hilfestellung. Wir haben es hier mit einer vertraglich - Nichtbeistandsklausel, Verbot monetärer Staatsfinanzierung – eigentlich nicht geschuldeten, von der institutionellen Struktur der Union nichts desto trotz jedoch politisch notwendigen Solidaritätsleistung zu tun, die auf die Solidaritätsgesinnung der einzelnen Mitgliedsstaaten und ihrer Bürger angewiesen ist, wenn die EU und der Euro-Raum nicht Schaden nehmen sollen. Diese ist aber sozialethisch wie ordnungspolitisch im Zusammenhang mit dem Subsidiaritätsprinzip zu betrachten, dass zunächst einmal auf die Ausschöpfung der eigenen Kräfte und Möglichkeiten der Staaten besteht. Sodann gehört zu dieser Solidarität mit Blick auf das Gemeinwohl der Union die Notwendigkeit von Strukturreformen, die durch verbindliche Regeln und Anreize für eine dauerhafte Stabilität und Wettbewerbsfähigkeit sorgen. Solidarität darf keine Einbahnstraße sein. Sie ist bei den Anstrengungen zur Stabilität ebenso notwendig wie bei denen zur Bewältigung von Krisen, sonst werden EU und Euro-Raum schwerlich eine gute Perspektive haben.[22]

 

2. Argumente für „Corona-Bonds“

  1. Gesagt wird, die EU habe heute nicht ausreichend Mittel zur Reaktion auf die Krise. Es gehe um die Beschaffung von Geld für einen Rettungsplan, also zwar um die Vergemeinschaftung von neuen Schulden, nicht aber von Altschulden der Staaten.
  2. Dadurch würden die europäischen Institutionen gestärkt und die Kosten auf viele Schultern verteilt, statt in kleinlichen nationalen Egoismus zu verfallen.
  3. Da die EU-Staaten unterschiedliche fiskalische Handlungsspielräume haben, sei nun die Zeit, dass die Starken den Schwachen helfen, etwa durch eine Anleihe von einer Billion Euro, die als einmalige Notmaßnahme sachlich und zeitlich befristet eingeführt werden könne. Aufgrund der gemeinsamen Haftung würde sich die Verschuldung der hochverschuldeten Staaten vergleichsweise wenig erhöhen.
  4. Dadurch ginge ein deutliches Signal an die Kapitalmärkte aus. Auch die Banken bekämen durch diese sicheren Anleihen einen Stabilitätsanker.
  5. Die Abwicklung könne über den ESM bewerkstelligt werden, ohne dass dabei unnötige Hürden nationaler Zustimmungsrechte verzögernd wirkten.
  6. Die Nutzung des ESM als Hilfsinstrument in seiner derzeitigen Form bedeute eine Stigmatisierung der hochverschuldeten Staaten und einen Verlust nationaler Souveränität aufgrund obligatorischer Auflagen durch den ESM.[23]
  7. Andere Hilfsmaßnahmen würden ebenso eine gemeinsame Haftung nach sich ziehen.
  8. Schon seit den 70er Jahren seinen Gemeinschaftsanleihen in der EU immer wieder ein bewährtes Kriseninstrument gewesen, um Mitgliedstaaten wie Italien, Irland, Frankreich, Griechenland und Portugal, später auch Ungarn, Lettland und Rumänien zu helfen. (Nominal sind darüber 38,8 Mrd. US Dollar geflossen.)[24]
  9. Die EU solle sich an den USA und Japan ein Beispiel nehmen, die ebenfalls Anleihen zur Bekämpfung der Pandemie nutzten.
  10. Das Festhalten an alten, überholten Grundsätzen würde in der jetzigen Lage nur zu einer Schwächung der EU führen.
  11. Die Ablehnung gemeinsamer Anleihen richte „politisch mehr Schaden an, als an ökonomischen Entlastungen zu erwarten ist“; „Aufgeklärte und entschlossene Europäer“, wie Helmut Kohl, würden sich vermutlich in einer solchen Notsituation anders verhalten; der Eindruck einer nur begrenzten Solidarität Deutschlands sei angesichts der dramatischen Situation „ökonomisch ebenso riskant wie er humanitär schwer erträglich“.[25]
  12. Den Niederlanden wird vorgeworfen, durch ihr Steuersystem anderen EU-Ländern Steuereinnahmen zu entziehen und den europäischen Rettungsplan verhindern zu wollen, worin sich ein Mangel an „Ethik und Solidarität“ zeige.
  13. Deutschland habe man 1952 beim Londoner Schuldenabkommen mit einer Halbierung und Stundung der Schulden vor dem Staatskonkurs bewahrt. Heute gehe es nicht um Schuldenerlass, sondern nur um eine begrenzte Mithaftung.[26]

 

3. Gründe gegen „Corona-Bonds“

  1. Verwiesen wird auf die riesigen Programme zur Geldbereitstellung durch die EZB, deren Kredite für Banken und die Lockerung der Regeln für die Kreditvergaben durch die Bankenaufsicht, die Hilfsmöglichkeiten durch die Europäische Investitionsbank und den ESM, die Kredite von über 400 Mrd. Euro bereitstellen könnten. Zudem könnten auch knapp 300 Mrd. Euro nicht abgerufene Mittel aus früheren EU-Haushalten kurzfristig umgewidmet werden.[27] Es stünden also genügend Instrumente zur Verfügung.
  2. Gewarnt wird vor unangebrachten Schuldzuweisungen an andere EU-Partner oder die EU insgesamt, die eigene Versäumnisse und falsche politische Prioritätensetzungen verbergen sollen und die Union beschädigten. Entscheidend sei jetzt zunächst das entschiedene Handeln vor Ort. Die Fairness verlange, auf die Grenzen der Zuständigkeit der EU zu verweisen. So sei die Gesundheitspolitik eine Angelegenheit der Staaten. Die EU habe primär eine unterstützende Funktion, etwa indem sie sich um das Funktionieren des grenzüberschreitenden Warenverkehrs kümmere, die Beihilferegeln gelockert und die Stabilitätsregeln ausgesetzt habe.
  3. Die Befürworter von Corona-Bonds blieben die Antwort schuldig, warum diese über die bestehenden Instrumente hinaus notwendig seien, wofür die Mittel verwendet werden sollen und wie deren Einsatz kontrolliert werden solle. Zudem bedürften sie der Zustimmung durch die nationalen Parlamente.[28]
  4. Bei der geforderten Solidarität gehe es erneut um die Entlastung hochverschuldeter Euroländer. Im Moment gebe es jedoch für diese keine Refinanzierungsprobleme und deshalb auch keinen dringenden Bedarf für neue Instrumente mit weitreichenden Folgen für das europäische Finanzsystem.
  5. Auch diese Krise dürfe nicht dazu führen, demokratische und ökonomische Gesetzmäßigkeiten außer Kraft zu setzen, wozu die Einheit von Mitteleinsatz (Risiko), Haftung und Kontrolle gehöre. Die Ablehnung von ESM-Mitteln bedeute aber die Aufgabe dieser Verantwortungseinheit. Die betroffenen Regierungen wollten Geld und gleichzeitig freie Hand bei dessen Verwendung bei Mithaftung anderer Staaten. Insofern diene der Appell an die Solidarität der Durchsetzung eigener egoistischer Forderungen und nicht der Stärkung der EU.[29]
  6. Jenseits eigentlicher Notwendigkeiten werde in der Krise durch Moralisierung Druck zur Einführung von Corona-Bonds oder zur Verwendung von ESM-Mitteln ohne Auflagen ausgeübt. Es wäre jedoch naiv anzunehmen, die Finanzmärkte würden den durch die Vergemeinschaftung der Schulden geschaffenen Anreiz, anderer Staaten Geld auszugeben, nicht durchschauen. Die Zinsen würden natürlich nicht steigen, solange sie durch Anleihekäufe der EZB gedeckelt werden. Aber die Akteure auf den Devisenmärkten würden die Monetisierung überbordender Schulden in Betracht ziehen. Das werde letztendlich zu einer starken Abwertung des Euro führen.[30]
  7. Angesichts gigantischer nationaler und europäischer Milliardenprogramme sei es finanziell und politisch kaum noch verkraftbar, abermals sehr hohe zusätzliche Verpflichtungen für andere Länder zu übernehmen.
  8. Strukturelle und soziale Unterschiede zwischen den Staaten – z.B. hinsichtlich des Renten-Eintrittsalters (in Frankreich, Italien bei 62 Jahren, in Spanien bei 65, in Deutschland bei 67), bei Versorgungsansprüchen, 35-Stunden-Woche in Frankreich etc. - dürften nicht über dauerhafte Finanztransfers durch andere Staaten subventioniert werden.
  9. Für die Unterstützung hochverschuldeter Staaten müsse es klare Voraussetzungen geben, wozu auch eine überzeugende ökonomische und nicht nur moralische Begründung gehöre sowie eine Zweckbindung und Kontrolle der Verwendung durch die, die mithaften. Wer Hilfen für den Süden fordere, dürfe zudem Ostmittel- und Südosteuropa nicht vergessen, wo ebenfalls ein tiefer Sturz drohe.
  10. Gemeinschaftsanleihen wie früher seien heute durch den horrenden Anstieg der Staatsverschuldung, die mangelnde Schuldenkonsolidierung, den Wegfall des Ausgleichsmechanismus flexibler Wechselkurse und sehr viel höhere Finanzvolumina kein geeignetes Kriseninstrument. Diese gebe es zudem nicht einmal in Deutschland. (Allerdings gibt dort den Finanzausgleich zwischen den Ländern.)
  11. Im Unterschied zur USA oder Japan könnten im Euro-Raum einzelne Staaten von den EZB Anleihekäufen und gemeinsamen Anleihen profitieren, betrieben aber separat ihre eigene Finanz- und Wirtschaftspolitik weiter.
  12. Bei jedem weiteren Schritt müsse man eine Vorstellung entwickeln, wie man den Weg zurückfindet aus den explodierenden Staatsverschuldungen und Zentralbankbilanzen.
  13. Mit dem Hinweis auf das Londoner Schuldenabkommen von 1953 wird Geschichte in einem damals spezifischen Kontext zur politischen Konditionierung der dritten Nachfolgegeneration herangezogen, um heute eigene Interessen durchzusetzen. Nichts desto trotz muss sich Deutschland dieser Argumentationsweise stellen.

 

4. Worum geht es: Die Verbindung von Haftung und Kontrolle

Bedenkt man die Argumente pro und contra so wird deutlich: Es geht hier nicht darum, ob die EU weiter existiert oder nicht, ob sie zusammensteht oder jeder seine Wege geht, ob Solidarität geübt wird oder nationaler Egoismus. Das sind interessegeleitete Gegenüberstellungen, die gerade in Krisenzeiten nicht zu einer vernünftigen gemeinsamen und kompromissorientierten Abwägung beitragen. Gestritten wird vielmehr darum, in welcher Form die Union auf die Krise reagiert, wie sie konkret im Rahmen der Verträge und Möglichkeiten nach Maßgabe tatsächlicher Bedürftigkeit und Not zusammensteht und Solidarität zeigt.

Dabei ist es eigentlich selbstverständlich, dass die Modalitäten der Hilfsleistung, sofern sie den normalerweise vertraglich geschuldeten Umfang überschreiten, nicht primär durch die Hilfsempfänger vorgegeben werden, sondern in gemeinsamer Absprache letztendlich durch die Hilfsspender bestimmt werden. Wenn es aber um Änderungen der Finanzstruktur geht, ist der ordnungspolitische, verfassungsmäßige Kernpunkt dabei der Grundsatz der „Einheit von Entscheidung/Risiko, Haftung und Kontrolle“.

Der Euro ist immerhin mit dem ausdrücklichen politischen und vertraglichen Versprechen eingeführt worden, eben keine „Transfer- und Schuldenunion“ zu werden. 18 Jahre später kommt man – wie im ersten Teil geschildert - kaum um die Feststellung umhin, dass der Euro-Raum genau das in vielfältiger Weise geworden ist; gewiss aus Notsituationen heraus; man könnte aber auch sagen: getrieben von eigenen Versäumnissen und den Gesetzmäßigkeiten des Finanzmarktes - und unter dem „moralischen“ Leitmotiv von Hilfe und Solidarität.

Bisher wurde diese Hilfe finanzpolitisch vor allem über die EZB sowie - unter strengen Auflagen - über zeitlich begrenzte Hilfsprogramme und dann durch die neue Institution des ESM gewährt. Was jetzt zur Debatte steht, ist die Ausweitung der bisher schon realiter betriebenen Staatsfinanzierung auch auf die EU, die durch gemeinsame „Staatsanleihen“ in die Lage versetzt werden soll, Mitgliedern Geld zukommen zu lassen, über dessen Verwendung diese nach deren Willen souverän entscheiden können sollen.

Dies hieße: die finanzielle Haftung für diese neuen Schulden wird vergemeinschaftet, die Entscheidung und Kontrolle über die Finanzen bleibt jedoch national, der fundamentale Grundsatz der „Einheit von Entscheidung, Haftung und Kontrolle“ würde aufgegeben. Das ist der entscheidende kritische Punkt. Denn diese Einheit ist „von elementarer Bedeutung“. Sie fördert „verantwortliches Handeln und umsichtige Entscheidungen …, deren Konsequenzen nicht auf Kosten anderer gehen.“ Insofern ist sie ein „Eckpfeiler der Marktwirtschaft“. Solange im Gegenzug zur Vergemeinschaftung von Schulden und Haftung nicht auch dementsprechend die nationale Haushaltssouveränität aufgeben und direkte Eingriffsrechte der Union verankert werden, wozu die Bereitschaft nicht besteht, gerät die Union immer mehr in eine verfassungsmäßige Schieflage.[31] Nur wenn diese Bereitschaft bestünde, hätte der britische Historiker Timothy Garden Ash Recht, wenn er meint, „die Vergemeinschaftung der Schulden“ sei die „logische Folge der Europäischen Währungsunion“.[32]

Eigenverantwortliche Entscheidung, Haftung und Kontrolle sind nicht voneinander zu trennen. Eine staatliche Haftung ohne die Möglichkeit, schädlichen Folgen entgegenwirken zu können, ist gegenüber dem Souverän kaum zu vertreten. Andersherum führt die vom eigenen Verschulden unabhängige Haftungsübernahme durch andere Staaten absehbar zu politisch ineffizienten Ergebnissen, wenn dadurch das Interesse an der Vermeidung von schädlichen Folgen – wie z.B. höhere Schulden, zu hohe Ausgaben - zu gering ist. Davon kann regelmäßig ausgegangen werden, wenn ein Dritter mit zum Verlustausgleich verpflichtet ist, ohne die Möglichkeit zu haben, die verlustträchtigen Entscheidungen beeinflussen und kontrollieren zu können. Die Anstrengung zur Vorsorge des Staates, Verluste einzudämmen und Gewinne zu ermöglichen, was effizient und notwendig wäre, fällt dann nur schwach aus oder unterbleibt ganz. Es bestehen Anzeichen (siehe Teil eins), dass sich diese Interdependenzen bereits seit geraumer Zeit durch die „unkonventionellen“ Maßnahmen der EZB im Euro-Raum entfalten und nun einen weiteren Anschub durch die Corona-Krise bekommen könnten.[33]

Aufgrund dieser ordnungspolitischen Gründe und der Erfahrungen der vergangenen Jahre mit der Konsolidierung des Euro-Raums birgt die Debatte um Gemeinschaftsanleihen erheblichen Sprengstoff. Im Norden ist das Misstrauen wegen der nicht gehaltenen Stabilitätsversprechen groß, im Süden der Unmut über nicht gehaltene Wohlstandsversprechen. Die existenzielle Verbindung vor allem mit dem Schicksal Italiens zur Erpressung zu nutzen, wie das einige Stimmen in Italien tun, trägt nicht zur Vertrauensbildung bei.[34]

Andererseits gibt es das gemeinsame Anliegen, in der Notsituation effizient zu helfen. Um den Befürchtungen entgegenzutreten, argumentieren deshalb etliche Befürworter von „Corona-Bonds“ im Sinne einer sachlich und zeitlich begrenzten, einmaligen Notmaßnahme, deren Abwicklung über den schon bestehenden ESM laufen könne. Fraglich ist, ob die durch den Ausnahmezustand gerechtfertigten Not-Maßnahmen tatsächlich „sachlich und zeitlich begrenzt“ bleiben. Damit ist man aber nur noch wenig entfernt von den Befürwortern einer Hilfeleistung über bestehende europäische Institutionen, die u.a. an die Nutzung und Aufstockung des ESM denken.

Wenn man nicht wüsste, dass ordnungspolitisch etwas mehr dahinter steht, könnte man also beim Kampf um die „Corona-Bonds“ glatt von einem Streit „um des Kaisers Bart“ sprechen. Jetzt geht es um Soforthilfe. Auf welchen Weg die EU aber aus der Krise herauskommt und zu Stabilität und Wachstum zurückfindet, wird mindestens ebenso entscheidend sein. Dafür sind neben Solidarität auch Subsidiarität, Gemeinwohlorientierung und die Beachtung marktwirtschaftlicher Prinzipien unverzichtbar.[35]

 

Der Autor gibt hier seine persönliche Auffassung wieder.

 

Anmerkungen

[1] Bei der Einführung als Noten-Währung 2002 gehörten 12 Staaten dazu: Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Österreich, Portugal, Spanien. Von 2007 bis 2015 kamen Slowenien, Malta, Zypern, die Slowakei, Estland, Lettland, Litauen dazu. Großbritannien, Dänemark und Schweden haben sich gegen den Euro entschieden. Die übrigen sechs mittelosteuropäischen Staaten sollen dem Euro beitreten, wenn sie die Konvergenzkriterien erfüllen.

[2] Vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Energie: Fakten zum deutschen Außenhandel: https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Publikationen/Aussenwirtschaft/fakten-zum-deuschen-aussenhandel.pdf?__blob=publicationFile&v=34

[3] Siehe dazu Bundesbankpräsident Jens Weidmann in einer Rede in Italien 2015: „Verantwortung und Haftung in einer Währungsunion“: https://www.bundesbank.de/de/presse/reden/verantwortung-und-haftung-in-einer-waehrungsunion-664382#tar-2

[4] Die vier Regelungen finden sich in Art. 125, 126, 140 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU.

[5] Vgl. Dietmar Neuerer: Was kostet uns der Euro? Nichts! In: Handelsblatt vom 5.9.2012: https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/die-kohl-cdu-und-die-krise-was-kostet-uns-der-euro-nichts/7098136.html

[6] Vgl. Fragen und Antworten zum ESM: https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/FAQ/2012-08-16-esm-faq.html

[7] AaO. Anm. 3.

[8] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/163692/umfrage/staatsverschuldung-in-der-eu-in-prozent-des-bruttoinlandsprodukts/

[9] Alle Zahlen nach der Eurostat-Statistik.

[10] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/188766/umfrage/bruttoinlandsprodukt-bip-pro-kopf-in-den-eu-laendern/

[11] https://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/europa/70549/entwicklung-des-bip.

[12] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/249045/umfrage/anteil-der-europaeischen-union-eu-am-globalen-bruttoinlandsprodukt-bip/

[13] Vgl. Christian Siedenbiedel: Deutscher Target-2-Saldo steigt, in: FAZ vom 8.4.2020, S. 19; ders.: Der geheimnisvolle Rückgang des Targetsaldos, in: FAZ vom 4.122019, S. 27 (hier ging es um einen Rückgang von 915 auf 837 Mrd. Euro). Insgesamt dazu Hans-Werner Sinn: Die Target-Falle. Gefahren für unser Geld und unsere Kinder, München 2012.

[14] EZB: Konsolidierter Ausweis des Eurosystems vom 3.4.2020 vom 3.4.2020: https://www.ecb.europa.eu/press/pr/wfs/2020/html/ecb.fst200408.de.html

[15] Zum aktuellen Anteil Deutschlands am Kapital der EZB:

https://www.ecb.europa.eu/press/pr/date/2020/html/ecb.pr200130_2~59d6ffffe1.de.html. Siehe auch Helmut Siekmann: Die Einstandspflicht der Bundesrepublik Deutschland für die Deutsche Bundesbank und die Europäische Zentralbank. Working Paper Series No. 120 (2017) 1-44, hg. v. Institute for Monetary and Financial Stability der Goethe Universität Frankfurt/M.: https://www.imfs-frankfurt.de/fileadmin/user_upload/IMFS_WP_120.pdf. Darin heißt es S. 43f.: “Ungeklärt ist, wie der Bund bei der Annahme von Zahlungspflichten aus einer Anstaltslast diese wirksam begrenzen kann. Er hat wegen der umfassenden Garantie der Unabhängigkeit des ESZB (Europäisches System der Zentralbanken, Anm. d. Verf.) und seiner Organwalter keine Möglichkeit, auf Art und Umfang der Käufe einzuwirken. Das anteilige, möglicherweise die Deutsche Bundesbank treffende Ausfallrisiko und die daraus dann folgenden Rekapitalisierungspflichten des Bundes bei Annahme einer Anstaltslast würden den Umfang des gesamten Bundeshaushalts um ein Mehrfaches übertreffen. Eine Rückführung der Tätigkeit des ESZB auf eine eng verstandene Geldpolitik, für welche die Unabhängigkeit aus guten Gründen gewährt worden ist, durch gerichtliche Kontrolle ist angesichts der jüngsten Rechtsprechung des EuGH nicht zu erwarten. Haftung und Kontrolle streben in gefährlichem Umfang auseinander.

[16] So Thomas Mayer: EZB-Geldflut und Corona-Bonds. Ökonom: Dem Euro droht das Schicksal des mexikanischen Pesos, in: Focus Online vom 13.4.2020: https://www.focus.de/finanzen/boerse/experten/ezb-geldflut-oekonom-dem-euro-droht-das-schicksal-des-mexikanischen-peso_id_11873653.html

[17] Vgl. Astrid Dörner, Katharina Kort: „Es gibt keine Grenzen“: EZB bringt beispielloses Rettungspaket auf den Weg, in: Handelsblatt vom 19.3.2020: https://www.handelsblatt.com/finanzen/geldpolitik/geldpolitik-es-gibt-keine-grenzen-ezb-bringt-beispielloses-rettungspaket-auf-den-weg/25659798.html?ticket=ST-5021242-YCyRFjRqGMRp21bJzchy-ap5

[18] AaO. Anm. 3.

[19] Vgl. Eric Garland: Reflections on the Balcerowicz Plan, in: Seszyty naukowe PWSZ w Płocku Nauki Ekonomiczne (Wiss. Hefte der Gewerbehochschule Plock Wirtschaftswissenschaften, t. XXI, 2015, S. 228 – 244.

[20] Vgl. Werner Mussler: Der Konflikt ums Corona-Paket ist beigelegt – vorerst, in: FAZ vom 11.4.2020, S. 22.

[21] Befürworter von Eurobonds sind: Italien, Frankreich, Spanien, Belgien, Griechenland, Portugal, Irland, Slowenien, Luxemburg; Gegner sind u.a. Deutschland, die Niederlande, Österreich und Finnland. Vgl. Daran scheitert der Corona-Kompromiss, in: FAZ vom 9.4.2020.

[22] Zu den Prinzipien Solidarität, Gemeinwohl und Subsidiarität vgl. Arno Anzenbacher: Christliche Sozialethik, Paderborn, München, Wien u.a. 1998, S. 196 – 221.

[23] Zu 1) – 6) vor allem Peter Bofinger, Sebastian Dullien, Gabriel Felbermayr, Michael Hüther u.a.: Europa muss jetzt finanziell zusammenstehen, in: FAZ vom 21.3.2020, S. 20; ähnlich ist die Argumentation in einer ganzseitigen Anzeige in der FAZ vom 31.3.2020 von zwölf italienischen Politikern, darunter 9 Bürgermeister großer Städte.

[24] So das Institut für Weltwirtschaft Kiel in einer Stellungnahme vom 6.4.2020: https://www.ifw-kiel.de/de/publikationen/medieninformationen/2020/coronabonds-eu-gemeinschaftsanleihen-sind-bewaehrtes-kriseninstrument/

[25] So der Vorsitzende der Konrad-Adenauer-Stiftung Norbert Lammert. Vgl. Robert Roßmann: Lammert kritisiert Merkels Widerstand gegen Corona-Bonds, in: Süddeutsche Zeitung vom 7.4.2020: https://www.sueddeutsche.de/politik/norbert-lammert-corona-bonds-merkel-1.4871400

[26] Die beiden Punkte werden in der Anzeige der italienischen Politiker in der FAZ vom 31.3.2020 genannt.

[27] Das schlägt der ehem. Chefvolkswirt der EZB, Jürgen Stark, vor: Wo ist Europa? In: FAZ vom 7.4.2020, S. 25.

[28] Vgl. Otmar Issing, ebenfalls früherer Chefvolkswirt der EZB: Der Notfall „Pandemie“ rechtfertigt nicht den Rechtsbruch, in: FAZ vom 24.3.20, S. 18.

[29] Vgl. ebd. Issing und aaO. Anm. 27 Stark.

[30] So Thomas Mayer, aaO. Anm. 16.

[31] Das führt Jens Weidmann, aaO. Anm. 3, detaillierter aus.

[32] Vgl. Timothy Garton Ash: Die Krise kann Europa stärken – wenn Deutschland das Nötige tut, in: Der Tagesspiegel vom 7.4.2020: https://www.tagesspiegel.de/politik/eu-muss-drei-tests-bestehen-die-krise-kann-europa-staerken-wenn-deutschland-das-noetige-tut/25720250.html

[33] So Helmut Siekmann, Einstandspflicht, aaO. Anm. 15, S. 42f.

[34] Vgl. Tobias Piller: Eine Zeit vor 18 Regierungen. Die Debatte in Italien über den Euro beschäftigt sich nicht nur mit Corona, in: FAZ vom 14.4.2020, S. 10: „Nun machen nationalistische Populisten Stimmung gegen europäische Regeln … Dem Rest Europas sagt man, sowohl einen Austritt als auch einen Zusammenbruch Italiens werde Europa nicht überleben“.

[35] Vgl. dazu den Vorschlag von Philipp Heimberg, Maximilian Krahé u.a.: Gleichwertige Lebensverhältnisse im Euroraum. Abgehängte Regionen müssen gezielt unterstützt werden, in: FAZ vom 14.4.2020, S. 18.

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