Die Ausgangslage: Stillstand und Abhängigkeit
Deutschland befindet in einer Phase ohne nennenswertes Wirtschaftswachstum. Die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie sinkt, Lieferketten sind fragil, und geopolitische Spannungen verschärfen die Lage. Die Abhängigkeit von wenigen globalen Akteuren, insbesondere China, ist dabei das größte Risiko. Kritische Rohstoffe wie Lithium, Kobalt und Graphit, die für Batterien und Schlüsseltechnologien unverzichtbar sind, stammen zu bis zu 90 Prozent aus dem Reich der Mitte. Hinzu kommen Exportkontrollen und strategische Maßnahmen, die den Zugang zu diesen Materialien erschweren.
Die Folge ist eine gefährliche Verwundbarkeit. Europa steht vor der Aufgabe, seine Rohstoffversorgung neu zu organisieren, um nicht in eine Situation zu geraten, in der wirtschaftliche und politische Handlungsfähigkeit eingeschränkt werden. Gleichzeitig muss die Transformation zur Klimaneutralität gelingen, ohne die industrielle Basis zu gefährden. Das Spannungsfeld zwischen Klimazielen, Wettbewerbsfähigkeit und Versorgungssicherheit prägt die gesamte Debatte.
Drei strategische Hebel für Europas Zukunft
Die Konferenz definierte drei zentrale Handlungsfelder, die über die Zukunft des Industriestandorts entscheiden:
Strategische Rohstoffpolitik
Europa ist rohstoffarm und muss eigene Vorkommen erschließen sowie Partnerschaften mit Drittstaaten ausbauen. Lithium im Oberrheingraben oder im norddeutschen Becken könnte ein Teil der Lösung sein, wenn Genehmigungsverfahren beschleunigt und Investitionen mobilisiert werden. Gleichzeitig gilt es, die gesamte Wertschöpfungskette von der Exploration über die Verarbeitung bis zum Recycling zu stärken.
Resiliente Lieferketten
Die Erfahrungen der vergangenen Jahre – von der Pandemie über den Ukraine-Krieg bis zu jüngsten chinesischen Exportkontrollen – haben gezeigt, wie verletzlich globale Strukturen sind. Single-Sourcing-Strategien sind ein Risiko, das sich Europa nicht mehr leisten kann. Diversifizierung, europäische Kooperation und strategische Lagerhaltung sind überfällig.
Kritische Infrastruktur und Energiesicherheit
Ohne stabile Energieversorgung und digitale Resilienz ist jede Wirtschaftspolitik Makulatur. Batteriespeicher, Netze und Steuerungssysteme werden zur Achillesferse – und zum geopolitischen Machtfaktor. Die Integration erneuerbarer Energien erfordert massive Investitionen in Speichertechnologien und intelligente Netze, die zugleich gegen Cyberangriffe geschützt sein müssen.
Europa zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Die Europäische Investitionsbank (EIB) spielt eine Schlüsselrolle bei der Finanzierung der Transformation. Sie investiert entlang der gesamten Wertschöpfungskette – vom Bergbau über Recycling bis zur Substitution kritischer Materialien. Zwei Milliarden Euro sind bereits für Rohstoffprojekte reserviert, mit der Option auf Aufstockung. Die Bank setzt auf Cleantech und Innovation, prüft Projekte nicht nur finanziell, sondern auch technologisch. Ziel ist eine integrierte europäische Wertschöpfungskette, die Abhängigkeiten reduziert und die Wettbewerbsfähigkeit stärkt.
Doch die Zeit drängt. Die geopolitische Lage ist volatil, die Märkte sind von Manipulationen geprägt, und die Vorstellung einer Rückkehr zur „heilen Welt“ ist illusorisch. Europa muss handeln – schnell, entschlossen und koordiniert.
Wachstumspolitik mit Tempo und Realitätssinn
Die Diskussion machte deutlich, dass Europa eine neue Wirtschaftspolitik braucht, die über reine Regulierung hinausgeht. Anreize für Investitionen, Output-Förderung statt bloßer Fabriksubventionen und eine Kapitalmarktunion sind zentrale Elemente. Beispiele aus den USA zeigen, wie es gehen kann: Der Inflation Reduction Act kombiniert Produktionsförderung mit Schutz vor Billigimporten und schafft damit Planungssicherheit für Unternehmen. Europa hingegen verharrt in Debatten über Zölle, ohne ein vergleichbares Instrumentarium aufzubauen.
Die Herausforderung liegt nicht nur in der Finanzierung, sondern auch in der Geschwindigkeit. Genehmigungsverfahren dauern oft Jahre, während andere Regionen längst Fakten schaffen. Ohne eine drastische Beschleunigung droht Europa den Anschluss zu verlieren.
Praxisbeispiele: Von Lithium bis Recycling
Die Panels boten konkrete Einblicke in Projekte, die Europas Rohstoffwende vorantreiben könnten:
Lithiumgewinnung aus Thermalwasser
Ein Unternehmen plant, Lithium aus Thermalwasser im Oberrheingraben zu gewinnen – CO₂-neutral und mit Potenzial, bis zu 40 Prozent des europäischen Bedarfs zu decken. Das Verfahren kombiniert Rohstoffgewinnung mit Energieproduktion und könnte ein Vorzeigemodell für nachhaltige Industriepolitik sein. Doch Finanzierung und Genehmigungen bremsen den Fortschritt.
Dauermagnete für Hightech und Rüstung
Ein deutscher Hersteller produziert Dauermagnete, die in Medizintechnik, Elektromobilität und Verteidigung unverzichtbar sind. 90 Prozent der benötigten Rohstoffe stammen aus China. Die Abhängigkeit ist so groß, dass ein Ausfall der Lieferkette ganze Industriezweige lahmlegen könnte. Strategische Partnerschaften und europäische Förderprogramme sind dringend erforderlich.
Batterierecycling als Schlüssel zur Kreislaufwirtschaft
Ein Start-up aus Aachen setzt auf Batterierecycling mit über 90 Prozent Rückgewinnungsrate. Das Unternehmen will Schwarzmasse, ein Zwischenprodukt aus geschredderten Batterien, in Europa verarbeiten. Derzeit werden jedoch über 90 Prozent dieser Materialien nach China exportiert. Ohne klare Regeln und Anreize für lokale Verarbeitung bleibt Kreislaufwirtschaft ein Lippenbekenntnis.
Made in Europe – mehr als ein Label
Die Forderung nach einer europäischen Plattform für Rohstoffe, Recycling und Batterietechnologien zieht sich durch alle Diskussionen. Es geht nicht nur um die Produktion, sondern um die gesamte Wertschöpfungskette – von der Exploration über die Verarbeitung bis zur Softwaresteuerung. Resilienz hat ein Preisschild, doch die Kosten sind geringer als die Risiken einer fortgesetzten Abhängigkeit. Europa muss den Rahmen schaffen, in dem Unternehmen investieren können, ohne im globalen Wettbewerb ins Hintertreffen zu geraten.
Energiesicherheit und Cyberrisiken: Die unterschätzte Gefahr
Bis 2030 sollen 116 Gigawatt an Großbatteriespeichern ins europäische Netz integriert werden – mehr als die Leistung aller Atomkraftwerke. Diese Speicher sind unverzichtbar für die Integration erneuerbarer Energien und die Stabilität der Netze. Doch 75 Prozent des Marktes werden von chinesischen Herstellern kontrolliert. Die Abhängigkeit ist nicht nur ein wirtschaftliches, sondern auch ein sicherheitspolitisches Risiko.
Batteriespeicher sind Teil der kritischen Infrastruktur. Hersteller behalten oft direkten Steuerungszugriff auf ihre Systeme – ein potenzielles Einfallstor für Cyberangriffe. Die Vorstellung, dass geopolitische Rivalen Zugriff auf zentrale Elemente der europäischen Energieversorgung haben, ist alarmierend. Europa muss digitale Resilienz genauso ernst nehmen wie physische Sicherheit. Dazu gehören klare Standards für Software, verpflichtende Sicherheitsprüfungen und eine europäische Sicherheitsarchitektur, die Cyberrisiken systematisch adressiert.
Menschenrechte und Nachhaltigkeit: Verantwortung im Rohstoffboom
Neben geopolitischen und wirtschaftlichen Fragen rückt die Verantwortung in den Vordergrund. Bergbau ist ein Hochrisikosektor, oft verbunden mit Umweltzerstörung und Menschenrechtsverletzungen. Europa muss sicherstellen, dass die Rohstoffpartnerschaften mit Drittstaaten nicht zu neuen Abhängigkeiten führen, sondern auf Augenhöhe gestaltet werden. Das bedeutet Investitionen in lokale Wertschöpfung, die Einhaltung von ESG-Standards und transparente Lieferketten.
Unternehmen setzen zunehmend auf Nachhaltigkeitsberichte und Zertifizierungen, doch die Umsetzung bleibt eine Herausforderung. Die Nachfrage nach kritischen Rohstoffen wird das Angebot in den kommenden Jahren deutlich übersteigen. Recycling kann einen Teil des Bedarfs decken, aber nicht die gesamte Lücke schließen. Der Ausbau von Bergbauprojekten ist unvermeidlich – und muss unter strengen ökologischen und sozialen Kriterien erfolgen.
Fazit: Dringlichkeit statt Wunschdenken
Die Konferenz machte deutlich: Europa steht vor einer Rohstoffwende, die über Wohlstand und Sicherheit entscheidet. Strategien sind vorhanden, doch Tempo und Konsequenz fehlen. Die geopolitische Lage erlaubt keine Verzögerungen. Wer glaubt, die Globalisierung kehre in ihre alte Form zurück, irrt. Europa muss sich neu positionieren – mit einer Industriepolitik, die Investitionen anreizt, mit Partnerschaften, die Standards sichern, und mit einer Sicherheitsarchitektur, die digitale und physische Resilienz gleichermaßen umfasst.
Die kommenden Jahre werden zeigen, ob Europa den Sprung schafft. Die Alternative wäre eine Abhängigkeit, die nicht nur wirtschaftliche, sondern auch politische Handlungsfähigkeit einschränkt. Unabhängigkeit kostet Geld, aber Abhängigkeit kostet Freiheit. Die Entscheidung darüber fällt jetzt.
Über diese Reihe
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