Ausgabe: 3/2018
Ai: Herr Professor Reckwitz, in Ihrem Buch „Die Gesellschaft der Singularitäten“ zeichnen Sie das Bild einer Gesellschaft, die sich geradezu obsessiv am Besonderen orientiert: ausgefallene Hobbys, individuelle Essgewohnheiten, eine durchgestylte Wohnung, der maßgeschneiderte Abenteuerurlaub – maximale Selbstverwirklichung scheint der einzige Maßstab für ein „gutes“ Leben zu sein. Ist für das Allgemeine, das Verbindende in unserer Gesellschaft überhaupt kein Platz mehr?
Andreas Reckwitz: In einen solchen pauschalen Kulturpessimismus will ich nicht verfallen. In der Tat untersuche ich in meinem Buch aber genau die sozialen Mechanismen, entlang derer sich diese Prozesse der Singularisierung, das heißt der Orientierung am Besonderen und Einzigartigen in den westlichen Gesellschaften in den letzten Jahrzehnten, verbreitet haben. Hier ist mehr als ein einfacher Individualismus am Werk. Nicht nur Individuen versuchen sich als besondere und nicht-austauschbare zu gestalten – sehr auffällig etwa in den digitalen Medien wie Instagram oder Facebook –, auch Dinge und Objekte, so die Güter des kulturellen Kapitalismus vom handwerklichen Einzelstück bis zur Netflix-Serie, wollen als einzigartige erlebt werden.
Ai: Von Hyperindividualismus zu sprechen würde also zu kurz greifen?
Andreas Reckwitz: Das in jedem Fall, denn auch räumliche Einheiten wie etwa Städte versuchen sich im globalen Wettbewerb als Einheiten mit besonderem Stadtbild, besonderer Atmosphäre zu gestalten. Oder nehmen Sie die Singularisierung zeitlicher Einheiten: weg von der Routine, hin zum Event, zum besonderen Moment oder zum Projekt. Schließlich beobachten wir im Zuge der „Gesellschaft der Singularitäten“ auch die paradoxe Profilierung kollektiver Einheiten als besondere. Auffällig ist das beispielsweise in den imagined communities wie etwa den regionalistischen Bewegungen zwischen Katalonien und Schottland: das eigene Volk mit besonderer Geschichte wird hier ebenfalls singularisiert und entfaltet Identifikationskraft. Die Singularisierung geht also weit über den „Individualismus“ der Individuen hinaus.
Ai: „Sei besonders!“ ist also gewissermaßen das Leitbild, an dem sich nicht nur jeder, sondern alles orientiert?
Andreas Reckwitz: Ja, wichtig ist allerdings zu sehen, dass die Orientierung am Besonderen und Einzigartigen selbst ein durch und durch gesellschaftlicher Prozess ist, bei dem Entitäten als singulär bewertet, hervorgebracht und erlebt werden. Fast alles in der spätmodernen Gesellschaft, was Identifikation und emotionale Befriedigung verspricht, bewegt sich in der Form des Singulären: von der Ferienreise über die attraktive Arbeitsstelle, die Liebesbeziehung, den attraktiven Wohnort bis zum politischen Projekt. Insgesamt verschieben sich damit die leitenden gesellschaftlichen Bewertungskriterien: Während in der klassischen Industriegesellschaft, welche die Zeit von den 1950er bis in die 70er Jahre prägte, Kriterien des Normalen und Standardisierten vorherrschten – der gleiche Lebensstandard, der gleiche Wohnort, die Volksparteien, die Massenkultur etc. –, haben sie sich mehr und mehr zum Bewertungskriterium des Besonderen verschoben. Denn Singularität verspricht Authentizität und Attraktivität. Das sind die Leitwerte der Spätmoderne. Was damit tatsächlich gesellschaftlich eher schwach bewertet wird und emotional wenig anspricht, ist Durchschnittlichkeit, Routine, Gleichförmigkeit.
Ai: Eine Gesellschaft, die sich derart grundlegend wandelt, tut das ja nicht einfach so. Wo verorten Sie die Ursachen der von Ihnen beschriebenen Entwicklung?
Andreas Reckwitz: Ich mache hier vor allem drei Ursachenkomplexe aus: einen ökonomischen, einen kulturellen und einen technologischen. Ökonomisch sind die Güter, die kulturellen Wert und Einzigartigkeit versprechen, ''der'' Wachstumsbereich der spätmodernen Wirtschaft – ob im Tourismus oder der Internetbranche, ob im Bildungssektor oder der Ernährung. Die klassische Industrieökonomie ist schon seit den 1970er Jahren an ihre Grenzen gestoßen und wird mehr und mehr von einem kognitiven, einem kulturellen oder immateriellen Kapitalismus überlagert. Erfolgreich ist hier, was eine Differenz markiert, was ein besonderes Erleben oder besondere Identifikationskraft verspricht. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass mittlerweile nur noch etwa zwanzig Prozent der Beschäftigten im Industriesektor arbeiten - früher waren es einmal fünfzig Prozent. Die Speerspitze der neuen Entwicklung ist hingegen die sogenannte Wissensökonomie. Aber die Singularisierung ist nicht nur das Ergebnis eines ökonomischen Wettbewerbs. Wichtig ist auch ein kultureller Faktor: Die spätmodernen Individuen ''wünschen'' für sich und ihr Leben nicht Standard, sondern Singularität. Sie werden geprägt von einem Lebensmotiv der erfolgreichen Selbstverwirklichung, der individuellen Entfaltung in der Fülle der Möglichkeiten. Dies ist das Ergebnis des tiefgreifenden Wertewandels, der seit den 1970er Jahren konstatiert werden kann: weg von den Pflicht- und Akzeptanzwerten hin zu den Selbstverwirklichungswerten. Dahinter steckt natürlich eine lange Tradition, aber erst mit der Entwicklung einer breiten neuen Mittelklasse, die meist höhere Bildungsabschlüsse hat und in der Wissensökonomie tätig ist, hat eine Lebensform der erfolgreichen Selbstverwirklichung auch eine gewichtige soziale Trägergruppe erhalten und ist damit zum ersten Mal kulturell dominant geworden. Schließlich gibt es auch eine technische Rahmenbedingung für die Singularisierung: die Digitalisierung. Die Algorithmen des Netzes adressieren via data tracking den Einzelnen in seiner Besonderheit, sie kreieren schließlich für den Einzelnen seine ganz eigene Konsum- und Informationswelt, die mit keiner anderen identisch ist. Hinzu kommt: das Internet spannt einen riesigen Raum von Bildern und Texten auf, die radikalen Gesetzen der Aufmerksamkeitsökonomie gehorchen. Hier reüssiert – ob als YouTube-Video oder Foto auf Instagram – nur, was gerade nicht so ist wie alles andere, sondern eine interessante Differenz markiert, in seiner Singularität anspricht.
Ai: Schaut man sich an, welche Dinge auf Plattformen wie Instagram oder Facebook reüssieren, dann sind das beispielsweise die neuen Designer-Turnschuhe, ein Abendessen im angesagten Sushi-Laden oder ein Selfie mit jemand mehr oder weniger Prominentem – alles Dinge, die man eher mit Szenevierteln wie dem Prenzlauer Berg in Berlin und nicht so sehr mit Kirchberg an der Iller oder irgendeinem anderen Örtchen auf dem platten Land in Verbindung bringt. Ist die „Gesellschaft der Singularitäten“ in erster Linie ein Phänomen der Großstädte?
Andreas Reckwitz: Ja und nein. Einerseits existieren die Singularisierungen unabhängig von der Stadt-Land-Frage. Am Internet nimmt jeder und jede teil und auch die Konsumverheißungen des kulturellen Kapitalismus dringen über diesen Weg bis ins letzte Dorf. Andererseits sind aber die Großstädte tatsächlich die Konzentrationspunkte der Gesellschaft der Singularitäten – was auch nicht überraschend ist, waren die Städte in der Geschichte der Neuzeit immer die Speerspitze für neue Entwicklungen. Das hat auch in diesem Fall Gründe: Wie gesagt, Trägergruppe ist die neue Mittelklasse, die Hochqualifizierten, und die ballen sich nun einmal in den Großstädten – allein schon weil diese Studienplätze und Jobs in der Wissensökonomie bieten. Die Großstädte bieten zugleich natürlich eine besonders breite Palette von Möglichkeiten singulärer Güter im weitesten Sinne: Möglichkeiten der Hoch- und Szene-Kultur, sehr unterschiedliche Schulangebote für die Kinder, Gastronomie verschiedener Couleur, Bewegungsangebote von Tai Chi bis Tango etc. etc. Der Einfluss der globalen Kultur ist in den „kosmopolitischen“ Großstädten besonders stark.
Ai: Aber kann nicht auch ein Dorf Ort der Selbstverwirklichung sein?
Andreas Reckwitz: Sicherlich, das ist ja ein ebenso altes wie aktuelles Thema. Um 1900 gab es die Lebensreformbewegung, die die Sehnsucht der Großstädter nach einem „Zurück aufs Land“ nährte. Auch heute gibt es Tendenzen der Metropolenbewohner, sich ein zweites Standbein auf dem Land zu schaffen oder auch ganz überzusiedeln – etwa von Berlin in die brandenburgische Landschaft. Man erwartet dann vom Land das, was man in der Stadt vermisst: Natur und Ruhe, möglichst alles in „einzigartiger“ Umgebung. Allerdings scheinen bis auf Weiteres einer solchen neuen Stadtflucht praktische Grenzen gesetzt zu sein: Die hochqualifizierten Berufe der Wissensökonomie konzentrieren sich in den Städten.
Ai: Konkurrenz herrscht also nicht so sehr zwischen Stadt und Land, sondern eher im Verhältnis von Städten untereinander?
Andreas Reckwitz: In der Tat, in der Industriegesellschaft waren die Industriestädte verhältnismäßig austauschbar. In der postindustriellen Gesellschaft hingegen feilen die Städte an ihrem Profil als einzigartig: ob Hamburg oder das Ruhrgebiet, ob Marseille oder Kopenhagen. Das ist nicht nur eine Frage des Stadtmarketings, sondern auch der baulichen Gestaltung der Städte selbst. Warum tun sie das? Hintergrund ist wiederum vor allem die große Bedeutung der neuen, gut ausgebildeten Mittelklasse in ihrer großen räumlichen Mobilität, auch die Mobilität der Arbeitsplätze der Hochqualifizierten. Die Städte befinden sich hier in einem Attraktivitätswettbewerb um Bewohner, Besucher und Unternehmensansiedlungen. Es reüssiert, wer als Stadt hier eine entsprechende Lebensqualität bieten kann, wer erfolgreich eine „Eigenlogik“ entwickelt, wie es Martina Löw in „Soziologie der Städte“ nennt. Entsprechend erleben wir auch auf der räumlichen Ebene in der Spätmoderne eine Polarisierung: zwischen den Boomtowns und den abgehängten Regionen. Die Boomtowns leiden inzwischen allerdings unter den Folgen ihres Erfolgs als „singuläre“ Orte: Überfüllung, Überlastung, hohe Mietpreise etc.
Ai: Sie haben gerade Hamburg, das Ruhrgebiet, Marseille und Kopenhagen erwähnt. Heißt das, dass wir dem Phänomen der Singularisierung vor allem in Europa beziehungsweise dem so genannten Westen begegnen?
Andreas Reckwitz: Ja und nein. Zunächst einmal ist die Transformation der Singularisierung tatsächlich auf die westlichen Gesellschaften zentriert: Sie waren die ersten Industriegesellschaften und sind nun die ersten postindustriellen Gesellschaften. Dementsprechend ist auch der genannte Städtewettbewerb hier besonders intensiv. Aber: mit dem rasanten sozialen Wandel in einigen der Schwellenländer beginnen dort offenbar auch Singularisierungsprozesse zu greifen. Man denke an Metropolen wie Shanghai, Singapur oder die Städte in den Vereinigten Arabischen Emiraten.
Ai: Die Singularisierung macht sich also auch in Asien bemerkbar, obwohl das Kollektiv hier traditionell einen deutlich höheren Stellenwert genießt?
Andreas Reckwitz: Das ist eine wichtige Frage und um sie beantworten zu können, wären eigene Untersuchungen nötig. Den westlichen Individualismus vom ostasiatischen Kollektivismus zu unterscheiden, hat ja eine lange Tradition, aber man muss sich hüten, hier heute noch geschlossene „Kulturkreise“ vorauszusetzen, die wie Kugeln unbeeinflusst nebeneinander stünden. Es gibt ja massive Einflüsse des kulturellen Kapitalismus und der digitalen Aufmerksamkeitsökonomie etwa in Japan, Südkorea oder auch den chinesischen Metropolen. Vermutlich wird es hier auf hybride Mischungen zwischen Singularismus und Elementen aus dem kollektivistischen Erbe dieser Kulturen hinauslaufen.
Ai: Nun hat das Phänomen der Singularisierung ja noch eine weitere Dimension: Selbstverwirklichung ist schließlich nicht unbedingt das, worauf sich gesellschaftlicher Zusammenhalt gründet. Und selbst wenn manch einer möglicherweise naserümpfend auf Dinge wie den sonntäglichen Kirchgang, Feuerwehrfeste und nachbarschaftliches Miteinander blickt, erfüllen solche sozialen Praktiken doch auch wichtige gesellschaftliche Funktionen. Deshalb meine Frage: Welchen Preis zahlt eine Gesellschaft, in der solche Dinge offenbar zunehmend verloren gehen?
Andreas Reckwitz: Man muss die Gesellschaft der Singularitäten in der Tat ambivalent bewerten. Sie hat Vorzüge und sie hat Kosten. Das Leben nach den Kriterien der erfolgreichen Selbstverwirklichung enthält hohe Chancen individueller Befriedigung und von Lebensqualität, mehr als in der klassischen Industriegesellschaft. Aber es gibt Gewinner und Verlierer und es gibt gesellschaftliche Strukturen, die in die Defensive geraten. Die Industriegesellschaft hatte soziale Anerkennung verhältnismäßig gleichmäßig verteilt: fast alle waren Mittelschicht. In der postindustriellen Gesellschaft setzt eine Polarisierung ein. Im Zuge der Bildungsexpansion steigt eine Gruppe auf: die ambitionierte, urbane neue Mittelklasse. Es steigt aber auch eine Gruppe ab: die neue Unterklasse der Niedrigqualifizierten, häufig in den einfachen Dienstleistungen beschäftigt oder außerhalb des Arbeitsmarktes. Dazwischen gibt es die alte Mittelklasse, die sich auch partiell in der kulturellen Defensive sieht, eher die Lebensform der alten Industriegesellschaft vertritt. „Abgehängtsein“ nimmt verschiedene Formen an. In diesen drei Gruppen lebt man in ganz verschiedenen Welten, hat diametral entgegengesetzte Lebensgefühle. Die politische Öffentlichkeit müsste mit diesen Differenzen umgehen, aber sie steckt selbst in der Krise: Im Zuge der Digitalisierung löst sich die „allgemeine Öffentlichkeit“, die noch Fixpunkte wie Tageszeitung oder Fernsehen hatte, die alle benutzten, auf: Die politische Kommunikation wird im Netz selbst „singularisiert“. Es entstehen die berüchtigten Filterblasen.
Ai: Die Volksparteien beschreiben Sie in diesem Zusammenhang als „Sachverwalterinnen des Allgemeinen“, die in einer „Gesellschaft der Singularitäten“ fast zwangsläufig in die Krise geraten. Sind Volksparteien aus Ihrer Sicht Relikte der Vergangenheit?
Andreas Reckwitz: Für die „Herrschaft des Allgemeinen“ der Industriegesellschaften waren die Volksparteien charakteristisch. In einer ohnehin recht homogenen Gesellschaft konnten sie die Interessen verschiedener Milieus zusammenbinden. Tatsächlich findet nun seit den 1980er Jahren mit dem gesellschaftlichen auch ein politischer Strukturwandel statt. Eine Dimension ist die Singularisierung des Parteiensystems. Wenn man nach Skandinavien, in die Niederlande oder jüngst auch nach Frankreich schaut, wird es besonders deutlich: Es sind eine Vielzahl neuer Parteien entstanden, die engere Milieus adressieren, dort aber große Identifikationskraft entfalten. Die Volksparteien – die Konservativen und die Sozialdemokraten – verlieren dabei.
Ai: Wenn Sie Berater einer Volkspartei wären, welche Strategie würden Sie dann empfehlen: den Markenkern schärfen und sich auf die Stammwählerschaft konzentrieren? Es ließe sich schließlich auch argumentieren, dass gerade die „Gesellschaft der Singularitäten“ dringend auf politische Kräfte angewiesen ist, die das Allgemeine, das Verbindende wieder in den Vordergrund rücken.
Andreas Reckwitz: Es gibt zwei Möglichkeiten für ein solches singularisiertes Parteiensystem: entweder findet eine Polarisierung statt, in der jeder auf sein „Alleinstellungsmerkmal“ pocht oder aber eine neue Kultur des Kompromisses zwischen den vielen, kleinen Segmenten entsteht. Dann ist es fast gleichgültig, ob diese Kompromisse innerhalb einzelner, großer Parteien (Modell Volkspartei) oder zwischen vielen kleinen Parteien stattfinden. Den Volksparteien kann man im Übrigen nicht einfach raten, sich auf ihre Stammwählerschaft zu konzentrieren. Denn dass diese erodiert, ist ja gerade die Ursache ihres Problems.
Generell aber stellt sich gerade für die spätmoderne Politik die Frage nach einer Renaissance des Allgemeinen: Die Gesellschaft singularisiert sich rasant – die Wirtschaft, die Technik, die Lebensstile, aber muss die Politik hier nicht auch ausgleichend wirken, indem sie auf allgemeine und allgemeingültige Rahmenbedingungen setzt? Dies berührt die „soziale Frage“ ebenso wie die „kulturelle Frage“: die Frage der Sicherung von Infrastrukturen, die Partizipation an sozialen Gütern und Bildung für alle, die Sicherung von kulturellen Grundstandards oder auch einer allgemeinen Zivilität im Internet. Die Frage, welche Form eine Politik des Allgemeinen im Rahmen einer Gesellschaft der Singularitäten annehmen kann, ist die zentrale Frage der Politik der Zukunft.
Das Gespräch führte Sebastian Enskat.
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