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Auslandsinformationen

Aus zwei mach eins!

von Prof. Dr. Ulrich Karpen

Wiedervereinigung, Integration und Rechtsvereinheitlichung – Deutschland und Südkorea im Vergleich

Während die deutsche Wiedervereinigung bereits mehr als ein Vierteljahrhundert zurückliegt, ist Korea noch immer geteilt. Vor diesem Hintergrund erörtert der Beitrag, wie sich die Wiedervereinigung eines Landes ganz konkret bewerkstelligen lässt und geht dabei unter anderem der Frage nach, inwiefern Deutschland als Vorbild für eine mögliche Wiedervereinigung der beiden Koreas dienen könnte.

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2014 stattete die Präsidentin von Südkorea Geun-hye Park Deutschland einen Staatsbesuch ab, der vom deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck im Oktober des folgenden Jahres erwidert wurde. Beide Präsidenten stellten in ihren Reden weitreichende Überlegungen zur 1990 vollzogenen Wiedervereinigung Deutschlands und zu einer möglichen Wiedervereinigung beider Teile Koreas an. Daran anknüpfend beschäftigt sich der vorliegende Beitrag mit den folgenden vier Fragen:

  • Was soll und kann mit der Wiedervereinigung eines Landes erreicht werden?
  • Wie lässt sich die zu einer Wiedervereinigung zwingend erforderliche Integration des Volkes erreichen?
  • Welche Rolle spielt das Recht als Instrument und Ergebnis eines Rechtsvereinigungsprozesses?
  • Wie gelang die Schaffung einer einheitlichen Rechtsordnung in Deutschland und wie könnte dies auch in Korea gelingen?

Der Wiedervereinigungsauftrag

Die Wiedervereinigung Deutschlands war seit der Spaltung des Landes 1949 ein erstrangiges verfassungsrechtliches Staatsziel. Das Grundgesetz enthielt in seiner Präambel die Formel, dass das verfassunggebende Teilvolk West-Deutschlands „auch für jene mitgehandelt hat, denen mitzuwirken versagt war. Das gesamte deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden“. Das Bundesverfassungsgericht hatte dies als verfassungsrechtlich bindende Pflicht aller Staatsorgane integriert. Die erste Verfassung der DDR von 1949 enthielt diesen Auftrag nicht, erkannte aber immerhin an, dass es „nur eine deutsche Staatsangehörigkeit gebe“. Dieser Hinweis auf das „ganze Deutschland“ entfiel im Zuge späterer Verfassungsänderungen.

In der Präambel der Republik Korea – inhaltlich ähnlich dem Grundgesetz – heißt es demgegenüber, das koreanische Volk habe den Auftrag einer demokratischen Reform und friedlichen Wiedervereinigung des Heimatlandes übernommen. Es habe beschlossen, die nationale Einheit mit Gerechtigkeit, Humanität und brüderlicher Liebe herbeizuführen. Ohne die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse Nordkoreas zu verkennen, muss bemerkt werden, dass Kim-Il-Sung am 14. August 1960 eine „Konföderation des Südens und des Nordens“ vorschlug. Die Kerninhalte dieses Vorschlages einer „demokratischen föderativen Republik Koryo“ wurden auf dem Parteitag am 10. Oktober 1980 bekräftigt und sind bis heute für die offizielle Wiedervereinigungskonzeption der nordkoreanischen Regierung gültig. Der Begriff der Konföderation bezieht sich auf einen vertraglichen Zusammenschluss selbständiger Einheiten, die nach außen hin gemeinsam auftreten, ihre Souveränität aber behalten. Die Konföderation mag ein Übergangsstatus zu einer Föderation, also einem Bundesstaat, sein, der ein einheitliches gegliedertes Staatsgefüge darstellt.

Wie der Weg zur Einheit eines oder mehrerer Staaten verlaufen kann, zeigt exemplarisch die Präambel der Europäischen Union nach dem Lissaboner Vertrag vom 9. März 2010 und des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union vom selben Datum. Danach sind die vertragsschließenden Mitgliedstaaten übereingekommen, besser zu kooperieren

  • in dem festen Willen, die Grundlagen für einen inneren Zusammenschluss der Völker zu schaffen,
  • entschlossen, den mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaften eingeleiteten Prozess der Europäischen Integration auf eine neue Stufe zu heben,
  • eingedenk der historischen Bedeutung der Überwindung der Teilung des europäischen Kontinents und der Notwendigkeit, feste Grundlagen für die Gestaltung des zukünftigen Europas zu schaffen, und
  • entschlossen, die Stärkung und Konvergenz ihrer Volkswirtschaften herbeizuführen und eine Wirtschafts- und Währungsunion zu errichten.

Integration

Eine „wirkliche“ Einheit eines Staates – in welcher Form auch immer – kann nur entstehen, wenn der Prozess der Integration des Volkes gelingt. Das integrierte Volk versteht sich als Wertegemeinschaft, als Geschichts- und Schicksalsgemeinschaft, als Lebens-, Arbeits- und Wirtschaftsgemeinschaft – und nicht zuletzt als Rechtsgemeinschaft. Es bildet sich eine gemeinsame Identität, die von den Institutionen und der Verfassung gestützt wird. Daraus ergibt sich häufig ein starkes nationales Gefühl, ein Patriotismus, wie er in Korea vor allem vor dem Hintergrund einer langen, stolzen Geschichte vorherrscht. Das Deutschland der Kriegskindergeneration hatte eine solche stolze Geschichtstradition nicht, weil es auf einer historischen Katastrophe, einem Kulturbruch, aufbauen musste. Ein gut gemeinter „Verfassungspatriotismus“ im Sinne eines „Seid stolz auf euer Grundgesetz!“ war eine Idee, die letztlich nicht Fuß fasste. Denn Integration vollzieht sich im Herzen. Will man die wichtigsten Integrationsfaktoren auf einen Begriff bringen, kann man wieder auf die Präambel des Vertrages über die Europäische Union zurückgreifen: „Schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben“. Greift man auf die ganz praktischen Forderungen nach Eingliederung von Asylbewerbern, Bürgerkriegsflüchtlingen und Wirtschaftsmigranten in Deutschland zurück, so fordert unser Land nach dem Aufenthaltsgesetz, früher Ausländergesetz, hinreichende Sprachkenntnisse, das Bekenntnis zur freiheitlich demokratischen Grundordnung, gute Kenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung sowie der Lebensverhältnisse. Eine vollständige kulturelle Integration, die auch Religion, Literatur und Kunst umfasst, wollen wir nicht: Hier gilt der Grundsatz der Pluralität in der Einheit des Volkes.

Jedes Land hat seine eigenen, historisch gewachsenen Integrationsfaktoren. Folgende Faktoren waren vor allem in ihrer Entstehungszeit für die Bundesrepublik wesentlich:

  • die gemeinsame Bewältigung der Vergangenheit, insbesondere der beiden Weltkriege;
  • die soziale Marktwirtschaft, zu deren Erfolg Gewerkschaften und Arbeitgeber besonders beigetragen haben;
  • die Verfassung, einschließlich des hoch anerkannten Verfassungsgerichts,
  • starke, teilweise staatsfinanzierte Parteien
  • eine gute Regierung und Verwaltung (good governance), vor allem auch auf der Gemeindeebene;
  • der starke Einfluss der gefestigten Demokratien England und USA.
Hier zeigt sich einmal mehr: Integration geht durch die Köpfe, nicht durch den Geldbeutel, vor allem ist sie im Herzen verankert.

Recht, Rechtsvergleichung, Rechtsvereinheitlichung

Recht ist ein Instrument der Integration, Rechtsakzeptanz und -verständnis sind eines ihrer Ergebnisse. Der Staat produziert durch seine Organe Recht. Um den Staat zu verstehen, muss man sein Recht verstehen – frei nach dem Motto: Sage mir, welches Recht dein Staat hat (Grundrechte, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Staatsorganisation usw.) und ich sage dir, in welcher Art Staat du lebst! Recht ist eine kulturelle Erscheinung, eine Normenordnung, die die soziale Realität prägt und von ihr geprägt wird. Gesellschaft und Recht entwickeln sich dynamisch mit der Zeit. Recht ist ein wichtiger Integrationsfaktor, es stiftet Identifizierung mit dem Staat. Soll Recht nicht nur „law in the books“ sein, muss es akzeptiert, verstanden und angewandt werden, als „law in action“ (Roscoe Pound). Als politischer und sozialer Faktor ist das Recht Gegenstand von Bildung und Ausbildung, es setzt Dialogkultur voraus und schult sie.

Um zwei Staaten – in welcher Form auch immer – zusammenzubringen, bedarf es der Rechtsanpassung und Vereinheitlichung, wie es z. B. in der Europäischen Union mit ihren (derzeit) 28 Mitgliedern seit Jahren geschieht. Rechtsanpassung setzt als ersten Schritt Rechtsvergleichung voraus. Rechtsvergleichung beginnt mit der genauen Kenntnis der beteiligten Rechtsnormen. Oft sind mit denselben Begriffen ganz verschiedene rechtliche Vorstellungen verknüpft. Jenseits der Oberfläche gilt es jedoch zu prüfen, wie das Recht in der Gesellschaft, bei den Bürgern verankert ist. Das ist Aufgabe der Rechtssoziologie, der Rechtstatsachenforschung und der Rechtsgeschichte. Es geht um die Aufdeckung der wechselseitigen Wirkungszusammenhänge zwischen Recht und Gesellschaft. Wie steuert das Recht menschliches Verhalten? Und wie reagiert das Recht auf politische, kulturelle, psychologische und demografische Wandlungen? Wie wird das Recht durch die Interessen politischer Macht, durch das Wirtschaftssystem, ethische Vorstellungen, Ideologien, die Agrarverfassung, die Organisation von Betrieben und Verbänden bestimmt? Man darf in diesem Zusammenhang keinesfalls bei Begriffen stehen bleiben, sondern muss auch Rechtsinstitute und ihre Funktionen betrachten. Welche Funktion hat das Parlament als Institution in dem System? Das „Eigentum“ ist ein Institut unserer Rechtsordnungen, aber als „individuelles Eigentum“ hat es andere Funktionen als „Volkseigentum“. Wie kann man einen Kredit durch ein Grundstück sichern – durch eine Hypothek oder eine Grundschuld? Wie werden Juristen, Richter und Rechtsanwälte im System ausgebildet? Wie ist die berufliche Praxis? Man wird beim Vergleich von Instituten und ihren Funktionen über alle Einzeldivergenzen hinweg immer Gemeinsamkeiten entdecken. Beim Makro- und Mikrovergleich von Rechtsordnungen wird man Unterschiede, aber auch einheitliche Rechtsgedanken finden.

Rechtsangleichung ist angewandte Rechtsvergleichung. Wenn zwei Länder (beispielsweise die Bundesrepublik und die DDR bzw. Süd- und Nordkorea) oder mehrere Länder (wie im Fall der Europäischen Union) zusammengeführt werden, besteht Handlungszwang zur Rechtsangleichung oder Rechtsvereinheitlichung. Es muss gefragt werden, welche Lösung von Rechtsproblemen unter den gegebenen sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen der Partner die angemessenste und plausibelste ist. Solche Rechtsvereinheitlichungen finden man auf der nationalen Ebene genauso statt wie regional (Europäische Union), international (WTO) oder gar supranational. Bei einer friedlichen Vereinigung erfolgt die Rechtsvereinheitlichung in aller Regel nicht so, dass eine Seite der anderen ihre Rechtsordnung einfach „überstülpt“. Auch eine Vereinheitlichung in Form von aus den Wolken gegriffenen Idealgesetzen ist nicht die Regel. Häufig werden drei Vorgehensweisen unterschieden:

  • Das jeweils Gleiche in den beteiligten Rechtsordnungen wird in das vereinheitlichte Normenwerk übernommen.
  • Unterschiede werden dadurch ausgeglichen, dass entweder die beste Variante oder ein aus der Rechtsvergleichung gewonnenes Neue, das besser praktikabel ist als die bisher existenten Lösungen, in das vereinheitlichte Recht aufgenommen wird.
  • Ein Teil des Rechts eines Partners kann für sein Gebiet weiter gelten, ebenso wie ein Teil des Rechts des anderen Partners für dessen Gebiet fortexistiert.
Zu einer Rechtsangleichung kam es auch in Deutschland mit dem „Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion“ vom 18. Mai 1990 und dem „Einigungsvertrag“ vom 31. August 1990. Voraussetzung eines solchen Einigungsvertrages ist immer die genaue Kenntnis beider Rechtsordnungen, ihrer Voraussetzungen, ihrer Anwendung und der sozialen Folgen ihrer Anwendung. Dazu gehört die Einbeziehung von Juristen beider Länder. Im Falle Koreas würde dies bedeuten, dass eben auch Juristen aus Nordkorea einbezogen werden müssten – wo auch immer diese herkommen sollen.

Bei der Rechtsvereinheitlichung ist man mit einer ganzen Reihe an Schwierigkeiten konfrontiert: psychologische Hürden (Routine und Rechtsstolz beider Seiten), handwerkliche Gewohnheiten in der Gesetzgebung, unterschiedliche Rechtsvorstellungen und Begriffe sowie politische Hemmnisse, z.B. dass beide Seiten möglichst wenig Zugeständnisse machen möchten. Derartige Schwierigkeiten gilt es zu überwinden.

Deutsche und koreanische Vereinigung

Es gibt eine Reihe von Gründen, warum die deutsche Wiedervereinigung bisher relativ gut funktioniert hat – bisher, denn die Aufgabe ist ja nach wie vor nicht abgeschlossen:

  • Die Wiedervereinigung kam zum richtigen Zeitpunkt: Unter Michail Gorbatschow begann der Zerfall der Sowjetunion; sowohl in der DDR als auch in der BRD war der Wiedervereinigungswunsch lebendig.
  • Die Bundesrepublik betrieb unter Bundeskanzler Helmut Kohl die „richtige“ Einigungspolitik; eine gut trainierte Verwaltung war in der Lage – obwohl unvorbereitet – die ungeheure Herausforderung zu bewältigen.
  • Die weitverbreitete Sorge, das wiedervereinigte Deutschland könnte „zu mächtig“ werden, verloren an Gewicht, weil Europa als „Auffangsordnung“ bereitstand.
  • Die USA und die anderen Besatzungsmächte, Großbritannien, Frankreich und die Sowjetunion, waren bereit, Deutschland im Rahmen der Zwei-plus-Vier-Gespräche seine Souveränität zurückzugeben.
  • Im Hinblick auf die Kosten der Wiedervereinigung gab es eine gewisse „Prognoseschwäche“, so dass die tatsächlichen Belastungen erheblich unterschätzt wurden.
Am 9. November 1989 fiel die Mauer. Am 28. November trug Bundeskanzler Kohl sein „Zehn-Punkte-Programm“ für eine Vereinigung vor. Im Kern ging es darin um eine Vertragsgemeinschaft beider Staaten, also eine Konföderation, mit dem Ziel einer Föderation, d. h. der Wiedergewinnung der staatlichen Einheit Deutschlands. Bundeskanzler Kohl dachte in längeren Zeitdimensionen und verzichtete auf einen „Fahrplan“. Dann allerdings nahm die Entwicklung einen rasanten Verlauf („Wenn die DM nicht zu uns kommt, kommen wir zu ihr!“). Am 7. Februar 1990 machte Kohl das Angebot einer Wirtschafts- und Währungsunion, die am 19. Mai im 1. Einigungsvertrag mündete. In der DDR wurden die marktwirtschaftliche Ordnung und die DM als Zahlungsmittel eingeführt. Kohl versprach den Bürgern im Osten bis 1995 „blühende Landschaften“. Eine Basis schien da zu sein, immerhin war die DDR die zehntgrößte Volkswirtschaft der Welt. Am 18. März wurde in der DDR die erste freie Parlamentswahl durchgeführt, aus der die Anhänger Kohls als Sieger hervorgingen. Es begannen die Verhandlungen über den „Einigungsvertrag“, der am 29. September in Kraft trat. Damit war die Wiedervereinigung vollzogen. Als Einigungstag wurde der 3. Oktober bestimmt. Der Zwei-plus-Vier-Vertrag, der die Besatzungsrechte der Alliierten aufhob, wurde am 12. September 1990 in Moskau abgeschlossen und trat am 15. März 1991 in Kraft. Damit war die Souveränität Deutschlands wiederhergestellt.

Die Umsetzung der Wirtschafts- und Währungsunion, also die Umstellung von der Staatswirtschaft zur Marktwirtschaft, war eine Schocktherapie. Der Wechselkurs der Währungen lag bei einer Deutschen Mark zu 4,4 Mark der DDR. Für Löhne und Renten, also das Geld der „kleinen L eute“, galt der Kurs von eins zu eins, sonst eins zu zwei. Das war der Todesstoß für die DDR-Wirtschaft, aber politisch unvermeidlich. Eine „Treuhandanstalt“ übernahm 8.000 volkseigene Betriebe und verkaufte sie bis 1994 mit einem Verlust von 830 Milliarden Deutschen Mark. Die Sozialunion sicherte zwar die Renten und die Gesundheit, allerdings führte die wirtschaftliche Lage zu einer Massenarbeitslosigkeit. Die Eigentumsfrage – Rückgabe vor Entschädigung – sowie die Bodenreform sind noch heute Gegenstand von Rechtsstreitigkeiten. Die verfassungsrechtliche Form der Wiedervereinigung vollzog sich so, dass die in der DDR neu-(wieder)gegründeten ostdeutschen Länder sich dem Bund der alten westdeutschen anschlossen. Sie „schlüpften unter die Decke“ des westdeutschen Bundesstaates. Der Einigungsvertrag umfasst über 1.000 Seiten, was die Überprüfung des gesamten Rechts der „neuen“ Bundesrepublik einschließt. Er gliedert sich in drei Gruppen: altes Recht des westdeutschen Staates, nunmehr erstreckt auf ganz Deutschland, mit – zweitens – wichtigen Änderungen im Blick auf die Einheit und – drittens – fortbestehendes DDR-Recht.

Die Kosten der Wiedervereinigung waren und sind hoch, sie wurden unterschätzt. Die Sowjetunion verlangte als Ausgleich für Truppenabzug und Infrastruktur 16 Milliarden DM. Ostdeutsche Politiker sagten, die „Einheit sei gekauft worden“. Darüber hinaus fielen Kosten durch die Übernahme der Schulden der DDR und Transferleistungen für die neuen Bundesländer an, vor allem für Renten und Sozialleistungen, aber auch für große Infrastrukturaufwendungen. Die Finanzierung wurde und wird aus drei Quellen geleistet: zunächst aus den Haushalten des Bundes und der Länder, sodann aus Steuererhöhungen und schließlich Krediten. Schätzungen über die Gesamtkosten der Einheit gehen auseinander. Manche gehen davon aus, dass sie 1.300 Milliarden Euro betragen, andere geben höhere Zahlen an. Derzeit werden pro Jahr 100 Milliarden Euro Aufbauhilfe geleistet. Die Kosten sind deutlich höher als erwartet. Die Schulden der Bundesrepublik haben sich von 1989 bis 1996 mehr als verdoppelt. Das Bruttosozialprodukt des Landes beträgt 2.900 Milliarden Euro. Nun muss man freilich bedenken, dass der Aufbau Ost ein Riesenbeschäftigungsprogramm für die alte Bundesrepublik bedeutete und ein Großteil der Konsumgüter aus dem Westen bezogen wird.

Der Weg zur Vereinigung Koreas

Wenn es nun um die Vereinigung der beiden Koreas geht, so gibt es wesentliche Unterschiede zur Situation rund um die Wiedervereinigung Deutschlands:

  • Deutschland war und ist eine vergleichsweise junge Nation – die deutsche Reichsgründung fand erst 1871 statt, während die koreanische Nation auf eine jahrhundertealte Tradition zurückblickt. Insofern mag das Gefühl „ wir sind ein Volk“ in Korea noch lange Bestand haben.
  • Während die Teilung von einigen Deutschen als gerechte Bestrafung für die in der NS-Zeit verübten Verbrechen angesehen wurde, empfindet man die Teilung in Korea, das zunächst japanische Kolonie war und erst 1945 befreit wurde, nach wie vor als große Ungerechtigkeit.
  • Im Gegensatz zu Korea gab es im geteilten Deutschland deutlich intensiveren Austausch, sei es zwischenmenschlicher Art oder auch über die Medien. Die jeweiligen Kenntnisse über das Nachbarland waren dementsprechend ungleich besser. Der Bundesrepublik Deutschland und Südkorea gemeinsam ist ein – gerade gegenüber der DDR bzw. dem Norden Koreas – enormer wirtschaftlicher Boom. Die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen Süd- und Nordkorea sind allerdings noch ungleich größer als sie es zwischen der Bundesrepublik und der DDR je waren.
  • Die DDR war zwar ein Unrechtsstaat, aber keine mit dem nordkoreanischen System vergleichbare Diktatur.
  • Während die DDR vielfältige außenpolitische Kontakte pflegte, ist Nordkorea weltpolitisch isoliert.
Wenn es nun um eine mögliche Vereinigung der beiden Koreas geht, setzen einige ihre Hoffnung auf eine wirtschaftliche Modernisierung Nordkoreas. So könnte sich nach und nach ein wirtschaftlicher Pluralismus entwickeln.

Nicht zuletzt vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Erwägungen hat Präsidentin Park eine mögliche Wiedereinigung von Nord- und Südkorea 2014 als „Jackpot“ bezeichnet. In der Tat verfügt die koreanische Halbinsel über reichhaltige Bodenschätze, unter anderem Kohle, Zink und Seltene Erden. Hinzu kommt, dass das Nachbarland China eine der dynamischsten Wirtschaftsmächte der Welt ist. Weiterhin offen ist allerdings die Frage, was die Aktivität der Asian Pacific Economic Corporation (Apec) mit sich bringen wird.

Bisher gehen viele Beobachter davon aus, dass eine Wiedervereinigung der beiden Koreas nur durch einen Kollaps des Nordens herbeigeführt werden könnte. So muss es aber nicht zwangsläufig sein. Immerhin hat auch Bundeskanzler Kohl für Deutschland den Weg über eine Konföderation vorgeschlagen: „Ein Land – zwei Systeme“. Unerlässlich ist in jedem Fall die Vereinheitlichung beider Rechtssysteme – eine Aufgabe, die für Korea genauso schwer werden wird wie für Deutschland.

Sowohl Präsidentin Park als auch Bundespräsident Gauck betonten in ihren eingangs erwähnten Reden, dass der Weg zur Wiedervereinigung unter Umständen lang sein werde. „Politik ist das Bohren dicker Bretter, mit Geduld und Augenmaß“, hat ein bekannter deutscher Sozialwissenschaftlicher gesagt. Präsidentin Park sagte in Dresden: So wie das deutsche Wirtschaftswunder im südkoreanischen Miracle of the Han River eine koreanische Entsprechung gefunden habe, so werde sich auch die deutsche Wiedervereinigung auf der koreanischen Halbinsel wiederholen. Das sei historisch unvermeidlich. Die Frage lautet nur, wann das geschehen wird. Otto von Bismarck jedenfalls gab schon vor langer Zeit zu bedenken: „Der Staatsmann kann nie etwas selbst schaffen; er kann nur abwarten und lauschen, bis er den Schritt Gottes durch die Ereignisse hallen hört; dann vorzuspringen und den Zipfel seines Mantels zu fassen, das ist alles.“

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Prof. Dr. Ulrich Karpen ist Staatsrechtslehrer an der Universität Hamburg.

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Länderberichte
11. Dezember 2015
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Ein nordkoreanischer Grenzsoldat betrachtet sein Spiegelbild in einem Fenster.

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