Ausgabe: Sonderausgabe 2022/2022
Ordnungen werden oft durch Mythen begründet. Die beiden deutschen Republiken, die Vereinigten Staaten, die Europäische Union: Sie alle hatten Erzählungen und Bilder aus ihrer Gründungsphase, welche die Identitäten dieser Ordnungen über lange Strecken prägten. Solche Mythen können verblassen und gänzlich aus dem kollektiven Gedächtnis verschwinden, aber auch transformiert und neu gebildet werden, häufig in Momenten von Ordnungskrisen. Die Krise, in die Putin die internationale Ordnung gestürzt hat, ist auch ein Konflikt konkurrierender Mythenbildung, mit erheblicher wirtschaftspolitischer Relevanz.
Wladimir Putins Hoffnung auf einen schnellen militärischen Sieg und milde wirtschaftliche Konsequenzen fußte auf derselben Annahme: der Schwäche des Westens. Sowohl die prowestliche Kiewer Regierung als auch die Regierungen in der EU und den USA wurden als schwach eingeschätzt. Dass Putin sich in der Ukraine so gewaltig irrte, lag auch daran, dass Tatsachen leicht von Mythen überlagert werden können. Denn für den Gründungsmythos von Putins Russland ist der Mythos vom dekadenten Westen – ob in Kiew, Berlin oder Washington – konstitutiv. Im groß angelegten ideologischen Projekt der letzten zwei Jahrzehnte, das sich als „geistige Resowjetisierung“ Russlands umschreiben lässt, ist die Überhöhung der alten sowjetischen Ordnung ebenso wichtig wie die Herabsetzung der heutigen westlichen Ordnung.
Eine westliche Ordnung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft ausgerechnet in der Ukraine, wie sie seit der Orangen Revolution im Jahr 2004 trotz allen Schwierigkeiten entsteht, ist für das Projekt der Resowjetisierung eine potentiell tödliche Gefahr. Und das nicht aus militärischen Gründen. Gerade weil Putin die zweitgrößte ehemalige Sowjetrepublik als Bruderland betrachtet, wäre es fatal, wenn dort Demokratie, Marktwirtschaft und Rechtsstaat zu einer westlichen Gesellschaft führen würden. Diese Ordnung hielt aber nun dem Angriff stand. Sie war kein Potemkinsches Dorf, das die Kreml-Strategen einfach abzureißen vorhatten, sondern ein David, auf dessen Schleuder der russische Goliat kaum vorbereitet war.
Die militärische Niederlage, die sich für Putin bereits abzeichnet, ist vergleichbar mit derjenigen der Sowjetunion in Afghanistan der 1980er-Jahre. Allerdings wiegt sie noch schwerer. Denn ausgerechnet die Ukrainer zeigen – trotz aller kultureller, sprachlicher und religiöser Nähe – mit ihrem heroischen Widerstand, wie sehr sie die Resowjetisierung ablehnen. Was die Alternative angeht, so fällt bei den Antworten in den Interviews vor Ort regelmäßig das Wort „westlich“. Obwohl viele weder im Westen waren noch eine westliche Sprache beherrschen.
Aufbruch aus dem Osten in eine bessere, aber unbekannte Welt
Diese Sehnsucht nach „dem Westen“ erinnert an den Geist in den Transformationsländern der frühen 1990er-Jahre. In den mittel- und osteuropäischen Ländern gab es eine ähnlich kategorische Ablehnung der alten sowjetischen Ordnung, gepaart mit dem Wunsch, sich als Land auf die Reise nach Westen zu begeben. Was die heutigen Ukrainer mit den Bürgern der damaligen Transformationsländer vereint, ist, dass dieses Streben oft nicht auf eigener Kenntnis des „real existierenden“ Westens basiert, sondern auf Erzählungen und Bildern vom Westen, aus dem Fernsehen oder aus nacherzählten Erfahrungen. Am Anfang des langen Weges nach Westen steht damit der Mythos von einer besseren Welt, die man selbst kaum kennt.
Aber warum sich überhaupt als Wissenschaftler mit Mythen befassen, wenn Max Weber der Moderne eine zunehmende Entzauberung und Rationalisierung diagnostizierte? Eine Antwort bietet die Kulturphilosophie des Hamburger Philosophen Ernst Cassirer. In den 1920er-Jahren arbeitete Cassirer in seinem Hauptwerk „Philosophie der symbolischen Formen“ heraus, warum der Mythos auch in der Moderne eine wichtige Denkfigur bleiben wird. Laut Cassirer war das mythische Denken so fundamental für die Entstehung unseres Denkens, dass es trotz aller Fortschritte in der symbolischen Form der Wissenschaft ein eigener Zugang zur sozialen Realität bleiben wird.
Der Mythos Westen in Osteuropa der 1990er-Jahre kann das gut veranschaulichen. Es gab kaum belastbare Erkenntnisse über die Empirie im Westen: Man wusste nicht genau, wie wohlhabend die alte Bundesrepublik war oder wie schnell man aufholen würde. Ebenso wenig hatte man Erkenntnisse über die konstitutiven Institutionen des Westens: Wie genau Demokratie, Marktwirtschaft und Rechtsstaat funktionieren, war unklar, darüber hatte man nur Erzählungen aus der Vorkriegsgeneration sowie die Verkörperung dieser Ordnungen in Persönlichkeiten wie Reagan, Thatcher und Kohl. Die Erzählungen über die Empirie, die vagen begrifflichen Bausteine und die personifiziert wahrgenommenen Ordnungen verwob man kollektiv zum Mythos Westen.
Die Einsicht, dass Mythen in der sozialen Realität ebenso wichtig sein können wie wissenschaftliche Erkenntnis, ist gerade für Ökonomen konterintuitiv, da ja die Ökonomie wie keine andere Sozialwissenschaft die Rationalisierung der Welt untersucht. Aber die Wertschätzung für ein Denken in verschiedenen symbolischen Formen kann den Ökonomendiskurs bereichern. Der Schlüssel liegt beim Begriff „Symbolpolitik“. Symbolpolitik wird aktuell im Diskurs als Gegensatz zu einer evidenzbasierten, in Zweck-Mittel-Relationen denkenden Wirtschaftspolitik verstanden und damit disqualifiziert. Und doch könnte eine wohlverstandene Symbolpolitik sowohl bei der Bewältigung des Krieges als auch in der Gestaltung der Nachkriegsordnung eine Schlüsselrolle als Ordnungsprinzip spielen.
Die Debatte über die Sinnhaftigkeit verschiedener Sanktionshärten bietet ein Beispiel. Während der Fokus momentan auf den Kosten liegt, wird übersehen, dass Sanktionen von immensem symbolischen Wert sind, den man politisch explizit berücksichtigen sollte. Die Frage, wie rigoros der Westen handelt, wie viel Schäden er bewusst in Kauf nimmt und in welcher Rhetorik dies kommuniziert wird, ist fundamental für die Wahrnehmung des Westens – kurz- und mittelfristig. Ob der Westen als stark oder als schwach wahrgenommen wird, kann kurzfristig etwa die Kampfkraft der ukrainischen Streitkräfte gegenüber dem Aggressor stärken oder auch die Aggressivität Chinas gegenüber Taiwan bremsen.
Der kurzfristige Blick auf Russland ist ganz besonders spannend. So gut wie alle Ökonomen in den Sanktionsdebatten gehen davon aus, dass Putin in Moskau fest im Sattel sitzt. Allerdings könnte die durch übergroße Abstände zu seinen Mitmenschen bekundete Angst bei öffentlichen Auftritten auch reale Gründe haben. Ein auf dem Schlachtfeld gedemütigtes Militär, ein enttäuschter und um seine kurzfristigen Taiwan-Optionen beraubter strategischer Partner China, von den Sanktionen betroffene Oligarchen, eine mutige Zivilgesellschaft, versiegende Finanzierung des Sozialstaats: All das sind nicht gerade beste Voraussetzungen für das Überleben des Regimes. Ein als stark und entschieden wahrgenommener Westen könnte im labilen Machtgefüge zu einer unerwarteten Koalition der Unwilligen führen, die Putin absetzt, um vom Westen nicht länger gedemütigt zu werden.
Es geht aber nicht nur um veränderte Wahrnehmungen. Womöglich erfolgt momentan auch eine Transformation von Mythen – innerhalb des Westens selbst. Die zahlreichen Reden des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und die Warschauer Rede von US-Präsident Joe Biden sind eine solche Mythentransformation durch die explizite politische Nutzung von Symbolen, also durch Symbolpolitik. Für viele im Westen klingen sie pathetisch, auch bedienen sich einer heroischen Sprache, die etwa als übermäßig maskulin kritisiert wird. Aber gerade dieses Unbehagen am Pathos und der heroischen Sprache zeigt, dass sich aktuell etwas bewegt. Die Ukraine kämpft nicht nur um die eigene Freiheit und die ihrer Nachbarländer. Mit diesem Kampf bieten die Ukrainer dem Westen die Gelegenheit, über sich selbst, die eigenen Symbole, Mythen und dadurch über die eigene Identität grundlegend neu nachzudenken.
Der Westen wirkt im Umgang mit sich selbst unsicher und defensiv
Wofür steht heute noch die EU? Wozu gibt es noch die transatlantischen Beziehungen? Braucht es noch die NATO? All das sind Fragen, die plötzlich gänzlich neue Antworten finden – durch die Sehnsucht der Ukrainer nach dem Mythos Westen. Bereits die Tatsache, dass viele im Westen Schwierigkeiten haben, auf diese Fragen überhaupt Antworten zu formulieren, zeigt, dass die von der Ukraine in ihrem Überlebenskampf hochgehaltenen Symbole und Mythen bei uns selbst ziemlich verblasst sind.
In den westlichen Diskursen hatte es die westliche Zivilisation in den vergangenen Jahrzehnten nicht immer einfach. Wer auf dem Campus der Universitäten auf beiden Seiten des Atlantiks über „den Westen“ gesprochen hat, sah sich häufig mit Anschuldigungen konfrontiert, die nicht gerade dazu animierten, diesen Diskurs – gerade wegen der historischen Komplexität etwa des kolonialen Erbes des Westens – für die junge Generation weiterhin kritisch zu pflegen. Für jemanden, der in einem Transformationsland der 1990er sozialisiert und mit dem Mythos Westen als zentralem gesellschaftlichem Orientierungspunkt der Transformation aufgewachsen ist, wirkt der heutige Westen im Umgang mit sich selbst defensiv und unsicher.
Ob sich das langfristig ändert und ob damit der Mythos Westen eine neue Strahlkraft entfaltet, kann sich bereits in den bevorstehenden Wochen und Monaten entscheiden. Die Diskurse über die Ukraine – und mit der Ukraine – sind entscheidend, die willkommenen Provokationen des ukrainischen Botschafters Andrij Melnyk hierfür ein guter Start. Seine begrüßenswert undiplomatische Sprache zeigt eindrücklich auf, dass gerade in Krisenzeiten politisch korrekte Rhetorik nicht immer hilfreich ist. Botschafter Melnyk erinnert auch daran, dass die Bundesrepublik nicht nur eine historische Verantwortung gegenüber Russland hat. Stattdessen gilt diese Verantwortung all denjenigen Ländern, auf deren Territorium die Kämpfe zwischen Hitler und Stalin ausgetragen wurden. Die Ukraine ist eins der am meisten geplagten Länder dieser „Bloodlands“, wie der Yale-Historiker Timothy Snyder die Region nennt. Ein solches Land darf, wie Botschafter Melnyk unmissverständlich zu verstehen gibt, nie wieder zur passiven Verteilungsmasse werden, über deren Zukunft die Großmächte befinden.
Aber selbst wenn in diesem neuen Diskurs mit der Ukraine während des Krieges eine Neubesinnung des Westens auf sich selbst gelingt, ist damit nicht gesagt, dass sie von Dauer sein wird. Eine Mythenbildung benötigt Zeit – und einen stabilen rhetorischen Kontext für die Konsolidierung des Mythos im kollektiven Gedächtnis. Diesen Kontext kann der EU-Beitrittsprozess der Ukraine bieten. Erfreulicherweise hat die EU eine beschleunigte Beitrittsperspektive für die Ukraine angeboten. Trotz aller berechtigten Skepsis: Gerade die Erfahrungen aus Bulgarien, das mit ähnlichen Korruptionsproblemen, Netzwerken aus der alten Ordnungen und wirtschaftlichen Altlasten zu kämpfen hat, zeigen, wie essenziell die EU für den Aufbau einer westlichen Ordnung ist. Nicht sosehr durch die finanziellen Mittel, welche die Korruption eher vertiefen, sondern durch das Hochhalten des Symbols des Rechtsstaats, das ansonsten immer wieder zu verblassen droht.
Eine Beitrittsperspektive für die Ukraine ist aber auch für die EU selbst wichtig. Wenn man auf die letzten siebzig Jahre zurückschaut, so schwankte die Europäische Integration zwischen zwei Trajektorien: „großes Frankreich“ und „große Schweiz“. Seit den Delors-Kommissionen ist der Trend hin zum „großen Frankreich“ unverkennbar, also hin zu mehr politischer Zentralisierung und mehr ökonomischer Regulierung. Der Beitritt der Ukraine könnte, wie es sich in den 2000er-Jahren beim Beitritt der mittel- und osteuropäischen Länder kurzzeitig andeutete, zumindest eine kritische Überprüfung der eingeschlagenen Bewegung, vielleicht sogar eine Gegenbewegung des Pendels hin zu einer „großen Schweiz“ bringen. Waren die politischen Zentralisierungsschritte allesamt sinnvoll? Ist die sich jüngst abzeichnende Transferunion auch nach Corona und dem Krieg tragfähig? Sind Regularien, die schon für die deutsche Wirtschaft beschwerlich sind, für die Ökonomien der mittel- und osteuropäischen Länder oder gar der Ukraine tragbar? Eine selbstkritische Bilanz der EU, die nach dem Brexit nicht gezogen wurde, ist nun möglich.
Wenn man den Westen geografisch vor allem auf den transatlantischen Raum fokussiert, so bringt die Ukraine beide Seiten des Atlantiks dazu, auch über die transatlantischen Beziehungen selbstkritisch nachzudenken, die bereits vor Trump gelitten hatten. Wie ist die künftige Arbeitsteilung zwischen Europäern und Amerikanern in der Sicherheitspolitik? Was genau ist die künftige Rolle der NATO, die womöglich vor einer Erweiterung im Norden Europas steht? Wird es zu einer gemeinsamen Haltung zu China kommen, oder wird Europa bei den Äquidistanz-Versuchen bleiben? Wie engagiert werden die Amerikaner in Europa bleiben, wenn die Aggressivität Chinas gegenüber Taiwan andauert?
Nur ein Westen mit Strahlkraft kann Russlands Weg beeinflussen
Auch für die Koexistenz mit Russland in den nächsten Jahrzehnten kann der Mythos Westen von entscheidender Bedeutung sein. Das hängt vor allem damit zusammen, dass der Resowjetisierungs-Mythos der Putin-Zeit nur weichen kann, wenn andere Mythen an dessen Stelle treten. Die Kulturphilosophie Cassirers betont an zentraler Stelle, dvass Mythen nicht durch die symbolische Form der wissenschaftlichen Erkenntnis widerlegt werden können. Auch ein Fall des Putin-Regimes wird nicht von allein dazu führen, dass der alte Mythos sofort an Strahlkraft verliert. Wenn sich die heutige junge Generation von der Resowjetisierung der letzten zwanzig Jahre freimachen kann, dann nur, wenn der Westen dieser Generation einen Gegenmythos anbietet, wie die Erfahrung der Transformationsländer der 1990er-Jahre zeigt. Ob aber der heutige verunsicherte Westen dies leisten kann, ist zweifelhaft. Nur ein Westen, der mit der eigenen Geschichte kritisch umgeht und – gerade aus einem solchen Umgang heraus – mit Stolz auf die eigene zivilisatorische Leistung blickt, kann den Ausschlag bei der Richtung geben, die die russische Gesellschaft in den nächsten Jahrzehnten einschlägt. Vielleicht gelingt dann das, was in den 1990er-Jahren misslang: die Loslösung vom ewigen Joch der Autokratie, welches das russische Volk seit Jahrhunderten plagt.
Mythen können zwar immer wieder neue Formen annehmen, haben aber auch einen festen Kern. Auch der Mythos Westen hat einen solchen Kern, der über Zeit und Raum hinweg gilt. Außerdem ist dieser Mythos nicht auf Epochen wie die Aufklärung oder auf Räume wie den Nordatlantik beschränkt. Im Gegenteil, er ist ein universalistischer Mythos, den sich auch Gesellschaften zu eigen machen können, die historisch keine Aufklärung hatten und geografisch woanders liegen. Das ukrainische Volk lebt es gerade vor, das russische hat es vielleicht vor sich. Auf einen Satz gebracht, lässt sich der Westen wirtschaftspolitisch als eine Ordnung verstehen, die ständig gegen Privilegien ankämpft, welche die Mächtigen aufgebaut haben, und dabei anstrebt, einen privilegienfreien Zugang zu Staat, Wirtschaft und Gesellschaft zu bieten.
Die Ukrainer wollen in einer solchen Ordnung leben, in der der wirtschaftliche und politische Erfolg von der eigenen Leistung und nicht von Beziehungen zu den mächtigen Kreisen abhängt. Die Wirtschaftsordnung und die anderen gesellschaftlichen Teilordnungen sollen nicht nur Wohlstand, sondern ebenso ein menschenwürdiges Leben in Freiheit und Gerechtigkeit ermöglichen. Damit dieser Mythos im eigenen Land Realität wird, bringt das ukrainische Volk seit Wochen Opfer, die der Westen selbst nicht zu bringen bereit ist. Hoffentlich würdigt der Westen diese Opfer, indem er der Ukraine einen westlichen Weg öffnet und auf diesem Weg auch über die eigene Herkunft und Zukunft neu nachdenkt.
Stefan Kolev wurde 1981 in Bulgarien geboren. Er ist Professor für Wirtschaftspolitik an der Westsächsischen Hochschule Zwickau und Gründungsmitglied des Netzwerks für Ordnungsökonomik und Sozialphilosophie NOUS.
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