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Valentyn Ogirenko, Reuters

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Graustufen

Die Ukraine auf der Suche nach der schwierigen ­Balance zwischen Meinungsfreiheit und effektivem Kampf gegen Desinformation

Unter dem Eindruck jahrelangen hybriden Krieges geht die Regierung in Kiew gegen prorussische Medien vor, deren Eigentümer sie der Unterstützung der „Volksrepubliken“ im Osten des Landes beschuldigt. Doch der Entscheidungs­prozess wirft Fragen auf. Wie kann sich die Ukraine effektiv gegen Desinformationskampagnen verteidigen, ohne gefährliche Präzedenzfälle zu schaffen oder die Meinungsfreiheit unverhältnismäßig einzuschränken?

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Seit der Maidan-Revolution, der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und dem maßgeblich von Russland entfesselten Krieg im Osten der Ukraine steht das Land unter großem, seit Jahren andauerndem Druck. Daran wurde auch die internationale Öffentlichkeit erinnert, als Russland im April 2021 an seiner fast 2.300 Kilometer langen Grenze zur Ukraine und auf der Krim zeitweise mehr als 80.000 Soldaten zusammengezogen hatte. Außerdem wurden belarussische Einheiten an den nördlichen Grenzen zur Ukraine mobilisiert, genau wie russische Militärverbände in der von der Republik Moldau abtrünnigen Region Transnistrien, wo sie offiziell als Friedenstruppen dienen. So befand sich die Ukraine regelrecht im Zangengriff – woran im Grundsatz auch der später folgende Abzug von Teilen der russischen Streitmacht wenig geändert hat.

Weitab internationaler Schlagzeilen laufen in der Ukraine jedoch seit Jahren im Monats- oder gar Wochentakt Meldungen zu neuen Opfern des Konflikts über den Ticker. Seit 2014 sind fast 3.400 Zivilisten und mehr als 4.400 ukrainische Militärangehörige getötet worden. Abgesehen davon muss das Land die wirtschaftlichen Kosten des Militäreinsatzes im Donbass aufbringen, die sich auf circa sieben Millionen US-Dollar pro Tag belaufen.

Daneben ist die Ukraine Ziel koordinierter Desinformationskampagnen, die tendenziöse Berichterstattung, bewusste Übertreibungen bis hin zu offenen Falschmeldungen umfassen. Hier spielen jedoch bei weitem nicht nur russische Staatsmedien eine Rolle, auch ukrainische Medien und einflussreiche Persönlichkeiten mit großer Gefolgschaft in den sozialen Netzwerken sind aktiv daran beteiligt, die ohnehin starke Polarisierung im Land durch Unterstellungen, Übertreibungen und Falschnachrichten zu verstärken. Einige von ihnen übernehmen dabei russische Narrative über den Konflikt im Osten des Landes und behaupten etwa, der Westen missbrauche die Ukraine als Aufmarschgebiet für eine Invasion Russlands selbst, oder die Regierung in Kiew sei von Faschisten dominiert. Genauso oft wird unterstellt, dass die Krimannexion und Moskaus Eingreifen im Donbass 2014 Massaker an der russischsprachigen Bevölkerung durch die ukrainische Armee (in der jedoch selbstverständlich eine große Anzahl russischsprachiger Ukrainerinnen und Ukrainer dient) verhindert habe.

Im Rahmen dieses Narrativs wurde im April 2021 auch die Meldung verbreitet, eine ukrainische Kampfdrohne habe im Donbass einen kleinen Jungen auf von den Separatisten kontrolliertem Gebiet getötet. Bald stellten Untersuchungen zivilgesellschaftlicher fact-checking-Initiativen fest, dass der Ort des Geschehens außerhalb des direkten Kampfgebiets und überhaupt nicht in Reichweite entsprechender ukrainischer Systeme lag. Zeugen vor Ort berichteten von einem Unfall, nachdem das Kind Sprengstoff im Bestand eines lokalen Sammlers gefunden hatte. Das vermeintliche Foto des Jungen war dabei bereits 2014 aufgetaucht, um vermeintliche Opfer der ukrainischen Armee in der Zivilbevölkerung zu bebildern. Weitere Narrative behaupten, die US-Armee führe in Geheimlabors Experimente an der ukrainischen Bevölkerung durch, oder Männer wie George Soros und Bill Gates würden im Geheimen das Land kontrollieren.

All dies veränderte die ukrainische Medienlandschaft, die traditionell ein großes Meinungs-spektrum mit starken, unabhängigen Rechercheplattformen umfasst, aber vor allem auch im TV-Markt durchaus oligarchischer Einflussnahme unterliegt. Teilweise entstanden hier mediale Parallelgesellschaften mit fundamental verschiedenen Ansichten zu zentralen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fragen.

Deutlich weniger Aufmerksamkeit findet die Gruppe von Menschen, die sich nicht eindeutig einem prorussischen oder prowestlichen Lager zuordnen lässt.

Gräben gibt es in der Gesellschaft jedoch schon lange. Eine zentrale Erklärung finden manche in der Spaltung der Ukraine in ein vermeintlich prorussisches und ein prowestliches Lager. Und sicherlich lässt sich in Parteien-, Medien- und Diskursstrukturen besonders in Bezug auf die außenpolitische Ausrichtung sowie die historische Bewertung von Personen und Bewegungen rund um die Unabhängigkeitsbestrebungen der 1920er bis 1950er Jahre eine solche Spaltung feststellen. Zwischen diesen groben Lagern herrscht dementsprechend auch ein ziemlich harscher Ton; man redet meist über- statt wirklich miteinander.

Deutlich weniger Aufmerksamkeit findet in Medienberichten und Forschung allerdings die durchaus beachtliche Gruppe von Menschen, die sich nicht eindeutig den genannten Lagern zuordnen lässt. Man findet sie insbesondere in der Zentralukraine, im groben Dreieck Kiew, Krywyj Rih im Süden und Poltawa ein wenig weiter nordöstlich – und auch in landesweiten Umfragen, wo ungefähr 35 Prozent regelmäßig angeben, weder eine Annäherung an Russland noch die EU aktiv zu befürworten. Dementsprechend schalten viele von ihnen auch zwischen mehreren TV-Kanälen mit gegenteiliger Ausrichtung hin und her, während sich landesweit knapp mehr als die Hälfte der Menschen inzwischen hauptsächlich im Internet informiert. Jedoch folgt hieraus leider keine echte Medienkompetenz: Viele Menschen ziehen sich eher in einen apolitischen und demobilisierenden Zynismus zurück, während eine große Zahl von Ukrainerinnen und Ukrainern auch online unseriösen Quellen folgt.

 

Unterschiedliche Ansätze bei der Bekämpfung von Desinformation

In dieser komplizierten Gemengelage haben der ukrainische Staat und die sehr aktive Zivilgesellschaft auf verschiedene Weisen auf die Herausforderungen zunehmender Desinformation im Informationsraum des Landes reagiert. NGOs wie StopFake oder die Akademie der Ukrainischen Presse haben beispielsweise in Zusammenarbeit mit internationalen Akteuren Initiativen zum fact-checking gestartet sowie eine Vielzahl von Trainings und anderen Bildungsmaßnahmen für bessere Medienkompetenz durchgeführt. Ein Problem liegt jedoch darin, dass diese Initiativen eher punktuell statt als Teil eines ganzheitlich koordinierten Ansatzes wirken und teilweise auf jüngere Zielgruppen in den größeren Städten beschränkt bleiben. Gleichzeitig bleiben oligarchische Machtstrukturen im Medienbereich unangetastet – der immer noch sehr wichtige TV-Markt ist insgesamt im Hinblick auf unabhängigen Journalismus viel zu wenig diversifiziert.

Der ukrainische Staat verfolgt daneben ebenfalls einige „weiche“ Ansätze, insbesondere durch die Gründung eines russischsprachigen, aus Staatsmitteln finanzierten Fernsehsenders für die Menschen in den Gebieten, die nicht mehr unter der Kontrolle der Regierung stehen. Gleichzeitig soll der durchaus fundiert und seriös arbeitende öffentlich-rechtliche Rundfunksender Suspilne, der jedoch seit Jahren massiv unterfinanziert ist, besser ausgestattet werden. Im März 2021 kündigte Präsident Wolodymyr Selenskyj außerdem den Aufbau von zwei staatlichen Zentren an, die Desinformation durch fact-checking aufdecken und die Medienkompetenz der Ukrainerinnen und Ukrainer verbessern sollen. Jedoch ist fraglich, ob diese Institutionen ausreichend Ressourcen erhalten und inwieweit sie überhaupt als vertrauenswürdige Quellen angenommen werden.

Hauptsächlich waren seit 2014 aufseiten des Staates jedoch eher härtere Maßnahmen im Kampf gegen Desinformation zu beobachten, die durchaus auch Fragen in Sachen Meinungs- und Pressefreiheit aufwarfen. Dazu gehören ein Vertriebsverbot von 25 in Russland herausgegebenen Büchern aufgrund von als propagandistisch eingestuften historischen Narrativen sowie Einreiseverbote für russische und einige internationale Journalistinnen und Journalisten, die mit ihrer Berichterstattung die ukrainische Souveränität und territoriale Integrität untergraben würden. Seit 2017 sind außerdem eine Vielzahl russischer Nachrichtenseiten und sozialer Medien aus der Ukraine nicht mehr erreichbar. 2021 wurde diese Liste nochmals erweitert.

Selenskyj hat einen Präzedenzfall geschaffen, der nun auch künftigen Präsidenten zur Verfügung steht.

Für Aufsehen sorgten Ende 2019 und Anfang 2020 auch zwei letztlich erfolglose Gesetzesentwürfe aus der Regierungsfraktion und dem Kulturministerium, die Regierungsbehörden weitreichende unilaterale Kompetenzen zur Identifizierung und Sanktionierung von Fake News und Narrativen gegen die ukrainische territoriale Integrität zugestanden hätten.

 

Ein Paukenschlag des Präsidenten

Eine deutliche Zäsur stellte dann jedoch der 2. Februar 2021 dar, als der seit 2019 amtierende Präsident Selenskyj ein Dekret erließ, welches auf Grundlage eines Sanktionsgesetzes von 2014 und einer Beschlussvorlage des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates drei TV-Kanälen mit prorussischer Ausrichtung – 112, ZIK und NewsOne – für fünf Jahre die Sendelizenz entzog. Bereits tags darauf waren die drei Sender nicht mehr im Kabelfernsehen zu empfangen. Zuletzt erreichten sie gemeinsam im ukrainischen Fernsehmarkt Zuschaueranteile von 15 bis 20 Prozent. Kurz darauf wandte sich die ukrainische Regierung auch an Youtube, um dort ebenfalls eine Sperrung der Sender zu erwirken; diese Bemühungen waren letztlich jedoch erfolglos, sodass die abgeschalteten Kanäle dort weiter gemeinsam unter der Vereinigung „Erster Unabhängiger [Kanal]“ für ihre circa 135.000 Abonnenten senden.

Grundlage für den Sendestopp der drei Kanäle war der Vorwurf der Terrorismusfinanzierung, der sich laut ukrainischen Medienberichten auf angeblichen Kohlehandel mit den „Volksrepubliken“ in Donezk und Luhansk durch Taras Kozak, den Eigentümer der drei TV-Kanäle, stützt. Eine explizit politische Dimension bekam der Fall dadurch, dass Kozak weithin als Frontmann für den offen prorussischen Politiker und Putin-Vertrauten Wiktor Medwetschuk gilt, mit dessen Partei Oppositionsplattform – Für das Leben Selenskyj im Süden und Osten der Ukraine um Wählerstimmen kämpft; dies hatte sich gerade erst bei den Lokalwahlen im Oktober 2020 anschaulich gezeigt. Im Mai 2021 wurde dann Medwetschuk selbst wegen Landesverrats angeklagt und zunächst unter Hausarrest gestellt.

Wenig später sanktionierten Präsident und Sicherheitsrat dann den prorussischen Youtube-Blogger Anatoliy Shariy und blockierten die Onlinezeitung Strana.ua, die ebenfalls als prorussisch gilt. In beiden Fällen sehen die Sicherheitsdienste die Teilnahme am Informationskrieg gegen die Ukraine als erwiesen an.Jedoch sind die genannten Akteure entweder direkt auf Youtube oder auf digitalen Umwegen weiter erreichbar.

 

Gemischte Reaktionen aus der Zivilgesellschaft

Der Entzug der Lizenzen der drei Sender durch Präsident Selenskyj wurde in der ukrainischen Gesellschaft unterschiedlich aufgenommen. Einige Stimmen wiesen darauf hin, dass auf den drei Kanälen wiederholt die Annexion der Krim durch Russland gerechtfertigt und der Ukraine die Schuld am Krieg im Osten des Landes zugeschoben wurde. Dies sei unter anderem im Kontext russischer Desinformationskampagnen zu verstehen, die ja bereits seit 2014 nachweislich verfälschte, tendenziöse oder vollends erfundene Berichte über angebliche Gräueltaten der ukrainischen Regierung verbreiten. Dies zu unterbinden, sei damit zentral für die Verteidigung der ukrainischen Staatlichkeit und folglich gerechtfertigt.

Dem steht jedoch in den Augen anderer Beobachterinnen und Beobachter eine Reihe gewichtiger Argumente entgegen. Erstens werfe der Entscheidungsprozess Fragen auf, da er ausschließlich innerhalb der vom Präsidenten abhängigen Exekutive stattfand und im Voraus keiner gerichtlichen Bestätigung bedurfte. Und auch wenn die Rechtsgrundlage für die Entscheidung Selenskyjs aus dem Jahr 2014 stammt, wurde das Instrument von Sanktionen gegen heimische Medien nun erstmals wirklich verwendet – ein gewichtiger Präzedenzfall, der nun künftigen ukrainischen Präsidenten als mehr oder weniger legitimes Mittel zur Verfügung stünde. In diesem Zusammenhang wurde auch die knappe und sehr allgemein gehaltene Begründung des Dekrets kritisiert, da sie keine klaren Maßstäbe für ein derart gewichtiges staatliches Handeln formulieren würde.

Das Narrativ, die Ukraine sei repressiv gegenüber der russischsprachigen Bevölkerung, ist und bleibt falsch.

Und letztlich wäre auch eine Alternative verfügbar gewesen, die höhere prozedurale Legitimation besessen hätte: Der Nationale Rat für Fernseh- und Radiorundfunk, der paritätisch von Präsident und Parlament besetzt wird, kann aufgrund von Volksverhetzung und Hassrede den Entzug von Sendelizenzen vor Gericht beantragen. Auf diesem Weg versuchte der Rat bereits 2014, gegen Re-Broadcasting russischer TV-Programme vorzugehen. Er beantragte im August 2021 außerdem, dem als prorussisch geltenden ukrainischen Kanal Nasch die Lizenz zu entziehen. Allerdings würden auch auf diesem Weg angesichts der deutlichen Parlamentsmehrheit der Partei Selenskyjs und weiter bestehenden Problemen mit der Unabhängigkeit der Judikative wohl bei weitem nicht alle Zweifel ausgeräumt werden können.

Aus dem prorussischen Lager wurde als Reaktion auf die Abschaltung der TV-Sender dem Präsidenten umgehend unterstellt, unliebsame Stimmen politischer Konkurrenten zum Schweigen bringen zu wollen. Sicherlich sind solche Vorwürfe ein Stück weit zu erwarten, jedoch muss sich der ukrainische Präsident dennoch fragen lassen, ob er durch sein Handeln nicht in den Augen prorussisch eingestellter Menschen inner- und außerhalb des Landes aktiv ein Narrativ bedient hat, das die Ukraine ganz im Sinne des Kreml als repressiv gegenüber der russischsprachigen Bevölkerung darstellen will. Diese Erzählung ist und bleibt falsch – man denke trotz mancher Kontroverse um die Sprachenfrage beispielsweise nur daran, dass die ukrainische Verfassung in Artikel 10 die freie Verwendung von Russisch explizit schützt. Aber dennoch wurde solchen Stimmen sicherlich ein Stück weit Vorschub geleistet. In diesem Lichte erscheint es insgesamt fragwürdig, ob die Abschaltung der drei prorussischen TV-Kanäle eine effektive Verteidigung gegen Desinformationskampagnen und Propaganda bei gleichzeitigem Schutz der Meinungs- und Pressefreiheit darstellt – oder gar politisch klug ist.

 

Eine Frage der Wehrhaftigkeit von Demokratien?

Jedoch lohnt es sich, hier kurz innezuhalten. Denn schließlich fußt solche Kritik hauptsächlich auf liberalen Diskurstheorien, die den freien und ungehinderten Austausch von Meinungen zur gemeinsamen Formulierung einer Lösung im Interesse des Gemeinwohls vorsehen. Aber hat die Geschichte nicht gezeigt, dass liberale und demokratische Systeme in der Lage sein müssen, ihre Feinde zu erkennen und letztlich auch wehrhaft zu bekämpfen – um selbst zu überleben? Hat Selenskyjs Präsidialdekret nicht ein Signal gesetzt, dass sich die Ukraine gegen die schleichende Untergrabung ihrer Souveränität, Demokratie und Staatlichkeit von innen und außen aktiv wehrt?

Die Antwort fällt ambivalent aus: Restriktionen von Meinungs- und Pressefreiheit, selbst wenn es dabei um das legitime Ziel des Kampfes gegen Desinformation und Hatespeech geht, finden in einem größeren Kontext statt. Und genau dieser wird bei der gesellschaftlichen Reaktion auf staatliche Maßnahmen wichtig: Kann sich ein Narrativ verfangen, wonach der Staat offene Repression gegenüber missliebigen Meinungen betreibt? Reiht sich z. B. ein Medienverbot in andere möglicherweise als diskriminierend empfundene Maßnahmen ein? Wenn dem so ist, eröffnen sich eine Reihe von durchaus gefährlichen Szenarien, inklusive der Radikalisierung von Teilen der Bevölkerung und der Möglichkeit politischer Gewalt. Oder verhallen solche Zensurvorwürfe als unbegründet, da ein Staat seine legitimen Ziele klar und offen kommuniziert, gesellschaftliche Gruppen breit und ausführlich einbindet und für harsche Maßnahmen wie Beschneidungen der Meinungs- und Pressefreiheit einen transparenten Prozess unter Einbindung unabhängiger Kontrollinstanzen wählt? Für ein interessantes Beispiel lohnt sich hier ein Blick nach Litauen.

 

Kann Litauen als Vorbild dienen?

Seit 2014 entzog der litauische Staat einigen russischen TV-Stationen mehrmals zeitweise die Sendelizenzen, weil sie in den Augen der Regulierungsbehörden und Gerichte bewusst Falschinformationen insbesondere über die Ereignisse rund um die Tötung von 13 litauischen Demonstranten durch die sowjetische Armee im Januar 1991 sowie Hatespeech durch Re-Broadcasts eines Programms des russischen Staatsfernsehens verbreitet hatten. Aufschlussreich ist dabei die Verfahrensprozedur für einen solch scharfen staatlichen Eingriff im litauischen Recht.

Durch die breite Einbeziehung der Zivilgesellschaft, unabhängiger Institutionen und der Judikative ist eine politisierte Unterdrückung von Minderheitenstimmen in Litauen erschwert.

Die wichtigste Behörde in Sachen Medienregulierung im Land, die Radio- und Fernseh-Kommission Litauens, ist dem Parlament zugeordnet, finanziert sich unabhängig vom Staatsbudget durch eine geringe Abgabe des Lizenzeinkommens der lokal aktiven Sender und wird folgendermaßen besetzt: Von den elf Mitgliedern beruft der Präsident zwei und das Parlament drei (davon einer durch die Opposition) – damit haben die Vertreterinnen und Vertreter der Exekutive und Legislative selbst bei koordinierter Abstimmung keine Mehrheit in der Kommission. Die Litauische Bischofskonferenz, die Vereinigung Litauischer Journalisten sowie der Litauische Journalistenverband berufen jeweils ein weiteres Mitglied. Dazu kommen dann weitere drei Mitglieder des Litauischen Künstlerverbandes.

Kommt die Kommission aufgrund ihres eigenen Monitorings oder einer Beschwerde zu dem Schluss, dass Jugendschutz- oder Hatespeech-Regelungen durch einen Sender verletzt werden, kann sie nach einem festgeschriebenen Prozess mit klaren Deadlines Stellungnahmen einholen und einen Antrag auf zeitweilige Entziehung der Sendelizenz beim Verwaltungsgericht der Region Vilnius einreichen. Berufungsmechanismen gegen die anschließende Gerichtsentscheidung stehen bis hin zum höchsten nationalen Verwaltungsgerichtshof dabei zusätzlich offen. Durch die breite Einbeziehung der Zivilgesellschaft, unabhängiger Institutionen und der Judikative ist eine politisierte Unterdrückung von Minderheitenstimmen deutlich erschwert.

 

Impulse für die Ukraine

Um die Prozedur staatlicher Verteidigungsmaßnahmen gegen Desinformationskampagnen auch in der Ukraine in ähnlicher Form besser zu legitimieren, müsste das Land zunächst die Justizreform energisch vorantreiben – denn glaubwürdige Prozesse brauchen sichtbar unabhängige Akteure. Die Reformen im Rechtssystem der Ukraine waren nach durchaus beachtlichen Erfolgen seit 2014 zuletzt ins Stocken gekommen. Außerdem muss die Judikative von korrupten Akteuren befreit und politischer Einflussnahme entzogen werden. Hierfür liegen auch konkrete Konzepte vor.

Eine möglichst unabhängige gerichtliche Prüfung kann dabei schon heute die starke Zivilgesellschaft flankieren, in der eine Vielzahl von NGOs mit entsprechender Fachexpertise aktiv ist. So könnte eine inklusive Prozedur unter Einbeziehung unabhängiger staatlicher und zivilgesellschaftlicher Akteure seine volle legitimierende Wirkung entfalten und gleichzeitig politischem Missbrauch auch in der Ukraine effektiv vorbeugen.

Gleichzeitig ist der gesamtgesellschaftliche Hintergrund für die Legitimierung staatlicher Maßnahmen nicht zu unterschätzen. Wie oben erwähnt, sollte ein Staat verhältnismäßige Mittel zur Durchsetzung transparent kommunizierter und begründeter Ziele anwenden. Hier könnte die Ukraine im Grundsatz bei gesellschaftlich kontroversen Themen mehr auf Debatte, Ausgleich und Anreize statt auf staatliche Verpflichtungen setzen. Um beispielsweise das durchaus legitime Ziel der Stärkung der ukrainischen Sprache zu verfolgen, empfehlen sich umfassende und kostenlose Bildungsangebote gepaart mit Anreizen und Belohnungen für Absolventinnen und Absolventen solcher Kurse – von kostenlosen Reisen zur Förderung des landesweiten Austauschs, Gutscheinen für weitere Fortbildungen bis hin zur Teilnahme an Lotterien.

Auch bei kontroversen historischen Debatten rund um die Bewertung der Unabhängigkeitsbewegung der 1920er bis 1950er Jahre und ihrer Rolle im Zweiten Weltkrieg könnte der Staat eher gesellschaftliche Plattformen für offenen Austausch schaffen, als selbst Geschichtspolitik in diesem Bereich zu betreiben. Damit würde die Ukraine ihre Stärken – Pluralismus, Freiheit und eine aktive Zivilgesellschaft – mit legitimen Verteidigungsmechanismen gegen Desinformationskampagnen flankieren können, sollte dies als Ultima Ratio notwendig werden.

Jedoch lohnt es sich, die Dimensionen der Herausforderungen für die Ukraine nochmals in den Blick zu nehmen. Denn verglichen mit Deutschland und Ländern der EU muss sich hier ein deutlich ärmeres und polarisierteres Land mit unausgereiften politischen Institutionen und dem immer noch schweren Erbe der Sowjetzeit behaupten. Und all dies in einer gefährlichen innen- und außenpolitischen Bedrohungssituation, die kaum Fehler verzeiht. Nicht nur die europäischen Hauptstädte, sondern auch die Zivilgesellschaft(en) sollten hier ihren Austausch untereinander und mit der Ukraine nochmals deutlich vertiefen und ihren Weg so aktiv wie kritisch begleiten. Auch in dem Wissen, dass die Frage, wie weit der Kampf gegen Desinformation in kritischen Situationen getragen werden sollte, die offenen Gesellschaften des Westens trotz einiger Distanz zu den Schocks rund um den Brexit oder die US-Präsidentschaftswahl 2016 jederzeit wieder akut einholen kann. Krise oder nicht: Klar ist, dass Medienkompetenz, Inklusion und eine gesunde Debattenkultur die ersten und besten Mittel gegen alle Formen von Desinformation sind – sodass man auch auf Graustufen nicht ins Stolpern kommt.

 


 

Toni Michel ist Trainee im Auslandsbüro Kiew der Konrad-Adenauer-Stiftung.


 

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