Ausgabe: 3/2021
Der Journalismus ist weltweit seit einigen Jahren mit einer Krise an mehreren Fronten konfrontiert: einerseits mit einer Wirtschaftskrise, bedingt durch die Veränderungen auf dem Medienmarkt, andererseits mit einer technologischen Krise, verursacht durch den direkten Einfluss der Digitalisierung auf die Produktion und Verbreitung von Informationen. Diese strukturellen Transformationen wirken sich allerdings je nach Kontext durchaus unterschiedlich auf den Journalismus aus, da hier auch verschiedene journalistische Kulturen eine Rolle spielen. Seit seinem Aufkommen beschleunigt das Internet die Informationszyklen bis hin zu einem nicht abreißenden Nachrichtenstrom, der uns 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche mit Informationen versorgt. Dieser stetige und global vernetzte Informationsfluss verband sich im Zuge der Coronapandemie mit einem weltweit bestimmenden Thema, was zwar den Zugang zu qualitativ hochwertigen Informationen unabhängig vom Ort erleichterte, gleichzeitig aber auch die Grenzen eines auf den nationalen Rahmen beschränkten Journalismus aufzeigte.
Der weltweite Informationsaustausch wirft ein neues Licht auf journalistische Probleme wie Desinformation, Bedrohung der Meinungsfreiheit und den Einfluss von Nachrichtenquellen. Diese Phänomene betreffen den Journalismus weltweit, haben aber größere Auswirkungen in jenen Ländern wie Argentinien, in denen er nicht über die rechtlichen, beruflichen, ethischen und ausbildungsbezogenen Institutionen verfügt, wie wir sie im westlichen Kontext gewohnt sind. Das Gleiche gilt für die finanzielle Unabhängigkeit der Medien. Der wirtschaftliche Abschwung, den die Pandemie weltweit mit sich brachte, bedeutete für ein jahrzehntelang krisengeschütteltes Land wie Argentinien nach Angaben der Weltbank einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 9,9 Prozent. Diese Schwierigkeiten kommen zu den strukturellen Mängeln des Gesundheitswesens hinzu, die die Regierung veranlassten, einen harten Lockdown von mehr als 100 Tagen zu verhängen, was die Wirtschaftskrise weiter verschärfte. In der zweiten Hälfte des Jahres 2020 lebten 42 Prozent der städtischen Bevölkerung Argentiniens in Armut. 10,5 Prozent der Menschen waren von extremer Armut betroffen, während die Kinderarmut bei 57,7 Prozent lag. In diesem von Rezession geprägten wirtschaftlichen Umfeld wurden die von der Regierung geschalteten Werbeanzeigen zur wichtigsten Form der finanziellen Existenzsicherung für die meisten argentinischen Medien. Diese Situation ist auch in anderen Ländern Lateinamerikas durchaus üblich. Seit Jahren schon muss man sich in der Region mit der Tatsache auseinandersetzen, dass die amtierenden Regierungen die Hauptquelle der Informationen und Finanzierung sind. Besonders kritisch ist die Situation für die lokalen Medien, die vom Staat in Sachen Informationen und Finanzen fast vollständig abhängen.
Die mangelnde Unabhängigkeit der Presse ist einer der Faktoren, der für die schlechte Benotung der Demokratien in der Region verantwortlich ist. Der Democracy Index 2020 stellt Lateinamerika aufgrund der jüngsten Rückschläge auf eine Stufe mit Osteuropa: Auf beide Regionen zusammen entfällt die Hälfte der Länder mit unvollständigen Demokratien (flawed democracies). Diese Länder teilen Defizite wie mangelnde Transparenz und fehlenden Zugang zu öffentlichen Informationen sowie Spannungen zwischen Regierungsvertretern und der Presse, die vom Fehlen von Pressekonferenzen bis hin zu expliziten Angriffen auf Medien und Journalisten reichen.
Der vorliegende Beitrag gibt einen Überblick über die Situation des argentinischen Journalismus und stützt sich dabei auf drei Faktoren, die die besonderen Voraussetzungen veranschaulichen, unter denen Journalismus in Lateinamerika ausgeübt wird: Misstrauen der Gesellschaft in die Nachrichten, Einschränkung der Pressefreiheit und eine an diese Bedingungen angepasste Berufspraxis.
Misstrauen und politische Nutzung der Desinformation
Gemäß einer Studie des Reuters Instituts vertraut jeder dritte Argentinier den Nachrichten, die die Medien verbreiten. Dabei wird die Vertrauenswürdigkeit der traditionellen Medien (33 Prozent) ähnlich eingestuft wie die der sozialen Netzwerke (28 Prozent). Den Ergebnissen dieser Erhebung zufolge verzeichnen die argentinischen Nachrichten jedoch einen Glaubwürdigkeitsverlust von zehn Prozentpunkten zwischen 2018 und 2020. Die Vertrauenswürdigkeit der nationalen Medien reicht in diesem Zeitraum von 39 bis zu 57 Prozent. Der Anteil der Befragten, der sich den Medien gegenüber als misstrauisch oder neutral einstuft, gleicht dem Anteil derjenigen, die den Medien vertrauen.
Bei den Präsidentschaftswahlen 2019 konsolidierte sich in Argentinien ein Zwei-Parteien-System, in dem die beiden konkurrierenden Parteibündnisse Frente de Todos (Mitte-links) und Juntos por el Cambio (Mitte-rechts) neun von zehn Stimmen auf sich konzentrierten. Diese Polarisierung kommt auch in den Medien und in den Haltungen der Journalisten zum Ausdruck: Viele geben offen ihre politische Gesinnung preis, was sich auf die Glaubwürdigkeit der Nachrichten auswirkt. Dass kein Medium die 50-Prozent-Marke bei der Vertrauenswürdigkeit überschreitet, spricht für ein instabiles Verhältnis zum Journalismus. In Argentinien gibt es kein Medium, das von der Mehrheit der Bevölkerung bevorzugt wird und somit die öffentliche Meinung prägt. Die Regierung nutzt dieses brüchige Verhältnis der Bürger zur Information, um die Medien und den Journalismus offen als Urheber von Lügen und Verwirrungen anzuprangern. Im März 2020, zu Beginn der Pandemie, offenbarte das Edelman Trust Barometer, dass Medien und Journalisten, gemeinsam mit Politikern, als die am wenigsten vertrauenswürdigen Vermittler von Informationen angesehen wurden. Es war absehbar, dass sich diese Situation im Laufe der Monate noch verschärfen würde, insbesondere in einem Land wie Argentinien, das im Kampf gegen COVID-19 schlechte Ergebnisse aufweist (2.336,19 Todesfälle und 108.846,63 Erkrankungen pro eine Million Einwohner – Stand: 30. Juli 2021). Dem Edelman Trust Barometer 2021 zufolge denken 59 Prozent der Befragten in 28 untersuchten Ländern (einschließlich Argentinien), dass Journalisten falsche Informationen verbreiten. Dieser Prozentsatz deckt sich ungefähr mit den zwei Dritteln der Befragten, die laut den weiter oben zitierten Studien den Nachrichten nicht vertrauen.
Die Qualität der Information und ihr Gegenstück, die Desinformation, sind auch bezeichnend für die Bedingungen, unter denen Journalismus ausgeübt wird. Eine Auswertung von Indikatoren für Desinformation in 32 digitalen Medien in Argentinien kam zu dem Ergebnis, dass 21 dieser Medien ein hohes Risiko in Bezug auf Desinformation aufwiesen, zehn ein mittleres Risiko und nur ein Medium die Anforderungen an Informationsqualität wirklich erfüllte. Am schlechtesten bewertet wurden die Bereiche, die sich auf die operative und redaktionelle Integrität beziehen, wie beispielsweise Transparenz der Eigentumsverhältnisse, Finanzierung, Umgang mit Kommentaren und Richtigstellungen. Dieses Ergebnis hängt auch damit zusammen, dass es in den argentinischen Medien an einer Tradition von Institutionen für Fragen der Ethik und Selbstregulierung fehlt, die für die Erstellung gemeinsamer Richtlinien nötig wären. Nur sehr wenige Medien haben Ethikkodizes oder Ombudsleute für die Leser und nur eine Zeitung hat sich globalen journalistischen Qualitätsinitiativen wie dem Trust Project angeschlossen.
In diesem allgemeinen Kontext des öffentlichen Misstrauens gegenüber Nachrichten verschärfte die nationale Regierung unter Präsident Alberto Fernández (Frente de Todos) während der Pandemie die Spannungen mit der Presse. Regierungsbehörden förderten Initiativen, die im Namen des Kampfes gegen Desinformation und Fake News eine Kontroverse mit Journalisten und den sie vertretenden Organisationen auslösten. In einer offiziellen Werbekampagne wurden die Bürger darauf aufmerksam gemacht, dass sie in einer „Infodemie“ lebten. „Deshalb bitten wir Sie, wenn Sie Informationen benötigen, offizielle Quellen heranzuziehen. Die Infodemie zu vermeiden, ist auch eine Form der gegenseitigen Fürsorge“, lautete die Botschaft, die damit andere, nichtstaatliche Quellen diskreditierte. Obwohl es in Argentinien zwei zivilrechtliche Vereinigungen gibt, die Faktenchecks vornehmen, förderte die Regierung von staatlichen Stellen aus zwei Initiativen, deren Aufgabe es ist, auf Nachrichten hinzuweisen, die aus Sicht der Regierung Falschinformationen zum Coronavirus darstellen. Zu erwähnen ist, dass Argentinien ein staatliches Mediensystem hat, das sich insofern stark von den europäischen öffentlichen Systemen unterscheidet, als dass das argentinische Rundfunksystem keine Haushaltsautonomie hat und seine Verwaltungsorgane von der jeweiligen Regierung politisch ernannt werden. Auch die staatliche Nachrichtenagentur Télam, von der eine der beiden zuvor genannten Initiativen ausging, ist nicht mit anderen öffentlich geführten Nachrichtenagenturen vergleichbar, sondern hängt vom Staatssekretariat für Medien und öffentliche Kommunikation ab. Diese Agentur entwickelte Confiar: ein Portal, dessen Aufgabe es ist, die „Infodemie“ zu bekämpfen, die auf der entsprechenden Homepage als „Informationsepidemie in der Pandemie“ bezeichnet wird. In dieselbe Richtung ging auch die Initiative der sogenannten Defensoría del Público (streng genommen eine staatliche Stelle, die der im Gesetz über audiovisuelle Medien vorgesehenen Kontrollbehörde untersteht) zur Einrichtung einer Beobachtungsstelle für die „symbolische Gewalt und bösartigen Nachrichten, die bereits ausgestrahlt wurden“.
Berufsverbände wie das Foro de Periodismo Argentino (FOPEA) und die Asociación de Entidades Periodísticas Argentinas (ADEPA) äußerten ihre Besorgnis darüber, dass die Regierungsbehörden vorgeben, welche Informationen über die Pandemie als angemessen gelten. Diese Art von Maßnahmen, die unter dem Vorwand der Gesundheitskrise ergriffen werden, gelten bei Messungen wie dem Global Freedom Index von Freedom House als Informationsbeschränkung und Druck auf die Presse. In der Erhebung fiel Argentinien zwar zurück, blieb aber in der Kategorie der freien Länder eingestuft.
Das geringe Vertrauen in Nachrichten, das in den Umfragen festgestellt wurde, spiegelt ein allgemeines Klima des Misstrauens wider, innerhalb dessen die Bürger aber ein durchaus pragmatisches Verhältnis zu den Medien haben. Im konkreten Fall der Coronapandemie haben internationale Untersuchungen nämlich gezeigt, dass die Bevölkerung die Rolle der Presse trotz des allgemeinen Misstrauens gegenüber Nachrichten zu schätzen wusste. Eine spezielle Studie zu Fehlinformationen über das Coronavirus zeigte, dass für einen Großteil der argentinischen Befragten die Medien dazu beigetragen haben, die Pandemiekrise zu verstehen (67 Prozent der Befragten) und zu erklären, welche Gegenmaßnahmen es gibt (75 Prozent). Diese Anteile liegen sogar über den in Großbritannien, den USA, Deutschland, Spanien und Südkorea gemessenen Werten.
Pressefreiheit unter Druck
Die Spannungen zwischen der Regierung und der Presse prägen teilweise die öffentliche Debatte. Sie schlagen sich auch in Indikatoren zur Pressefreiheit wie der jährlichen Rangliste von Reporter ohne Grenzen nieder. Diese berücksichtigt direkte Angriffe und strukturelle Bedingungsfaktoren wie Pluralismus im Mediensystem, rechtliche Rahmenbedingungen, Infrastruktur, Transparenz und Zensur in der Bewertung. Argentinien lag bis 2019 im ersten Drittel der 180 bewerteten Länder. Seitdem befinden sich aus Südamerika nur noch Uruguay (Platz 18) und Chile (54) im ersten Drittel. Argentinien (69) liegt heute im Mittelfeld der Tabelle, ebenso wie Ecuador (96), Brasilien (111) und Bolivien (110). Am unteren Ende der Tabelle befinden sich Länder, in denen die Gewalt gegen Journalisten extrem ist, wie Kolumbien (134), Mexiko (143) und Venezuela (148). Von den hier erwähnten Ländern verzeichneten nur Uruguay, Mexiko und Ecuador in den letzten fünf Jahren eine leichte Verbesserung bei der Ausübung eines freien Journalismus, was für eine allgemeine Verschlechterung in der Region Lateinamerika spricht.
Für das aggressive Gebaren von Präsidenten gegenüber der Presse gibt es in der Region Präzedenzfälle. Schon Staatsoberhäupter wie Rafael Correa (Ecuador, 2007 bis 2017) und Cristina Fernández de Kirchner (Argentinien, 2007 bis 2015) verbreiteten täglich Feindseligkeiten über institutionelle Kanäle und ihre eigenen Twitter-Accounts. Dieser antagonistische Stil ist nicht auf eine Seite des politischen Spektrums beschränkt, sondern vielmehr ein typisches Stilmerkmal von Populisten, ganz egal ob von rechts oder links. Das Klima wachsender Spannungen zwischen den lateinamerikanischen Staatsoberhäuptern und der Presse wurde auf der Versammlung der Inter American Press Association im Jahr 2021 deutlich, die explizit Staatsoberhäupter erwähnte, die eine ausdrücklich feindselige Haltung gegenüber Journalisten einnehmen: „Politische Akteure diskreditieren und stigmatisieren weiterhin die journalistische Praxis und schaffen dadurch ein Klima der Feindseligkeit, das in konkrete Gewalttaten gegen Medien und Journalisten ausarten kann. Die Präsidenten Nayib Bukele in El Salvador, Jair Bolsonaro in Brasilien, Andrés Manuel López Obrador in Mexiko und Alberto Fernández in Argentinien sind diejenigen, welche Journalisten bei der Ausübung ihrer Tätigkeit besonders bedrängen. In Bolivien, Venezuela, Kuba, El Salvador und Nicaragua nutzen die Regierungen außerdem Staatsmedien und soziale Netzwerke, um Journalisten in Verruf zu bringen.“
Abb. 1: Entwicklung der Pressefreiheit in lateinamerikanischen Ländern 2011–2021
Dieselbe Organisation machte auch auf das Risiko aufmerksam, dass Regierungen aus dieser Spannung heraus den rechtlichen Spielraum für Journalismus einschränken könnten. Ein Beispiel ist die Initiative der argentinischen Regierung, den Begriff „Lawfare“ gesetzlich zu verankern. Durch dieses gesetzgeberische Manöver sollen journalistische Recherchen kriminalisiert werden, die vermeintlich auf einer Verschwörung zwischen Journalismus, Politik und Justiz beruhen. Professor Carmen Fontán fasst den Begriff „Lawfare“ zusammen als „das Zusammenspiel von Richtern, Medien sowie politischer und wirtschaftlicher Macht, das darauf abzielt, die Anwendung des Gesetzes zuungunsten bestimmter politischer Persönlichkeiten oder politischer Gruppen aus dem [linken; Anmerkung der Redaktion] national-populären Lager zu manipulieren“. Die argentinische Regierung brachte im Mercosur-Parlament auch eine Vorlage ein, die der Bekämpfung des vermeintlichen „Lawfare“ in der gesamten Region einen rechtlichen Rahmen geben soll. Der Begriff wird auch häufig in den öffentlichen Auftritten von Rafael Correa und Cristina Fernández de Kirchner verwendet – in Anspielung auf die Korruptionsverfahren, in die sie verwickelt sind, und die Berichterstattung der Medien darüber, die sie als Teil eines „Krieges der Justiz und der Kommunikationsmedien“ gegen ihre Personen bezeichnen.
In diesem Kontext der offenen Feindseligkeiten von Regierungsmitgliedern gegenüber Journalisten ist es zu einer Zunahme direkter Angriffe von Demonstranten gekommen, wenn die Presse versucht, über eine öffentliche Veranstaltung zu berichten. Nach einem Rückgang in den Vorjahren nahmen 2020 in Argentinien die Angriffe auf Journalisten um 40 Prozent zu, so das Monitoring des argentinischen Journalismusforums. Die Anzahl ist allerdings noch weit vom Niveau vor 2014 entfernt.
Informationsbeschränkungen für Journalisten
Der ungünstige politische und wirtschaftliche Kontext gestaltet auch die Finanzierung der Presse komplexer, da die Regierungen wichtige Auftraggeber für Werbung auf dem Medienmarkt sind. So hat die Schaltung von staatlichen Werbekampagnen dafür gesorgt, dass die argentinische Regierung mittlerweile zum wichtigsten Werbekunden vieler Medienunternehmen geworden ist. Ein Indikator für den Bedarf an alternativer Finanzierung ist die Anzahl der Medien, die sich für den Global Journalism Emergency Relief Fund for local news beworben haben, der im April 2020 von der Google News Initiative ins Leben gerufen worden war. In den zwei Wochen der Ausschreibung gingen aus Lateinamerika 2.350 Bewerbungen aus 17 Ländern ein. 90 Prozent der 1.000 Organisationen, die für eine Förderung ausgewählt wurden, waren kleine Redaktionen mit weniger als 26 Lokaljournalisten, die um ihr Überleben kämpften. Staatliche Werbung als Hauptfinanzierungsquelle für Journalismus ist insofern ein einflussreicher Faktor für die journalistische Tätigkeit, als dass Regierungen sowohl als Quelle offizieller Informationen als auch als Finanzierungsquelle fungieren. In dieser privilegierten Position können sie den Zugang zu offiziellen Dokumenten einschränken oder unabhängige Untersuchungen behindern.
Abb. 2: COVID-19-Todesfälle in Argentinien (pro Million Einwohner)
Diese Schwierigkeiten beim Zugang zu öffentlichen Informationen sind einer der größten Unterschiede zu den Praktiken des westlichen Journalismus. In Argentinien gibt es erst seit 2017 ein Gesetz über den Zugang zu öffentlichen Informationen, das eine jahrelange politische Kultur der Geheimhaltung und fehlender öffentlicher Statistiken beenden sollte. Die Berichterstattung über den Umgang mit der Pandemie zeigte jedoch, dass weiterhin Schwierigkeiten bestehen. Die Daten über das öffentliche Gesundheitssystem waren bis Juli 2020 nicht auf den Webseiten der offiziellen Stellen verfügbar. Die Informationen über die Impfkampagne wurden erst zwei Monate nach deren Beginn im Dezember 2020 veröffentlicht – und dann auch nur unvollständig. Unstimmigkeiten im COVID-19-Testregister führten dazu, dass die Website Our World in Data der Universität Oxford die Daten aus Argentinien zwischen September und Dezember 2020 ausschloss. Auch in der Statistik der Todesfälle zeigen die Grafiken der Webseiten einen Sprung vom 30. September auf den 7. Oktober 2020, der fehlende Übermittlungen von Todesfällen in den Vormonaten bestätigte. Dies erforderte das Nachtragen in späteren Wochen.
Hinzu kam, dass die allgemeinen Einschränkungen der Freiheitsrechte im Zuge der Corona-pandemie den Journalismus besonders heftig trafen, da er von lokaler und globaler Mobilität und dem Zugang zu Informationen abhängt. Obwohl der Journalismus in Argentinien als systemrelevante Tätigkeit angesehen wird und folglich keinen Bewegungsbeschränkungen unterliegt, waren die allgemeinen Einschränkungen des öffentlichen Verkehrs, die im achtgrößten Land der Welt verhängt wurden, besonders hart. Sie reichten bis zur kompletten Einstellung des Betriebs. Gemäß dem Response Stringency Index der Universität Oxford befindet sich Argentinien unter den Ländern mit den meisten Restriktionen. Der Index berücksichtigt neun Indikatoren, die unter anderem Schließungen von Schulen, Arbeitsplätzen und Reisebeschränkungen beinhalten. In der Skala von 0 bis 100 stellen die höheren Werte mehr Einschränkungen dar. Argentinien wurde in den ersten Wochen, unmittelbar nach dem Ausruf des Gesundheitsnotstands am 23. März 2020, der Wert 100 zugeschrieben. Am 3. November 2020 lag dieser trotz der Lockerungen des Lockdowns immer noch bei 80. Diese Restriktionen der Bewegungsfreiheit gingen in einigen Bezirken so weit, dass Vertretern der nationalen Presse der Zutritt untersagt wurde und die Medien gezwungen waren, vor Gericht zu gehen, um über die Existenz von Internierungszentren für COVID-19-Verdachtsfälle berichten zu können. Diese Situation fand dank der Veröffentlichungen von Bürgern und Oppositionsparteien in sozialen Netzwerken ein Echo in der Presse und bei internationalen Organisationen, wodurch es beispielsweise möglich wurde, der Verfolgung durch die Regierung der Provinz Formosa unter dem peronistischen Gouverneur Gildo Insfrán zu entgehen. Insfrán wird seit drei Jahrzehnten ununterbrochen wiedergewählt. Diese Situation veranschaulicht, wie Provinzregierungen ihre dominante Position missbrauchen und jede kritische Meinung als vermeintliche Desinformation oder feindselige Berichterstattung verfolgen können.
Ein weiterer Punkt, der die Schwierigkeiten beim Zugang zu Informationen zeigt, ist das Fehlen von Pressekonferenzen. Gerade dieses für die Pandemie zentrale Kommunikationsinstrument wurde in Argentinien, wie schon seit zwei Jahrzehnten, wenig genutzt. Pressekonferenzen als Ort, an dem Regierungen Rechenschaft ablegen müssen, haben noch nicht Eingang in die demokratische Kultur des Landes gefunden. Seit der Wiedererlangung der Demokratie im Jahr 1983 wechselten sich in Argentinien Regierungen, unter denen Pressekonferenzen mit einer gewissen Regelmäßigkeit abgehalten wurden, mit anderen ab, die dieses Mittel nur in Ausnahmefällen nutzten und zeitweilig völlig aussetzten. Nach der sozialen und politischen Krise Argentiniens im Jahr 2001, in deren Folge bis 2003 eine Übergangsregierung eingesetzt wurde, fanden nur noch sporadisch Pressekonferenzen statt. Seitdem bevorzugen die nationalen und lokalen Regierungen ihre eigenen Kanäle und sozialen Netzwerke, um Ankündigungen ohne die Vermittlung durch die Presse vorzunehmen. Diese vom peronistischen Präsidenten Néstor Kirchner (2003 bis 2007) eingeführte Methode, in der auch offen seine Feindseligkeit gegenüber Journalisten, die an den Pressekonferenzen des Präsidenten teilnahmen, zum Ausdruck kam, wurde von seiner Nachfolgerin Cristina Fernández de Kirchner (2007 bis 2015) beibehalten. Während ihrer Amtszeit als Präsidentin pflegte sie nur sehr wenige Kontakte zur Presse und seit ihrer Ernennung zur Vizepräsidentin im Jahr 2019 unterhält sie so gut wie gar keine Kontakte mehr. Mauricio Macri (2015 bis 2019), der erste demokratisch gewählte Präsident eines nichtperonistischen Bündnisses in diesem Jahrhundert, hielt in einer Amtszeit mehr Pressekonferenzen ab als seine Vorgängerin in zwei Regierungsperioden. Allerdings nahm ihre Häufigkeit gegen Ende seiner Amtszeit wieder ab: Sie sank von 26 Konferenzen im Jahr 2016 auf sieben im Jahr 2019. Präsident Alberto Fernández, der sein Amt im Dezember 2019 antrat, wählte für die ersten Ankündigungen im Zusammenhang mit dem pandemiebedingten Lockdown Pressekonferenzen, die er dann durch aufgezeichnete Ansprachen und persönliche Interviews mit strategisch ausgewählten Medien ersetzte. Wie in der Sektion der Pressemitteilungen auf der Webseite der Regierung zu lesen ist, gewährte Präsident Fernández in den ersten 16 Monaten seiner Amtszeit 15 Pressekonferenzen und 95 Exklusivinterviews. Dabei ist es üblich geworden, dass die Veranstaltungen von offiziellen Medien übertragen werden, wie es bei der Eröffnung der Parlamentssitzungen im Jahr 2020 der Fall war. Da der Zugang der übrigen Presse nicht gestattet ist, beschränken sich die Journalisten darauf, die vom Präsidialamt ausgestrahlten Bilder zu kommentieren.
Schlussfolgerungen
Der Fall Argentinien zeigt bestimmte Rahmenbedingungen auf, die sich zum großen Teil auch in anderen Ländern der Region wiederfinden. Seit Jahren steht die Presse unter politischen und wirtschaftlichen Zwängen. Die finanzielle Abhängigkeit von Werbeanzeigen der Regierung ist bei vielen Medienunternehmen so groß, dass jede Kürzung der entsprechenden Budgets zur Gefahr für den Fortbestand der Arbeitsplätze wird. Ein Beispiel dafür ist, dass allein in der Stadt Buenos Aires sieben 24-Stunden-Nachrichtenkanäle (Todo Noticias, La Nación Más, A24, Crónica, C5N, IP, Canal 26) über das Pay-TV-System laufen. Bei all diesen Sendern handelt es sich um Unternehmen, die im direkten Wettbewerb um Werbeeinkünfte stehen. Einige verschaffen sich Wettbewerbsvorteile durch wohlwollende Berichterstattung über bestimmte Parteien und Gewerkschaften. Analysten bezeichnen diese Art des Journalismus als „militante“ (engagiert). Darunter verstehen sie eine eindeutige politische Positionierung, die nicht selten an Finanzinvestitionen gekoppelt ist.
Diese Einschränkungen haben eine journalistische Kultur geprägt, die eher einem interpretativen Modell entspricht als einem Journalismus, der die Staatsmacht tatsächlich kontrolliert. Unter interpretativem Modell ist ein Übermaß an Meinung und Analyse auf Kosten der sachlichen Darstellung der Fakten zu verstehen. Ein Symptom dieser Entwicklung ist der seit Beginn des Jahrtausends zu beobachtende Rückzug des investigativen Journalismus. Angesichts der mangelnden Kontrollmöglichkeiten des Journalismus hat die Zivilgesellschaft eine aktive Rolle in der Forderung nach Transparenz und Zugang zu öffentlichen Informationen eingenommen. Dabei unterstützt sie Journalisten bei ihrer Recherche. Dies bildet letztendlich eine strategische Allianz zwischen Zivilgesellschaft und Medien.
Die Einschränkungen der Informationsfreiheit in Argentinien unterscheiden sich von den Gefahren, denen der Journalismus in Ländern wie Mexiko ausgesetzt ist, oder von der staatlichen Verfolgung der Medien in Venezuela. Dennoch wirken sie sich negativ auf die Ausübung eines freien Journalismus aus. Auf der anderen Seite hat der globale Charakter der Informationen über die Pandemie rasche Veränderungen in der Berichterstattung erzeugt, die Transparenz offizieller Daten gefördert und die Unterstützung internationaler Organisationen zugunsten freier Presseberichterstattung herbeigeführt – und der Austausch mit internationalen Medien trägt auch dazu bei, die Standards in der lokalen Presse zum Positiven zu verändern.
Olaf Jacob ist Leiter des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Argentinien.
Dr. Adriana Amado ist Wissenschaftlerin an der Universidad Argentina de la Empresa und Vorsitzende der NGO Infociudadana.
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