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Adnan Abidi, Reuters

Auslandsinformationen

Religiöser Nationalismus in Südasien

von Dr. La Toya Waha

Zwischen nationaler Einheit und gesellschaftlicher Spaltung

Die jüngste Serie von Gewalthandlungen in Südasien wirft die Frage auf, inwieweit die Gewalt in den Gesellschaften mit dem Aufstieg des religiösen Nationalismus zusammenhängt. Ein Blick auf dessen Wurzeln, Entwicklung und Bedeutung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt hilft, eine Antwort darauf zu finden.

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Religiöse und nationale Identitäten haben bekanntermaßen großen Einfluss auf politisches Engagement. Während Religionen Einheit zwischen Anhängern desselben Glaubensbekenntnisses unabhängig von ihrem Wohnort fördern, betonen Nationen die Einheit von Menschen innerhalb eines bestimmten Territoriums auf der Basis gemeinsamer Eigenschaften wie Sprache oder Ethnizität. Obwohl die Verbindung zwischen Religion und Nationalismus kontra­intuitiv scheint (erstere übersteigt Räume, zweiterer ist an sie gebunden), prägt der Ruf nach Nationalstaaten, die aus einer religiös homogenen Gemeinschaft bestehen und einen jeweils eigenen, von anderen Religionsgemeinschaften abgegrenzten Raum beanspruchen, bis heute Südasien.

Berichte über Auseinandersetzungen zwischen Muslimen und Hindus in Indien, Buddhisten und Muslimen in Sri Lanka sowie Angriffe auf religiöse Minderheiten und Säkularisten in Pakistan und Bangladesch haben vielerorts die Frage aufgeworfen, wie der religiöse Nationalismus mit dem Anstieg der Gewalt in den Gesellschaften Südasiens zusammenhängt und ob es überhaupt möglich ist, stabile Nationen in religiös diversen Gesellschaften herauszubilden.

Dieser Beitrag möchte der Frage nach den Ursprüngen des religiösen Nationalismus in Südasien nachgehen, nach den Gründen seines Bedeutungszuwachses in den letzten Jahren sowie dem Grad des Einflusses, den sein Aufstieg auf die gesellschaftliche Gewaltentwicklung und den sozialen Zusammenhalt hat.

 

Die Wurzeln des südasiatischen Nationalismus

Weder der Nationalismus im Allgemeinen noch der religiöse Nationalismus im Besonderen sind in Südasien ein neues Phänomen. Bereits im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert entstanden verschiedene nationalistische Strömungen aus dem Widerstand gegen die britische Kolonialherrschaft. Eine der Schlüsselinstitutionen, der Indische Nationalkongress (­INC), wurde bereits 1885 gegründet. Er prägte maßgeblich die gewaltfreie Unabhängigkeitsbewegung in Indien und inspirierte zahlreiche andere Bewegungen weltweit. Auf dem indischen Subkontinent vertraten drei nationalistische Strömungen verschiedene Ansichten darüber, wie das unabhängige Indien aussehen sollte, wobei sie ihre Ideale in Abgrenzung zueinander bestärkten – der ­INC, die All-India Muslim League und der Rashtriya Swayamsevak Sangh (­RSS).

Der ­INC umfasste verschiedene ideologische, religiöse, sprachliche und ethnische Gruppen, die durch das gemeinsame Streben nach einem unabhängigen und vereinten Indien zusammengehalten wurden. Angeführt von Mahatma Gandhi und später von Jawaharlal Nehru versuchte der Kongress die unterschiedlichen Kasten-, Klassen- und Religionsgrenzen zu überwinden und alle Inder in einem Staat zu vereinen.

Die Muslim-Liga baute ihr Ideal einer Nation auf den Islam. Basierend auf den Ideen der „Zwei-Nationen-Theorie“ forderte die Liga einen separaten Staat für Muslime aus den Regionen und Staaten Britisch-Indiens mit einer überwiegend muslimischen Bevölkerung.

Die dritte wichtige nationalistische Strömung wurde durch den ­RSS vertreten, dessen Ideal auf dem Hindutva-Konzept basierte. Dieses zielte unter anderem darauf ab, einen hinduistischen Staat mit hinduistischen Werten und einer im Kern hinduistischen Kultur zu errichten. Obwohl der ­RSS während des Unabhängigkeitskampfes nicht direkt an antibritischen Operationen teilnahm, förderte er die Hindutva doch durch soziales Engagement. Trotz einiger Verbote sowohl vonseiten kolonialer als auch postkolonialer Regierungen drängte der ­RSS auf eine Verankerung der Hindutva und vertrat sie politisch mithilfe ihrer verwandten Parteien, zuerst der Bharatiya Jana Sangh (BJS) und später der Bharatiya Janata Party (BJP).

Durch die politischen Manifestationen und Wechselwirkungen dieser unterschiedlichen Nationalismen wurde Britisch-Indien gespalten. Das Grauen dieser Teilung – Millionen Menschen mussten flüchten, Hunderttausende wurden getötet, vergewaltigt oder traumatisiert – prägt bis heute das kollektive Gedächtnis der Menschen. Die ungelösten Grenzstreitigkeiten um Kaschmir stürzten Indien und Pakistan in mehrere Kriege (1947, 1965 und 1999) und forcieren auch Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit weiterhin eine Politisierung religiöser Identitäten. Religiöser Nationalismus schuf somit die Grundlage für die politischen Grenzen auf dem indischen Subkontinent, wie wir sie heute kennen.

 

Bangladesch – von religiösem zu ­säkularem Nationalismus und zurück?

Pakistan bestand zunächst aus zwei durch indisches Territorium getrennte Teile: Westpakistan und Ostpakistan. Der neue Staat basierte auf der Idee, der Islam könne der Kitt zwischen den kulturell, ethnisch und sprachlich diversen Muslimen Britisch-Indiens sein. Die Religion behielt ihre zentrale Rolle im Narrativ des pakistanischen Staates sowie in der Verfasstheit der Nation, obschon sich die Rolle der Religion in Staat und Gesellschaft veränderte. Seine Hochphase hatte der Islam zwischen 1977 und 1988 unter der Herrschaft des Generals Muhammad Zia ul-Haq, der die Fusion von Islam und Staat institutionalisierte und sich für den Aufbau einer ­„idealen“ islamischen Gesellschaft einsetzte.

Dieses Nationenkonzept wurde jedoch durch den ethnischen und sprachlichen Nationalismus wie den der Belutschen und Bengalen in Frage gestellt, genau wie heute durch die panislamistische Bewegung. Die Forderungen nach unabhängigen Vaterländern und einer Abspaltung von Pakistan entlang ethnischer Grenzen forderte damals wie heute die Rechtmäßigkeit eines Staates und einer Nation heraus, die auf einem gemeinsamen Glauben beruhen. Für Pakistans politische Elite ist die Abwehr dieser Ansprüche daher eine überlebenswichtige Aufgabe.

Die Idee des säkularen Staates fand ihren Weg in die Verfassung des neu gegründeten Bangladesch.

Das überwiegend von Bengalen bewohnte Ostpakistan erhielt kaum Anerkennung – weder kulturell noch politisch. Obwohl in dem Landesteil mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebte, spiegelte sich dies nicht in den staatlichen Einrichtungen wider. Der ungleiche Zugang zu Ressourcen und Macht stärkte die Mobilisierungsfähigkeit der separatistischen Kräfte. 1971 führte die gewaltsame Unterdrückung der Interessen dieser Bevölkerungsteile Ostpakistan in einen Unabhängigkeitskrieg. Die Awami-Liga (AL) führte den Widerstand unter der Leitung einer akademischen Elite an, die fest vom Ideal einer säkular, kulturell und sprachlich begründeten Nation überzeugt war. Der von ihnen umworbene säkulare Kulturnationalismus half ihnen dabei, das in Pakistan herrschende Narrativ einer islamischen Einheit zu überwinden.

Durch die AL fand die Idee eines säkularen Staates ihren Weg in die Verfassung des neu gegründeten Bangladesch. Doch für große Teile der Bevölkerung schlossen sich die bengalische und muslimische Identität nicht gegenseitig aus. Nach einer Attentatsserie und dem Aufbau einer Militärherrschaft verlor die säkulare politische Elite der AL ihre zentrale Rolle. Parallel zur Islamisierung des Staates und der Gesellschaft in Pakistan strich das Regime unter General Ziaur Rahman 1977 die Ideale des Säkularismus und Sozialismus aus der Verfassung – nicht einmal zehn Jahre nach der Trennung von Pakistan. Das ehemalige auf Ethnie und Muttersprache begründete Verständnis der bangladeschischen Nation wurde durch religiöse Politik und den Aufruf, an Allah zu glauben, ausgetauscht und seine säkulare Grundlage durch den Islam ersetzt. 1988 wurde der Islam zur Staatsreligion erhoben.

Nach der Rückkehr zu einer demokratischeren Regierung hatte die AL 2008, getragen von dem durch sie geförderten säkularen Nationalismus, wieder an politischer Stärke gewonnen. Die Gesellschaft in Bangladesch erlebte unterdessen eine Transformation. Ausländische Einflüsse förderten die Identifizierung mit der transnationalen islamischen Gemeinschaft (Umma) und die Arabisierung der muslimischen Identität. Auch die Elite der AL, einst selbst Trägerin des säkularen bangladeschischen Nationalismus, passte sich der gestärkten Rolle des Islams an. Obwohl die AL 2008 ihre säkulare Einstellung wiederbelebt hatte, vollzog sie mit der Förderung dessen, was anderorts als „staatlich gelenkte Islamisierung in Bangladesch“ bezeichnet wurde, eine eindeutige Kehrtwende.

Eine grundlegende Verschiebung vom säkularen zum religiösen Nationalismus durch die steigende Bedeutung religiöser Befindlichkeiten beherrscht die bangladeschische Politik und macht die Grenzen der bangladeschischen Bevölkerung muslimischen Glaubens zu den Grenzen der nationalen Gemeinschaft. Die Folgen sind eine wachsende Zahl von Angriffen auf religiöse Minderheiten und säkulare Blogger.

 

Indien – vom Säkularismus zur Hindutva?

Im Gegensatz zum religiösen Nationalismus der Muslim-Liga widersetzte sich der ­INC grundsätzlich der Teilung Indiens. Die Führung des Kongresses wollte die religiösen Gemeinschaften vereinen und versuchte die Spaltungen innerhalb der Gesellschaft mittels Säkularismus und Sozialismus zu überwinden. Doch die britischen Herrscher gaben den Forderungen der Liga nach und teilten Indien in zwei voneinander unabhängige Staaten auf. Muhammad Ali Jinnah wurde zum Oberhaupt des muslimischen Staates Pakistan und Jawaharlal Nehru zum Ministerpräsidenten von Indien, wo der ­INC bis 1977 regierende Partei blieb.

Der Säkularismus und Sozialismus des ­INC vermochten sich in dem jungen, unabhängigen Indien tief zu verwurzeln und prägten die politische Landschaft des Landes. „Das Wort ‚säkular‘ wurde 1976 in die Präambel der Verfassung aufgenommen. Im indischen Gebrauch impliziert es sowohl eine klare Trennung von Kirche und Staat als auch den gleichen Status aller Religionen.“Obgleich auch der vom Kongress geförderte Nationalismus auf den religiösen Traditionen Indiens aufbaute, stand er doch für den säkularen indischen Staat.

Trotz der breiten Unterstützung und der Wahlerfolge bis 1977 konnte der ­INC nie alle Bürger von dem von ihm vertretenen Narrativ einer indischen Nation überzeugen. Im Verlauf seiner Unabhängigkeit erlebte Indien Aufstände und Sezessionsbewegungen. Diese fußten auf einem ethnischen oder sprachlichen Nationalismus wie etwa dem tamilischen Nationalismus in den 1960er Jahren oder dem religiösen Nationalismus wie sichtbar im Kampf der Sikhs um Khalistan in den 1970er und 1980er Jahren. Mit der zweigleisigen Strategie von Entgegenkommen auf der einen und einem harten Durchgreifen gegenüber gewalttätigen Gruppen auf der anderen Seite gelang es Indien, Rebellen wieder in den Staat einzugliedern.

Die Akzeptanz des säkularen Staates unter den religiösen Gemeinschaften sollte durch bestimmte Anreize erhöht werden – etwa durch „positive Diskriminierung“ und finanzielle Unterstützung für religiöses Engagement, die Anerkennung religiöser Rechte bestimmter Gemeinschaften sowie einen besonderen Status für bestimmte Gruppen und Staaten. Diese Maßnahmen boten zwar kurzfristig Stabilität, langfristig wurden die Verhandlungen zur Nationalidentität, zu den Rechten und Pflichten der Bürger und vor allem zu deren Loyalität dadurch allenfalls verschoben. Die Dominanz regionaler, religiöser und ethnischer Identitäten verhindert die Entstehung einer übergeordneten indischen Identität. Das muslimische Familienrecht, die staatliche Förderung der Pilgerreise (Haddsch) und die besondere Stellung Kaschmirs verfestigen die religiöse Identität sowohl bei Muslimen als auch Hindus. Islamistische, vermeintlich von Pakistan finanzierte Terroranschläge, häufige Auseinandersetzungen mit diesem Land sowie Spannungen und Konflikte zwischen Hindus und Muslimen – besonders sichtbar im Konflikt um den Ram-Tempel und die Babri-Moschee in Ayodhya – stellen die Loyalität gegenüber dem säkularen Staat und den Mitbürgern auf die Probe.

Angesichts der offenen Fragen und widersprüchlichen Antworten wächst der Zuspruch für den ­RSS und die ­BJP. Die Ablehnung der Appeasement-Politik, der Status des Ram-Tempels und der besondere Status Kaschmirs waren 2019 allesamt Themen des Wahlprogramms. Die Politik der aktuellen ­BJP-Regierung bezieht sich auf die Versprechen dieses Wahlprogramms und möchte die Fragen klären, die seit der Trennung Indiens und Pakistans 1947 größtenteils noch offen sind.

Die Maßnahmen der aufeinanderfolgenden ­BJP-Regierungen (2014 bis 2019 und seit 2019) stießen allseits auf Kritik. Doch nicht alle Proteste, wie z. B. die Proteste während der Einführung des neuen Citizenship Amendment Act, lehnten radikale Veränderungen ab. In Assam kam es jedoch aus dem Gefühl heraus, die BJP-Regierung habe ihre Versprechen gebrochen, nicht genug gegen die illegale Einwanderung aus Bangladesch unternommen und die Bürger so mit der Bedrohung ihrer distinkten assamesischen Identität alleingelassen, zu zahlreichen Protesten.

Die zunehmende Unterstützung der BJP verdeutlicht den Wunsch Indiens, eine tatsächliche Nation zu schaffen und auf transnationale Herausforderungen zu reagieren.

Die Revision sogenannter Beschwichtigungs­politik von Minderheiten, etwa in Form der stufenweisen Abschaffung der Förderung muslimischer Pilgerreisen bis 2022 oder Neubestimmung von Mitteln zugunsten der Bildung von Frauen und Mädchen aus Minderheiten, hatte zum Ziel, den Eindruck zu überwinden, der Staat bemühe sich mehr um die Minderheiten als um die hinduistische Mehrheit. 

Auch wenn einzelne Schritte und Gesetze in Frage gestellt werden können, so verdeutlicht die zunehmende Unterstützung der ­BJP doch den Wunsch des Landes, eine tatsächliche Nation zu schaffen und auf transnationale Herausforderungen wie illegale Migration, sich verändernde Identitäten und Loyalitäten außerhalb des Landes zu reagieren.

Doch der Wahlerfolg der Hindu-Nationalisten ist nicht nur die Folge der Politik zu Identitätsfragen. Die Fähigkeit der ­BJP, Menschen mithilfe von Kampagnen in den sozialen Medien zu mobilisieren, ihre Pläne zur Frauen- und Jugendförderung, Narendra Modis nichtelitärer Hintergrund und die Vorstellung einer Vision für Indiens Zukunft forcierten insgesamt den kaum für möglich gehaltenen Wahlerfolg der ­BJP. Doch hat die Bereitschaft der indischen Bürger, die Identitätspolitik hinter sich zu lassen, indem sie einen Staat für Hindus sichern und an der Zukunft einer Nation arbeiten, deren Grenzen und Zugehörigkeiten klar definiert sind, zum Wahlerfolg der BJP beigetragen. 

Das Vorhaben der ­BJP kann als Versuch verstanden werden, eine Staatsnation in einen Nationalstaat umzuwandeln. Das Projekt der Hindu-Nationalisten basiert auf der Ablehnung des Kongress-eigenen Säkularismus, steht in deutlicher Opposition zum islamischen Nationalismus und sucht gleichzeitig Antworten auf transnationale Herausforderungen.

 

Sri Lanka – Buddhistischer Nationalismus als Waffe gegen die Islamisierung?

Der Buddhismus spielt nach wie vor eine wichtige Rolle in der Politik der Insel. Obwohl es in Ceylon keinen Kampf um Unabhängigkeit wie in Indien gab, entstand eine buddhistische Erweckungsbewegung mit antibritischen Einflüssen, die einer Volksbewegung gegen die Kolonialherrschaft am nächsten kam. Wie auch der ­INC lehnte die politische Elite unter der Leitung von D. S. Senanayake, die den Übergang von der britischen Herrschaft zum Dominion-Status und dem neu gegründeten autonomen Staat prägte, den Einfluss der Religion auf Staat und Politik ab. Der ceylonesische Staat war säkular und Senanayakes United National Party (­UNP) als größte politische Partei befürwortete eine klare Trennung des Staates von religiösen Institutionen – obwohl sie wie auch der ­INC aus einer Vielzahl diverser Fraktionen bestand. Eine dieser Fraktionen, eine Abspaltung der UNP aus dem Jahr 1952, war bereit, dem Buddhismus eine wichtige Rolle im Staat und in der Gesellschaft zuzugestehen. Unter der Führung von S. W. R. D. Bandaranaike wurde die neu gegründete Sri Lanka Freedom Party (­SLFP) Ceylons zweitstärkste Partei. ­Fragen des kulturellen Selbstverständnisses und einer auf dem Gleichheitsprinzip beruhenden Vertretung der größten ethnischen Minderheit, der sri-lankischen Tamilen, stellten bereits vor der Unabhängigkeit einen kritischen Aspekt der keineswegs konfliktfreien Politik dar. Dennoch nahmen die Forderungen des tamilischen Nationalismus im Verlauf der Gründungsjahre Ceylons an Schärfe und Nachdruck zu. Angesichts des Ethno-Nationalismus der tamilischen Minderheit verstärkte sich auch der ethnoreligiöse Nationalismus der Mehrheit, was zum Sturz der säkularen Elite der ­UNP 1956 sowie zu einer Änderung der Verfassung im Jahre 1972 führte. Deren Resultat wiederum war die Umwandlung des säkularen Staates in einen solchen mit buddhistischer Dominanz. Obwohl die ­UNP 1978 eine neue Verfassung einführte, behielt der Buddhismus seine Sonderstellung. Während die Auseinandersetzungen zwischen Tamilen und Singhalesen in brutale Gewalt eskalierten und schließlich in einem dreißigjährigen Bürgerkrieg zwischen der Liberation Tigers of Tamil Eelam (­LTTE) und der Regierung von Sri Lanka (GoSL) mündeten, blieben die Beziehungen zwischen der buddhistischen Mehrheit und der muslimischen Minderheit in der Geschichte der Unabhängigkeit Sri Lankas meist herzlich. Die aufeinanderfolgenden ­UNP- und ­SLFP-geführten Regierungen sahen muslimische Politiker als Inhaber führender Kabinettposten. Obwohl die panislamische Identifizierung der ceylonesischen Muslime kurz nach der Unabhängigkeit in einem Bruch zwischen tamilischen Nationalistenführern und der muslimischen politischen Elite resultierte, kam einem sri-lankisch-muslimischen Nationalismus im 20. Jahrhundert keine prominente Rolle zu.

Trotz der Teilnahme von Muslimen an der Regierung wurden deren vitale Interessen in den Friedensverhandlungen in Sri Lanka übergangen.

Dies änderte sich, als sich die Beziehungen zwischen der muslimischen politischen Führung und der östlichen muslimischen Bevölkerung im letzten Jahrzehnt des Bürgerkrieges (1999 bis 2009) verschlechterten. Die ­LTTE griff Muslime oft in Gebieten an, die sie als Tamil Eelam, also als tamilisches Gebiet, betrachteten, was 1990 zur Vertreibung der gesamten muslimischen Bevölkerung aus der nördlichen Region Sri Lankas führte und viele tote Muslime im Osten hinterließ, wo diese in einigen Gebieten die Mehrheit bilden. In den Friedensverhandlungen zwischen der ­LTTE und der GoSL Anfang der 2000er Jahre wurden die Kerninteressen dieser Muslime jedoch übergangen – und dies trotz der Teilnahme muslimischer Parteien an der Regierung.

Die Identitäten und politischen Ziele der Muslime Sri Lankas erfuhren durch die Förderung von Infrastrukturen und Institutionen in mehrheitsmuslimischen Gebieten der Insel durch muslimische Länder – etwa Saudi-Arabien und Pakistan – einen Wandel. Dieser wurde von Angriffen auf Sufi-Muslime sowie buddhistische Schreine und Statuen begleitet. Aus einer islamischen, die muslimische politische Führung ablehnenden Volksbewegung im Osten wurde der Entschluss gefasst, einen muslimischen Staat innerhalb des von Muslimen bewohnten Gebiets Sri Lankas, Muslim Thesam genannt, zu gründen. Die Tatsache, dass einige der zunehmend stärker werdenden islamischen Gruppen bewaffnet waren, wurde toleriert, da diese zum einen der ­LTTE während des Krieges die Stirn geboten hatten und man zum anderen in hohem Maße von den muslimischen Wählerstimmen für zukünftige Mehrheiten im Parlament abhängig war.

Arabische Versionen der Islaminterpretation fordern den moderaten und kulturell verankerten Islam heraus.

Verschiedene neu gegründete Gruppen versuchten, ein Bewusstsein für das zu schärfen, was als Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus wahrgenommen wurde. Einige dieser Gruppen schlossen sich 2012 zu einer von buddhistischen Mönchen angeführten Organisation zusammen und nannten sich Bodu Bala Sena (­BBS). Dargestellt als Förderer des buddhistischen Nationalismus, protestierte die Gruppe nicht nur gegen das, was sie als Islamisierung betrachtete wie die Einführung einer Halal-­Zertifizierung und einer arabischen Kleidung in Sri Lanka, sondern setzte sich auch für eine Implementierung buddhistischer Werte in Staat und Gesellschaft ein. Zum Fokus der Auseinandersetzungen zwischen der ­BBS und den radikalen muslimischen Organisationen wurde 2016 die Änderung des muslimischen Eherechts und des Mindestheiratsalters für muslimische Mädchen. Die muslimischen Gruppen bestanden auf dem Selbstbestimmungsrecht, während die buddhistischen Nationalisten ein einheitliches Recht für das ganze Volk (one law for one people) sowie die grundsätzliche Abschaffung spezifischer Gesetze für die muslimische Gemeinschaft forderten.

Buddhistischen Nationalisten mobilisierten die Menschen, indem sie auf Entwicklungen innerhalb der asiatischen Nachbarländer und auf die Ausbreitung des Islam anderenorts hinwiesen. Häufig dienten der ­RSS und die ­BJP in Indien als Paradebeispiel für den Umgang mit der Bedrohung. Selbst von zahlreichen Mitgliedern der singhalesischen Gesellschaft wurde die BBS nicht ernst genommen und so wurde 2015 die vermeintlich buddhistisch-­singhalesisch-nationalistische ­SLFP-geführte Koalition durch eine liberalere und minderheitsfreundliche Koalition unter Führung der UNP abgelöst.

Die islamistischen Anschläge im April 2019 führten zu einer grundlegenden Änderung. Gotabaya Rajapaksas Gebrauch von Symbolen und Forderungen der buddhistischen Nationalisten verhalf ihm zur Präsidentschaft.

Auseinandersetzungen zwischen Muslimen und Mitgliedern anderer religiöser Gemeinschaften nach den islamistischen Anschlägen zeigen deutlich, dass transnationale Loyalitäten den sozialen Zusammenhalt in Sri Lanka bedrohen. Die Unterstützung für jene, die für religiösen Nationalismus stehen, sollte in diesem Kontext betrachtet werden.

 

Der maledivische Weg – Religion ohne Nationalismus?

Auf den Malediven, die vor allem für ihre paradiesischen Inseln bekannt sind, führte die Frage nach Nationalität und Staatsangehörigkeit nicht zu Volksbewegungen. Trotz jüngster Demokratisierung des ehemaligen britischen Schutzgebietes gab es bisher keine nationalistischen Entwicklungen. Es ist der Islam, der als ein Bindeglied der überwiegend homogenen Gesellschaft fungiert. Alle Bürger der Malediven sind von Rechts wegen Muslime und nur Menschen, die dem Islam anhängen, können eingebürgert werden. Wenn auch die Dominanz des Islam unbestritten ist, so ist es dessen Interpretation sehr wohl. In den letzten Jahren ist die maledivische Gesellschaft von außen beeinflusst worden. Arabische Versionen der Islaminterpretation fordern den moderaten und kulturell verankerten Islam der Malediven heraus, wie es die Kontroverse um einen Rechtsfall aus dem Jahr 2013 deutlich zeigt.

Aufgrund der auf den Malediven praktizierten Hadd-Strafe wurde ein 15-jähriges Mädchen, das von seinem Stiefvater vergewaltigt worden war, zu 100 Peitschenhieben wegen vorehelichen Geschlechtsverkehrs verurteilt. Das Urteil provozierte einen Dissenz in der Gesellschaft angesichts der rigorosen Hadd-Strafe und spaltete sie in Moderate und Fundamentalisten.

Heute bemüht sich das Land um Unterstützung im Umgang mit der hohen Anzahl ausländischer Kämpfer, die nach ihren Einsätzen beim sogenannten IS in Syrien und Irak nach Hause zurückkehren. Die Ablehnung der transnationalen muslimischen Identität hat auf den Malediven das Streben nach einem eigenen maledivischen Islam forciert. Das Bemühen, die eigene maledivische Lebensweise gegenüber einer globalen islamischen zu schützen, könnte zum Entstehen eines eigenen maledivischen Nationalismus führen.

 

Fazit

Die kurze Darstellung des religiösen Nationalismus in Südasien hat gezeigt, dass dieser in den letzten Jahren zwar an Bedeutung gewonnen hat, in der Region aber kein neues Phänomen darstellt, sondern diese stark geprägt hat. Obwohl die Gewalt innerhalb von Gesellschaften im religiösen Nationalismus einen Beschleuniger findet, liegen die Wurzeln der Konflikte in den unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Zielen, deren Vielfalt in der gesellschaftlichen Diversität selbst wurzeln könnte. Indem sie die Quelle einer kollektiven Identität darstellt, bietet die Religion in Südasien eine Basis für Werte und Konzepte des idealen Staats, der idealen Nation sowie der idealen Gesellschaft. In der Vergangenheit führten die sich hieraus ergebenden Diskrepanzen dieser Ideale zu gesellschaftlichen Konflikten, Kriegen und Abspaltungen.

Die überwältigende Unterstützung für Parteien und Gruppen in Südasien, die Identitätsinteressen repräsentieren, zeigt, dass ein Zusammenleben in einem gemeinsamen Gebiet, selbst wenn dieses bereits Jahrhunderte andauert, nicht ausreicht, um eine breite nationale Solidarität zu schaffen, die über religiöse und ethnische Unterschiede hinausgeht. Schaut man auf die verschiedenen südasiatischen Staaten sowie die gegangenen und gemiedenen Wege, erweckt dies den Eindruck, dass der Aufstieg des und die Rückkehr zum religiösen Nationalismus in der Politik das Bemühen darum darstellt, sozialen Zusammenhalt aufzubauen, und nicht, ihn zu zerstören.

Der mit dem Nationalismus einhergehende Exklusivismus resultiert möglicherweise aus der Unvereinbarkeit der immensen Diversität der südasiatischen Bevölkerung mit dem Nationenkonzept, das auf gemeinsamen Eigenschaften und einer gegenseitigen Loyalität zwischen Mitbürgern und dem Staat basiert. Eine wachsende Identifizierung mit transnationalen Gemeinschaften fordert den Kern des Nationalstaates, seine Souveränität und den sozialen Zusammenhalt seiner Bürger weiter heraus. In diesem Kontext mag religiöser Nationalismus für die einen das Mittel zur Sicherung der lokalen kulturellen und religiösen Besonderheiten sein. Für die anderen mag es den Beginn einer Rückentwicklung zur urzeitlichen Vergangenheit markieren. In jedem Fall bietet der derzeitige Aufstieg des religiösen Nationalismus in Südasien die Gelegenheit, sowohl langjährige gesellschaftliche Konflikte zu lösen als auch das Risiko, unsägliches Leid hervorzubringen.

Und dennoch: Diese Fragen nach Staat und Nation, mit denen Südasien derzeit zu kämpfen hat, sind keineswegs eine Besonderheit eben dieser Region. Eine gemeinsame Basis zu schaffen, auf Grundlage derer man zusammenwirken kann, manchmal auf Basis einer religiös relativ homogenen Gesellschaft, deren Mitglieder sich auch zusammengehörig fühlen, war und ist häufig der Wunsch all jener, die eine Nation zusammenführen wollen. Gerade in einer globalisierten Welt, in der Migration und zunehmender Austausch unterschiedliche Werte und Konzepte von Staat und Gesellschaft aufeinandertreffen lassen, sollten sich politische Entscheidungsträger vor Augen halten, dass eine Vielfalt politischer und gesellschaftlicher Ansichten auch zu Konflikten sowie – gelegentlich – gewalttätigen Auseinandersetzungen führen kann. Die Entwicklungen in Südasien verweisen auf die Notwendgkeit, Strategien zu entwickeln, die eine sinnvolle Auseinandersetzung mit dieser Vielfalt ermöglichen.

– übersetzt aus dem Englischen –

 


 

Dr. La Toya Waha ist Trainee im Regionalprogramm Politikdialog Asien der Konrad-Adenauer-Stiftung mit Sitz in Singapur.

 


 

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