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Ann Wang, Reuters.

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Status quo post

von Friederike Böge, Sofia Dreisbach

Nancy Pelosi hat Taiwan besucht, China fühlte sich davon provoziert. Nun versuchen alle Seiten, ihre Interessen zu sichern.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 07.08.2022, Nr. 31, S. 2

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Es gibt ein Bild, das im Zusammenhang mit China oft verwendet wird: ein Frosch in einem Kochtopf, in dem die Wassertemperatur langsam bis zum Siedepunkt erhöht wird. Wenn man den Frosch in kochendes Wasser werfen würde, würde er sofort wieder herausspringen. Wenn man die Temperatur aber langsam erhöht, bleibt er im Wasser sitzen und stirbt. Das Bild soll eine chinesische Methode darstellen, die das Land besonders erfolgreich im Inland einsetzt. Überwachung und Repression wurden in kleinen Schritten verstärkt, sodass sich viele Leute daran gewöhnt haben. Im Südchinesischen Meer ließ Präsident Xi Jinping künstliche Inseln aufschütten und versprach seinem amerikanischen Amtskollegen Barack Obama, dass daraus keine Militärbasen werden würden. Heute sind sie das. In Hongkong wurde ein Demokratieaktivist nach dem anderen festgenommen, bis keiner mehr da war.

Der Sprecher des amerikanischen Nationalen Sicherheitsrats, John Kirby, bemühte nun das Bild vom Frosch, um die chinesischen Militärmanöver rund um den Inselstaat zu beschreiben. Die Schießübungen sollen am Sonntag vorbei sein. Doch danach wird die Temperatur im Kochtopf gestiegen sein. Während der Manöver hat China die Grenzen seines militärischen Operationsraums rund um Taiwan neu definiert. Es hat erstmals Raketen über Taiwan hinweggeschossen und erstmals Raketen in die japanische Exklusive Wirtschaftszone gelenkt. Es ist erstmals seit den 1950er-Jahren in den Luftraum über den Kinmen-Inseln eingedrungen. Es hat eine beispiellos hohe Zahl an Militärschiffen und -flugzeugen über jene Linie geschickt, die die Taiwanstraße in der Mitte teilt und früher mal als informeller Puffer zwischen den Konfliktparteien diente. Man kann davon ausgehen, dass die Grenzverschiebungen dauerhaft sind und China ähnliche Operationen künftig wieder abhalten wird. Genauso, wie sich viele Chinesen an Überwachung und Repression gewöhnt haben, soll sich die Welt an chinesische Militäraggressionen gewöhnen. Gefährlich ist das, weil es ungewollte Zusammenstöße möglich macht und weil es China in die Lage versetzt, für eine Invasion oder Seeblockade zu üben und aus einer solchen vermeintlichen Manöveroperation aus anzugreifen.

Die Vereinigten Staaten und Taiwan werfen China deshalb vor, den sogenannten Status quo einseitig verändert zu haben. Der Konflikt zwischen Taiwan und China ist eine Art Fortsetzung des chinesischen Bürgerkriegs im zweiten Viertel des 20. Jahrhunderts. Seit 1979 ist er eingefroren. Damit er nicht in einen heißen Konflikt umschlägt, haben sich offiziell alle Seiten zum Erhalt des Status quo verpflichtet. Doch auch China wirft den USA vor, den Status quo verändert zu haben. Sie unterstellen der Regierung in Washington, dass sie, erst unter Donald Trump und jetzt unter Joe Biden, Schritt für Schritt auf eine Unabhängigkeit Taiwans hinarbeitet. So hatte sich etwa im März der frühere Außenminister Mike Pompeo dafür ausgesprochen, Taiwan als unabhängigen Staat anzuerkennen und diplomatische Beziehungen aufzunehmen. Pompeo ist freilich nicht mehr im Amt. An der offiziellen Politik der amerikanischen Regierung habe sich nichts verändert, betont die Regierung Biden immer wieder.

Die Idee, dass China und Taiwan irgendwann „wiedervereinigt“ werden, gehört zu den Gründungsmythen der Volksrepublik China und hat bis heute eine hohe Symbolkraft. Sollte Taiwan morgen seine Unabhängigkeit erklären, wäre eine militärische Reaktion Chinas so gut wie sicher. Kein chinesischer Führer würde es politisch überleben, Taiwan „verloren“ zu haben. Aus taiwanischer Sicht wäre eine erzwungene „Wiedervereinigung“ eine Annexion.

Der Besuch von Nancy Pelosi in Taiwan kommt aus chinesischer Sicht einer Veränderung des Status quo nahe. Pelosi ist die Nummer drei der protokollarischen Rangfolge in Amerika nach der Vizepräsidentin. Wenn sie Taiwans Präsidentin Tsai Ing-wen trifft, kommt das einer diplomatischen Aufwertung gleich, die Taiwan in die Nähe eines unabhängigen Landes rückt. Peking wittert dahinter Kalkül, auch wenn die amerikanische Regierung betont, dass in den USA die Gewaltenteilung gilt und Pelosi als Kongressangehörige ihre eigenen Entscheidungen trifft.

Sowohl für die USA als auch für China ist Taiwan von großer strategischer Bedeutung. Zum einen wegen seiner geographischen Lage, zum anderen wegen seiner dominanten Rolle in der globalen Halbleiterproduktion. Eine Eroberung Taiwans würde China in die Lage versetzen, militärisch sehr viel weiter in den Indopazifik hineinzuwirken. Umgekehrt wäre ein unabhängiges Taiwan mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Verbündeter Amerikas im direkten Hinterhof Chinas. Die Halbleiterindustrie betrachtet Taiwan seit Langem als Schutzschild. Mehr als 90 Prozent der fortschrittlichsten Mikrochips werden auf der Insel produziert. Ohne sie wären Hightech-Industrien in Amerika, in Europa, aber auch in China aufgeschmissen. Taiwan hofft, dass diese herausgehobene Bedeutung China von einer Invasion abhalten würde oder Amerika und andere westliche Staaten im Ernstfall motivieren würde, Taiwan zu Hilfe zu kommen.

In China gibt es keine Wähler. Aber es gibt „Tastaturkrieger“. Nationalistische Eiferer, die ihren Gewaltphantasien im Internet freien Lauf lassen. Oft lässt die chinesische Führung sie als Fußsoldaten gewähren, um Gegner mürbe zu machen. Für die Führung hat das auch den Vorteil, dass Leute, die sich als Teil einer starken Nation fühlen, die Schuld für ihre womöglich schlechte wirtschaftliche Lage nicht in China, sondern in Amerika suchen. Manchmal hat die Kommunistische Partei ein Interesse daran, die überhitzten Gemüter zu beruhigen. Das ist nicht immer einfach. Nachdem China mit seinen Militärmanövern begonnen hatte, zeigten viele Tastaturkrieger sich enttäuscht. „Ich glaube es nicht!“, schrieb einer. „Ich wollte die gewaltsame Vereinigung mit Taiwan feiern. China ist doch stark genug dafür, oder nicht?“ Er war nicht der Einzige. Die Manöver sind darauf ausgerichtet, möglichst öffentlichkeitswirksam zu sein, um solchen Erwartungen nach nationaler Größe gerecht zu werden.

Zum jetzigen Zeitpunkt haben aber weder China noch die Vereinigten Staaten Interesse an einer direkten Konfrontation. Dass Peking Raketen in die japanische Exklusive Wirtschaftszone geschossen hat, war zwar auch als Warnung an die USA zu verstehen. Deren Militärstützpunkt in Japan würde im Fall einer kriegerischen Auseinandersetzung um Taiwan eine zentrale Rolle spielen. Zugleich hat China eine direkte Konfrontation mit den USA bewusst vermieden, indem es seine Militärmanöver erst begann, nachdem Nancy Pelosi abgereist war. Beide Seiten betonten lange, dass sie miteinander direkt in Verbindung stünden, um Fehlkalkulationen und Missverständnisse zu vermeiden. In einem weiteren Eskalationsschritt verkündete China jedoch am Freitag, dass es den Austausch mit den USA über den Klimaschutz „aussetzen“ und ein Gespräch zwischen Militärführern sowie zwei Sicherheitstreffen absagen werde.

Schon am Donnerstag hatte der amerikanische Sicherheitsratssprecher John Kirby China zwar vorgeworfen, „überzureagieren“. China nehme Pelosis Besuch als Vorwand, um „provokante militärische Handlungen in und um die Taiwanstraße zu verstärken“. Gegenmaßnahmen kündigte er aber nicht an. Im Gegenteil: Amerika verschiebe einen seit Langem für diese Woche geplanten Test einer Interkontinentalrakete, um eine weitere Eskalation zu vermeiden. Kirby wies nur dezent darauf hin, dass die Amerikaner in der Lage seien, auf weitere Eskalationsschritte Chinas zu reagieren. Der Flugzeugträger „USS Ronald Reagan“ soll mit seinen Begleitschiffen „ein klein bisschen länger als geplant“ in der Region bleiben.

Auch die taiwanischen Streitkräfte waren sichtlich bemüht, China keinen Vorwand für eine weitere Eskalation zu bieten. Dass das chinesische Militär erstmals Raketen über die Insel hinweg in die japanische Exklusive Wirtschaftszone schoss – aus taiwanischer Sicht ein hochsymbolischer Akt –, bestätigte das taiwanische Verteidigungsministerium erst, als Japan es verkündet hatte. Für Taiwan ist es ein schwieriger Balanceakt. Die Regierung muss der Bevölkerung das Gefühl vermitteln, das Land im Ernstfall gegen die chinesische Bedrohung verteidigen zu können. Dieses Vertrauen zu erschüttern gehört zu den zentralen Zielen der chinesischen Militärmanöver. In Taiwan bemüht man sich deshalb, die schwierige Lage zum eigenen Vorteil zu nutzen. Die chinesische Überreaktion richte die globale Aufmerksamkeit auf Taiwan und verschaffe dem Inselstaat international die dringend benötigte Unterstützung, heißt es in Taipeh. Die eigene Bevölkerung werde dadurch aufgerüttelt und sei eher bereit, einer Erhöhung des Wehretats zuzustimmen. Außerdem könne man aus den Manövern wichtige Rückschlüsse auf Chinas Taktiken ziehen.

Genau eine solche Lage dürfte es gewesen sein, an die Präsident Joe Biden dachte, als er über einen Besuch der „Sprecherin“ des Repräsentantenhauses in Taiwan sagte, er halte das „gegenwärtig nicht für eine gute Idee“. Bidens Kommentar dürfte sich nicht nur auf die Spannungen zwischen China und Taiwan bezogen haben, sondern auch auf die möglichen Auswirkungen für die USA. Amerika hat kein Interesse daran, China ernsthaft zu verärgern. In einem Interview im Dezember vergangenen Jahres bezeichnete Außenminister Antony Blinken die Beziehung zu Peking als die „komplexeste und auch folgenreichste“, die Amerika habe. Es sei verlockend, ihr einen Stempel aufzudrücken – „aber das können wir nicht“. Es gehöre Wettbewerb ebenso dazu wie Kooperationen und Konflikt. Die Herausforderung sei „sicherzustellen, dass wir unsere Beziehung mit allen diesen verschiedenen Aspekten handhaben“. Für sein Investitionsprogramm warb Biden mit der Bemerkung, man müsse mit China mithalten können.

Der Präsident führt seine Chinapolitik unter dem Begriff der „strategischen Konkurrenz“. Es geht nicht um einen wirtschaftlichen Bruch, sondern um Beziehungen, die wechselseitig sind. Ausgenommen sind dabei etwa kritische Technologien und Handel, der Menschenrechtsverletzungen in China unterstützt. Dabei hat sich der amerikanische Präsident selbst schon mehrmals so geäußert, dass es Peking verärgern dürfte: Drei Mal hat er gesagt, man werde Taiwan im Falle eines Angriffs durch China militärisch unterstützen – was genau das bedeutet, hat er nicht ausgeführt.

Bei seinem Besuch in Südkorea und Japan im Mai hat Biden deutlich gemacht, dass er einen Schulterschluss gegen China anstrebt; wieder ging es um den „Wettbewerb zwischen Demokratien und Autokratien“. Pelosis Besuch in Taiwan könnte der Front, zu der auch Australien gehört, Schaden zugefügt haben. Er lenkt von den gemeinsamen Bemühungen der Verbündeten ab, Chinas militärischen Einfluss einzudämmen – stattdessen, so sagen es Beobachter, stärkten die neuerlichen Aggressionen Pekings Einfluss und schmälerten die Rolle des Bündnisses. Kirby nahm in der Pressekonferenz am Donnerstag denn auch direkt Bezug auf Japan: Man werde weitere Schritte unternehmen, um Amerikas Engagement für die Sicherheit der Verbündeten in der Region zu demonstrieren – „und das schließt auch Japan ein“.

Pelosi dürfte für die Reise auch einen Grund gehabt haben, der weniger den amerikanischen oder taiwanischen als ihren eigenen Interessen diente. Die 82 Jahre alte Demokratin könnte im kommenden Jahr voraussichtlich ihren Posten als „Sprecherin“ des Repräsentantenhauses verlieren – Taipeh könnte also der Schlusspunkt ihres jahrelangen Engagements für Menschenrechte in China und für Taiwan in einflussreicher Position gewesen sein. Ein hoher Preis für eine persönliche Abschiedstour? Im Kongress gab es von republikanischer Seite seltenen Beifall für Pelosi. 26 Senatoren sprachen sich in einer gemeinsamen Erklärung für ihren Taiwanbesuch aus. Der Jubel in der eigenen Partei hingegen hielt sich in Grenzen.

 


 

Friederike Böge ist Korrespondentin der F.A.Z. für China, Nordkorea und die Mongolei.

 


 

Sofia Dreisbach ist Korrespondentin der F.A.Z. für Nordamerika mit Sitz in Washington, D.C.

 


 

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