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Bruno Domingos, Reuters

Auslandsinformationen

Trübe Aussichten?

von Winfried Weck, Teresa Marten

Multilaterale Kooperation in Lateinamerika

Alle Staaten Lateinamerikas haben vielfältige historische Erfahrungen mit multilateraler Kooperation, allerdings hängt die Bereitschaft zu regionalem und internationalem Engagement stark von der Politik der jeweiligen Regierungen und ausgeprägten Partikularinteressen ab. Obwohl sich in fast allen Ländern der Region Sprache, Religion und Staatsform gleichen, hat dies bisher nicht dazu beigetragen, einen effektiven latein­amerika­nischen Multilateralismus zu etablieren.

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Um ein wichtiges Ergebnis dieses Beitrags gleich vorweg zu nehmen: Die Staaten Lateinamerikas können auf eine jahrzehntelange, teils sogar weit über hundertjährige Tradition der multilateralen Zusammenarbeit zurückblicken. Dies hat im Vergleich zu anderen Regionen außerhalb Europas mit der frühen Unabhängigkeit von den Kolonial-mächten Spanien und Portugal vor knapp 200 Jahren zu tun. In gleicher Weise beeinflusste die frühe Teilhabe der lateinamerikanischen Staaten an den Schaffungsprozessen des Völkerbunds und später der Vereinten Nationen das jeweilige nationale Selbstbewusstsein und die Stellung der lateinamerikanischen Länder innerhalb einer Staaten- und Völkergemeinschaft, die vor einem Jahrhundert kaum mehr als 80 Staaten umfasste.

Das Engagement der Mehrzahl der lateinamerikanischen Staaten in den weltweiten Institutionen der internationalen Zusammenarbeit ist daher konsequent. So wurden verschiedene Länder teils mehrfach in den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen gewählt und stellten hohe Funktionäre der VN und ihrer Unterorganisationen. Stellvertretend sei hier an den Peruaner Javier Pérez de Cuéllar erinnert (1920 bis 2020), der die Vereinten Nationen von 1982 bis 1991 als Generalsekretär leitete. Dagegen halten sich die lateinamerikanischen Staaten bei der Beteiligung an VN-Blauhelmeinsätzen (peacekeeping) zumindest zahlenmäßig eher zurück: In der Liste der aktuell beteiligten 121 Länder an den 13 VN-Missionen, die 81.370 Personalstellen umfassen, stellt Uruguay mit 1.126 entsandten Kräften die Ausnahme dar (Platz 18 der beteiligten Länder, zum Vergleich: Spitzenreiter Äthiopien 6.658), gefolgt von El Salvador (Platz 45, 291 Entsandte), Argentinien (47/267), Brasilien (49/258) und Peru (52/236).

Umso befremdlicher ist es, dass die Lateinamerikaner nur sehr zögerlich der Initiative Frankreichs und Deutschlands zur Bildung einer Allianz für den Multilateralismus folgten. Zwar befanden sich neben Frankreich, Deutschland, Kanada, Ghana und Singapur auch Mexiko und Chile unter den einladenden Ländern, dennoch beteiligten sich am ersten Treffen der neuen Allianz am Rande der VN-Vollversammlung im September 2019 nur noch Costa Rica, Kolumbien und die Dominikanische Republik. Erst mit der gemeinsamen Erklärung der Allianz für den Multilateralismus zur Bekämpfung von COVID-19 vom April dieses Jahres erweiterte sich der Kreis der Unterzeichnerstaaten um Argentinien, Ecuador, Paraguay, Peru und Uruguay. Ob diese künftig eine aktive Rolle in der Allianz einnehmen werden, wird sich allerdings erst bei kommenden Aktivitäten zeigen, da die Allianz bewusst auf offizielle Mitgliedschaften verzichtet und sich als loses Netzwerk von Staaten versteht, die die existierende regelbasierte internationale Ordnung und ihre Organisationen stärken wollen.

Die Frage, wie es aktuell um die Bereitschaft der lateinamerikanischen Länder zur multilateralen Zusammenarbeit bestellt ist, steht daher im Zentrum des vorliegenden Beitrags. Hierzu bat das neue Regionalprogramm Allianzen für Demokratie und Entwicklung mit Lateinamerika (ADELA) der Konrad-Adenauer-Stiftung mit Sitz in Panama Experten aus ausgesuchten Ländern der Region um ihre Einschätzungen. Im Folgenden werden die wichtigsten Ergebnisse dieser Einzelberichte zusammengefasst, um so eine Übersicht des derzeitigen internationalen Engagements der Länder in Lateinamerika zu vermitteln.

 

Welche Vorstellungen von Multilateralismus gibt es in Lateinamerika?

Die von den Autoren eingereichten Beiträge legen offen, dass in den verschiedenen Ländern des Kontinents divergierende Verständnisse des Konzeptes Multilateralismus existieren. Oftmals werden diese Vorstellungen vor allem durch die jeweils amtierenden Regierungen und ihre ideologischen Ausrichtungen beeinflusst. So ist zum Beispiel Brasilien ein Land mit einer langen multilateralen Tradition; das Prinzip ist sogar laut Verfassung Legitimierungsinstrument der brasilianischen Außenpolitik. Geändert hat sich diese traditionelle Verankerung des Multilateralismus mit der Amtsübernahme des aktuellen Präsidenten Jair Bolsonaro, der explizit eine Anti-Globalisierungspolitik betreibt und eher den erneuten bilateralen Schulterschluss mit den USA sucht, als dem eigenen Land in seiner (früheren) Funktion als multilateraler Global Player Relevanz beizumessen.

Die in Peru vorherrschende Vorstellung von Multilateralismus scheint eher auf makro-ökonomischen Präferenzen als auf gemeinsamen Werten zu fußen.

Ein ähnlicher Einfluss der Ideologie auf die Bedeutung von Multilateralismus und entsprechenden regionalen und globalen Bündnissen lässt sich auch in Argentinien beobachten. Dort ist der Multilateralismus immer wieder durch populistische Präsidenten sowie Isolations- und Anti-Globalisierungstendenzen bedroht gewesen. Die Vorteile multilateralen Handelns sind von Regierungsseite oftmals nicht effektiv genug als ein Mechanismus zur Lösung globaler Probleme an die Zivilgesellschaft kommuniziert worden. Aufgrund dessen kann eine durch Krisenzeiten immer unzufriedener werdende Gesellschaft auch nur wenig Verständnis für multilaterale Kompromisse aufbringen.

Andere Länder in Lateinamerika wiederum verstehen den Multilateralismus als fest verankertes Prinzip ihrer Außenpolitik. Sie nehmen aktive Rollen in globalen Institutionen wie den VN und der Welthandelsorganisation (WTO) sowie auch in regionalen Bündnissen, etwa der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), dem MERCOSUR oder der Pazifik-Allianz ein. Jedoch ist es schwierig, aus der bloßen Teilnahme an einem multilateralen Bündnis auf die Bedeutung des Multilateralismus für die Regierung eines Staates zu schließen, nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass sich viele dieser Bündnisse gerade selber in einer Krise befinden und das jeweilige Engagement der Länder je nach Regierung variiert. So ist Peru Mitglied und Gastgeberland für eine Vielzahl multilateraler Initiativen. Die im Land vorherrschende Vorstellung von Multilateralismus scheint aber eher auf makroökonomischen Präferenzen als auf gemeinsamen Werten zu fußen. Nichtsdestotrotz kann das Land im Gegensatz zu Brasilien und Argentinien auf eine über drei Dekaden konstant gebliebene Außenpolitik zurückschauen.

Mexiko zeigte sich vor allem während der Amtszeit von Präsident Enrique Peña Nieto (2012 bis 2018) auf dem multilateralen Parkett besonders aktiv und wollte sich als Akteur mit globaler Verantwortung profilieren. Die mexikanischen Regierungen arbeiten aber schon seit dem Jahr 2000 in besonderem Maße daran, das Land als ein regionales Schwergewicht in multilateralen Organisationen zu etablieren und so internationales Ansehen zu erwerben. Mexiko sieht den Multilateralismus als beste Option, um kollektive Probleme auf der Grundlage gemeinsamer Normen, Prinzipien und Maßnahmen zu lösen. Zentrale Anliegen sind die Verteidigung des Friedens und der internationalen Sicherheit sowie die Umsetzung der Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDG) der Agenda 2030.

In allen vier Ländern ist das Interesse von Seiten der Zivilgesellschaft an Multilateralismus eher bescheiden. Dieser Aspekt ist scheinbar aber auch darauf zurückzuführen, dass sich die Politikverdrossenheit der Bevölkerung in Argentinien, Brasilien, Mexiko und Peru in den letzten Jahren generell verstärkt hat. In Peru ist das öffentliche Interesse allein schon an nationalen Belangen aufgrund vieler Skandale in jüngster Zeit dramatisch zurückgegangen, ganz zu schweigen von der internationalen Politik. Im Gegensatz dazu engagieren sich die zivilgesellschaftlichen Organisationen in allen vier Ländern für globale Belange wie den Umweltschutz, Menschenrechte oder Gesundheitsthemen. Und sie sehen in multilateralen Institutionen Unterstützer ihrer Anliegen – auch gegenüber ihren jeweiligen Regierungen.

 

Historische Erfahrungen mit Multilateralismus in Lateinamerika

Unter allen Ländern, die wir in diesem Beitrag vergleichen, gibt es keines, das nicht Mitglied in mindestens einem multilateralen Bündnis ist und in irgendeiner Weise auf eine mal mehr mal weniger ausgeprägte Tradition multilateralen Regierungshandelns zurückblicken kann. Darin spiegelt sich aber nicht notwendigerweise eine unterstützende Position aller Regierungen für den Multilateralismus.

Panama ist in dieser Hinsicht ein Staat mit einer besonderen historischen Erfahrung: Bereits 1826, als das Land noch Teil Groß-Kolumbiens war, fand der Panama-Kongress statt, zu dem sich Vertreter lateinamerikanischer Staaten zusammenfanden, um den Grundstein für einen Staatenverbund für eine wirtschaftliche und politische Integration des Kontinents in Anlehnung an die Idee Simón Bolívars zu legen. Auch Panama schloss sich nach seiner Separation von Groß-Kolumbien 1903 früh den wichtigsten Institutionen von global governance an und gehörte 1920 zu den 32 Gründungsmitgliedern des Völkerbunds. Bis heute verfolgt das Land diesen Ansatz effektiver globaler Teilhabe, indem es aktiv in der Global Governance Group (3G) agiert und so gemeinsame Politikgestaltung mit den Staaten der G20 und der VN voranbringt. Weiterhin ist das Land unter anderem Mitglied der OAS, wo es sich vor allem in der Frage um die Verwaltung des Panama-Kanals sowie die Initiierung der Contadora-Gruppe (jetzt Rio-Gruppe) engagiert, die sich für den Frieden in Zentralamerika einsetzt. Panama kann als Austragungsort auf eine Geschichte verschiedener multilateraler Gipfel zurückblicken, unter anderem des Treffens des VN-Sicherheitsrats 1973 und des Gipfels der Amerikanischen Staaten in Panama-Stadt 2015. Das Land ist Standort zahlreicher Regionalbüros internationaler Organisationen, darunter verschiedene VN-Institutionen für ganz Lateinamerika (z. B. UN Women) bzw. für Mittelamerika und die Karibik.

Kolumbien ist ebenfalls ein Land mit einer reichen multilateralen Tradition, obwohl sich seine Regierungen im Gegensatz zu Panama nicht an Modellen oder Strukturen von global governance orientiert haben. Vielmehr fußt das außenpolitische Handeln auf gemeinsamen Interessens- und Ideologiegrundlagen mit anderen Ländern. Kolumbien zeichnet sich dadurch aus, dass es sowohl Geber als auch Empfänger von internationaler Kooperation ist, insbesondere durch seine aktive Entwicklungszusammenarbeit mit mehreren Ländern in Südostasien wie Thailand, Kambodscha und den Philippinen. Bei den Bemühungen zur Befriedung des Konfliktes mit den FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia) erhielt das Land Unterstützung von den Vereinten Nationen, die maßgeblich dazu geführt hat, dass im Jahr 2016 ein Friedensvertrag geschlossen werden konnte. Aber auch andere relevante Akteure der internationalen Gemeinschaft wie die EU, Deutschland und die USA kooperieren aktuell noch mit der kolumbianischen Regierung, um eine stabile und langfristige Friedensordnung zu etablieren. Insgesamt beteiligt sich der Staat finanziell an neun verschiedenen multilateralen Organisationen. Kolumbiens aktuelle Regierung zeigt ein gesteigertes Interesse für das aktive Mitwirken in regionalen und internationalen Bündnissen, wobei die VN, die OAS, die Andengemeinschaft (CAN) und die Pazifik-Allianz im Zentrum des Engagements stehen.

Nach seiner Wiedereingliederung in die Staaten-gemeinschaft hat sich Chile einer mehr von Pragmatismus und weniger von Ideologie geprägten Außenpolitik verschrieben.

Chile ist aufgrund positiver historischer Erfahrungen hinsichtlich multilateraler Kooperation seinem außenpolitischen Prinzip des „offenen Regionalismus“ treu geblieben. Nach seiner Wiedereingliederung in die Staatengemeinschaft nach Beendigung der Militärdiktatur hat es sich einer mehr von Pragmatismus und weniger von Ideologie geprägten Außenpolitik verschrieben. Seit 1948 hat in Chiles Hauptstadt Santiago die Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik der Vereinten Nationen (ECLAC/CEPAL) ihren Hauptsitz. Im gleichen Jahr trat das Land der OAS bei und wurde Mitinitiator der VN-Menschenrechtscharta. Chile unterstützt zudem aktiv den Friedensauftrag der Vereinten Nationen. So haben die Chilenen bis dato an 23 internationalen Friedensmissionen teilgenommen (unter anderem an MINUSTAH in Haiti) und unterstützten die VN-Resolution zum libyschen Bürgerkrieg, die Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) sowie des Internationalen Gerichtshofes (IGH) in Den Haag.

Auch Mexiko kann auf ein langjähriges Engagement für und in multilateralen Organisationen zurückblicken: So wurden von März 2015 bis Juni 2018 mexikanische Sicherheitskräfte im Rahmen von acht verschiedenen VN-Friedensmissionen in die West-Sahara, in den Libanon, nach Haiti, in die Zentralafrikanische Republik und nach Mali entsandt. Darüber hinaus hatte Mexiko mehrmals einen Sitz als nichtständiges Mitglied im VN-Sicherheitsrat inne und konnte so seinen Einfluss in Weltregionen ausbauen, zu denen es vorher wenig Zugang hatte. Besonders hervorzuheben sind, neben Mexikos Beteiligung an den VN-Friedensmissionen, die Unterstützung des Abkommens über das Verbot Nuklearer Waffen, die Ausgestaltung der Agenda 2030 sowie die Bekämpfung des Drogenhandels und die Regulation von Migration. Gerade die beiden letzten Themen stellen enorme innenpolitische Herausforderungen für das Land selbst dar.

 

Der lateinamerikanische Multilateralismus – effektiv oder krisenanfällig?

Es gibt in Lateinamerika eine Vielzahl multilateraler Bündnisse, die sich aber als mehr oder weniger instabil und anfällig für politische und ökonomische Verwerfungen ihrer Mitgliedsländer erwiesen haben. Die neuere Geschichte dieser regionalen Bündnisse beginnt parallel zur Konsolidierung der internationalen Staatengemeinschaft in Organisationen der multilateralen Kooperation. Nach dem Ende des bis dahin dominierenden Ost-West-Konflikts in der internationalen Zusammenarbeit fand 1992 in Brasilien mit der United Nations Conference on Environment and Development (UNCED) die erste VN-Konferenz statt, die einen radikalen Umschwung in der multilateralen Kooperation hinsichtlich der Themenfelder Umwelt und Biodiversität markierte. So wurden unter anderem die Agenda 21 und mehrere Umweltabkommen verabschiedet. Speziell für Brasilien war dies ein wichtiger Meilenstein in seiner Profilierung hin zu einem Repräsentanten umweltschutzrelevanter Themen in der internationalen Gemeinschaft. 2012 war das Land Gastgeber der UNCED-Folgekonferenz Rio+20, welche die Grundlagen für die SDGs legte, die 2015 im Rahmen der Agenda 2030 von der VN-Vollversammlung beschlossen wurden. Die Relevanz lateinamerikanischer regionaler Mächte wie Brasilien wurde auch durch das Erstarken mehrerer früherer Entwicklungsländer zu einflussreichen Staaten auf dem globalen Parkett begleitet und hat so dazu geführt, dass Lateinamerika als Region für die multilaterale Kooperation in den Folgejahren interessant wurde. Nennenswert ist hierbei die Gruppe der BRICS-Länder, bestehend aus Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika.

Auch die zentralamerikanischen Staaten begannen nach Ende des Kalten Krieges mit einer zunehmenden multilateralen Zusammenarbeit. Im Jahr 1991 gründeten die Länder El Salvador, Honduras, Nicaragua, Costa Rica, Panama und Guatemala das System zur zentralamerikanischen Integration (SICA). Wichtige, auch der EU und den USA zu verdankende Errungenschaften dieses Bündnisses sind vor allem die Friedensprozesse in El Salvador (1992) und Guatemala (1996). Im selben Jahr schlossen sich die Länder Brasilien, Argentinien, Paraguay, Uruguay und Venezuela zum gemeinsamen Markt Südamerikas (MERCOSUR) zusammen, um die südamerikanische Integration voranzutreiben. Seit 2016 ist die Mitgliedschaft Venezuelas aufgrund der eklatanten Freiheitsbeschränkungen und der Beschneidung demokratischer Rechte und damit der Verletzung der Bündnisregeln durch dieses Land suspendiert.

Der lateinamerikanische Multilateralismus ist derzeit auch wegen des mangelhaften Managements regionaler Krisen geschwächt.

Heutzutage wird Regionalbündnissen wie der Pazifik-Allianz oder der OAS mehr Potenzial auch für die Zusammenarbeit mit der EU oder anderen Weltregionen zugerechnet als der Union Südamerikanischer Staaten (UNASUR) oder dem MERCOSUR. Die 2004 gegründete UNASUR ist mit dem Ausscheiden von acht der neun Mitgliedstaaten aufgrund des Venezuela-Konflikts und der Uneinigkeit bei der Wahl eines neuen Generalsekretärs praktisch inexistent. Der MERCOSUR wiederum leidet unter den Politiken der aktuellen Regierungen Brasiliens und Argentiniens und droht in eine existenzielle Krise zu driften. Ebenso krisengebeutelt ist die Gemeinschaft der lateinamerikanischen und karibischen Staaten (CELAC), aus der Brasilien Anfang Januar 2020 austrat. Im Falle der Pazifik-Allianz, die als stabile Gemeinschaft gilt, führten die innenpolitischen sozialen Spannungen in den Mitgliedsländern Chile, Kolumbien, Peru und Mexiko zu einer Erosion, die ihnen eine Zusammenarbeit mit der EU in Zukunft erschweren könnte. Gleiches passiert auch mit der Andengemeinschaft (Bolivien, Ecuador, Kolumbien, Peru). Insgesamt wird deutlich, dass der lateinamerikanische Multilateralismus derzeit nicht nur aufgrund häufiger Regierungs- und Ideologiewechsel in den letzten Monaten, sondern auch wegen des mangelhaften Managements regionaler Krisen (wie v. a. im Falle von Venezuela) geschwächt ist.

An diesen Beispielen wird deutlich, dass die multilateralen Bündnisse in Lateinamerika seit einigen Jahren stagnieren oder sich in einer Krise befinden. Vor allem im Falle Venezuelas zeigt sich die „Ambivalenz multilateraler Kooperation an der Schnittstelle zwischen regionaler Stabilität und politischen Eigeninteressen“. Die OAS hatte die Situation in dem südamerikanischen Land als erstes angeprangert, konnte aber aufgrund ideologischer und parteipolitischer Polarisierung keine Sanktionen verhängen. Mexiko, das die undemokratische Regierungsweise des Regimes in Venezuelas scharf kritisierte, musste sich in diesem Zusammenhang dem Vorwurf der Inkonsistenz von Innen- und Außenpolitik stellen. Zu dieser Zeit stand Mexiko selbst unter öffentlichem Druck, das Verschwinden von 43 mutmaßlich ermordeten Studenten aufzuklären, wozu es auch bei der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte (Comisión Interamericana de Derechos Humanos, CIDH) um Unterstützung bat. In diesem Balanceakt zwischen einer multilateralen Politik, die den Schutz der Menschenrechte und der Demokratie befürwortet, und einer nationalen Politik, die diesen Schutz oftmals nicht gewährleistet, befindet sich Mexiko bereits seit Anfang der 2000er Jahre.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass es in Lateinamerika weder an multilateralen Bündnissen noch an Mitgliedschaften in internationalen Organisationen mangelt. Es fehlt den mehrheitlich demokratischen Ländern des Subkontinents auch nicht an Regeln oder Institutionen, die sich mit den relevanten Politikbereichen der multilateralen Zusammenarbeit befassen. Allerdings würden die „politischen, wirtschaftlichen und militärischen Eliten die Anwendung dieser Regeln verhindern oder hintertreiben“. Ein zentrales Problem in diesem Zusammenhang besteht in der vielerorts herrschenden Straflosigkeit der endemischen Korruption. Möglicherweise liegt hier auch der Grund dafür, dass die lateinamerikanischen Staaten im Falle von internen Krisen nicht auf bestehende etablierte Organe wie die OAS zurückgreifen. Vielmehr werden aufgrund interner politisch-ideologischer Gegensätze, die zur Schwächung dieser regionalen Organisationen wesentlich beitragen, Ad-hoc-Verbünde als Lösungsmechanismen eingesetzt (z. B. Lima-Gruppe, Internationale Kontaktgruppe im Falle Venezuelas).

 

Lateinamerikas Engagement in der Allianz für den Multilateralismus

Obwohl alle Länder in Lateinamerika Mitglieder in (mehreren) Regionalbündnissen und Teil der internationalen Staatengemeinschaft sind, fällt das Interesse und die Partizipation an der von Frankreich und Deutschland 2019 initiierten Allianz für den Multilateralismus sehr unterschiedlich aus. Darin wird auch deutlich, was im vorherigen Abschnitt analysiert wurde: In Lateinamerika fallen multilaterale Bündnisse oder die Einhaltung entsprechender Abkommen ideologischen Richtungswechseln der jeweiligen nationalen Regierungen, Korruption und Straflosigkeit, Protektionismus oder der stärkeren Betonung einer bilateralen Außenpolitik zum Opfer.

Auf der einen Seite stehen Mexiko, Chile, Kolumbien, Costa Rica und die Dominikanische Republik, die von Beginn an die Allianz für den Multilateralismus unterstützten. Mexiko und Chile gehörten sogar zum Kreis der einladenden Staaten, als die Initiative am Rande der VN-Vollversammlung 2019 ins Leben gerufen wurde. Chiles Außenminister sprach bei dem ersten Treffen der Außenminister davon, dass es angesichts der globalen Herausforderungen dringend einer Erneuerung der Bereitschaft zu multilateralem Handeln und einer Modernisierung der internationalen Organisationen bedürfe, die sein Land mit vorantreiben wolle. Auch in der aktuellen COVID-19-Krise fordert die chilenische Regierung ein gemeinsames Handeln der Weltgemeinschaft zur Überwindung der Pandemie, was sie mit der Unterzeichnung der Gemeinsamen Erklärung der Allianz im April 2020 unterstrich.

Die argentinische Regierung steht der Allianz für Multilateralismus kritisch gegenüber: Teilnehmer werden zu wenig in die Ausarbeitung von Vorschlägen einbezogen.

Auch Costa Rica unterstützt die Allianz aktiv. Der costaricanische Außenminister betonte beim letzten Treffen der Allianz, vor allem im Hinblick auf die aktuelle Bedrohung durch die Coronapandemie, die Bedeutung der multilateralen Kooperation, da das Virus keine Grenzen kenne. Auch Peru entschied sich unter der Regierung von Präsident Martín Vizcarra dazu, in der Allianz mitzuarbeiten. Allerdings hat die Zivilgesellschaft in Peru wenig von der Entstehung des Netzwerkes 2019 und dem Treffen zu COVID-19 2020 mitbekommen, weil es darüber wenig bis keine mediale Berichterstattung und Beachtung in den sozialen Medien des Landes gab. Argentinien gehört ebenfalls zu den Unterzeichnern der oben genannten Erklärung. Das Engagement des Landes im Netzwerk beschränkt sich jedoch auf die Unterzeichnung ausgewählter Erklärungen. Die argentinische Regierung steht der Initiative durchaus kritisch gegenüber: Zum einen würden die teilnehmenden Länder zu wenig in die Ausarbeitung von Vorschlägen einbezogen, zum andern könne die Allianz ohne die Beteiligung der USA und Chinas wenig ausrichten. Darüber hinaus wird sie als Einflussversuch Europas interpretiert, mit dem besonders Deutschland und Frankreich versuchen, moralische Macht im internationalen System zu konsolidieren.

Den partizipierenden Ländern in Lateinamerika stehen jene gegenüber, die die Entstehung der Allianz entweder ignorieren oder sich nicht wesentlich an einer Beteiligung interessiert zeigen. Dazu gehören bei den in diesem Beitrag behandelten Beispielen Brasilien, Guatemala und Panama. Brasilien sticht besonders heraus, weil das Land eigentlich auf eine lange multilaterale Tradition zurückblicken kann, unter der aktuellen Regierung Bolsonaro das internationale Engagement des Landes in globalen Organisationen aber so gut wie zum Erliegen gekommen ist. Die Berichterstattung der brasilianischen Medien und akademischer Kreise zur Gründung der Allianz für den Multilateralismus im Jahr 2019 ließ die aktuelle brasilianische Regierung offensichtlich unbeeindruckt. Die Regierung Panamas scheint sich für eine aktive Beteiligung an dem multilateralen Bündnis ebenfalls (noch) nicht zu interessieren, obwohl dieses seine positiven Erfahrungen mit internationaler Kooperation geradezu verlangen würde. In Guatemala lag Präsident Jimmy Morales 2019 hinsichtlich der Abschaffung der Kommission zur Korruptionsbekämpfung in Guatemala (CICIG) im Clinch mit den VN und ihrem Generalsekretär António Guterres, daher sei der Allianz für den Multilateralismus auch keine weitere Aufmerksamkeit geschenkt worden.

 

Fazit

Die Kritik, die sich die Allianz für den Multilateralismus vor allem durch die Partizipation von Staaten wie Mexiko und Singapur gefallen lassen muss, ist, dass es große Unterschiede in der Demokratiequalität sowie im politisch-ethischen Handeln der jeweils amtierenden Regierung der teilnehmenden Staaten gibt. So stuft der Freedom House Index Chile und Ghana (den anderen Mitbegründern des Netzwerkes), im Gegensatz zu Kanada, als nur „teilweise frei“ ein. Bei Mexiko ist dies auf die schwierige innenpolitische Sicherheits- und Menschenrechtslage zurückzuführen. Bei der Allianz handele es sich zudem um eine Initiative, in der divergierende ordnungspolitische und ideologische Vorstellungen zusammenkämen. Daher könne die Allianz auch keine tiefgreifenden globalen Probleme angehen, sondern konzentriere sich auf pragmatische Abmachungen in spezifischen Bereichen, wo diese relativ leicht zu erreichen sind, weil sie an wenig Verbindlichkeiten geknüpft sind.

Warum trotz langjähriger multilateraler Traditionen immer noch nicht alle lateinamerikanischen Demokratien in der Allianz für den Multilateralismus mitarbeiten, kann abschließend auf folgende Gründe zurückgeführt werden:

  1. Wie in der Kritik der argentinischen Regierung bereits angeklungen, wird die Initiative eher als europäischer Versuch der Profilierung und der Machtmanifestierung auf internationaler Bühne begriffen.
  2. Sowohl die USA als auch China sind einflussreiche Großmächte auf dem lateinamerikanischen Kontinent, vor allem was wirtschaftliche Investitionen und finanzielle Unterstützung angeht. Es liegt die Vermutung nahe, dass einige der Länder befürchten, durch eine Mitarbeit in der Allianz die guten Beziehungen zur amerikanischen oder chinesischen Regierung zu gefährden.
  3. An der Krise des lateinamerikanischen Multilateralismus, die vor allem auf das Unvermögen zur Lösung regionaler Konflikte und die fehlende Kompromissbereitschaft nationaler Regierungen in multilateralen Belangen nebst Protektionismus-Tendenzen zurückzuführen ist, leidet auch das Partizipations-interesse an neuen Initiativen wie der Allianz für den Multilateralismus.
  4. Bei der Allianz handelt es sich um ein eher loses Staatennetzwerk mit unterschiedlichen Ideologievorstellungen in für multilaterales Handeln ausschlaggebenden Politikbereichen (Sicherheit, Handelsordnung, Menschenrechte, Völkerrecht). Daher bewegt sie sich auch eher auf den „Nebenschauplätzen der internationalen Politik“. Für viele Länder in Lateinamerika sind aber gerade diese Kernbereiche globaler Politik ausschlaggebend für ihre jeweilige Außenpolitik. Daher ist zu vermuten, dass nicht für alle lateinamerikanischen Demokratien eine Teilnahme attraktiv erscheint, solange sich die inhaltliche Ausrichtung der Allianz weiter auf die weichen Themen der internationalen Zusammenarbeit konzentriert.

 

Es bleibt abzuwarten, ob die aktuelle weltweite Coronakrise etwas an dieser Bereitschaft ändern wird, zumal hier mit der globalen Gesundheit ein neuer Kernbereich internationaler Politik ins Zentrum der Themenagenda der Allianz gerückt ist. Unter den Unterzeichnern der Gemeinsamen Erklärung zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie befinden sich immerhin zehn lateinamerikanische Länder (Argentinien, Chile, Costa Rica, Dominikanische Republik, Ecuador, Mexiko, Paraguay, Peru, Kolumbien, Uruguay).

 


 

Winfried Weck ist Leiter des Regionalprogramms Allianzen für Demokratie und Entwicklung mit Lateinamerika (ADELA) und Leiter des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Panama.

 


 

Teresa Marten war bis Juli 2020 Projektkoordinatorin für Multilateralismus und Sicherheitsfragen im Regionalprogramm ADELA.

 


 

Für die einzelnen Länderbeiträge, die in einer gesonderten Publikation des Regionalprogramms ADELA veröffentlicht werden, danken wir den folgenden Autoren:

 

  • Constantino Urcuyo Fournier (Costa Rica), Professor an der Universidad de Costa Rica
  • Eduardo Pastrana und Andrés Mauricio Valdivieso (Kolumbien), Professoren an der Pontificia Universidad Javeriana de Bogotá (PUJ)
  • Alonso Illueca (Panama), Anwalt für Internationales Recht
  • Dr. Elsa Llenderrozas (Argentinien), Leiterin des Studien-gangs Politikwissenschaften an der Universidad de Buenos Aires
  • Andreas Klein (Chile), Leiter des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Santiago de Chile
  • Monique Sochaczewski (Brasilien), Projektkoordinatorin am Centro Brasileiro de Relações Internacionais (CEBRI)
  • Fernando González Davison (Guatemala), Anwalt und Autor
  • Elaine Ford (Peru), Leiterin des Thinktanks Demo-cracia & Desarrollo Internacional (D&D Internacional)
  • Francisco Belaunde Matossian (Peru), Professor für Internationale Politik an der Universidad San Ignacio de Loyola und der Universidad Científica del Sur
  • Dr. Natalia Saltalamacchia Ziccardi (Mexiko), Professorin am Instituto Tecnológico Autónomo de México (ITAM)

 


 

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