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Murad Sezer, Reuters

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Von Brücken und Toren

Das Regionalmachtstreben der Türkei

Die Brücke nach Asien. Das Tor zum Nahen Osten und nach Europa. Die Türkei wird seit Jahrhunderten als ein Land zwischen der westlichen und östlichen Welt betrachtet. Sei es wegen der türkischen Militärstützpunkte, die von der ­NATO als Brückenköpfe in den Nahen Osten genutzt werden, oder wegen der Drohungen von Präsident Recep Tayyip Erdoğan, den Millionen der von der Türkei beherbergten Flüchtlinge „die Tore“ nach Europa zu öffnen: Das ­NATO-Mitglied und der EU-Beitrittskandidat Türkei stellt die westliche Allianz in den letzten Jahren zunehmend vor vollendete Tatsachen.

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Die Türkei ist militärisch in den wichtigsten Konflikten in ihrer Region engagiert und hat ihre weltweite Militärpräsenz in den letzten Jahren extrem ausgebaut. Der türkische Einfluss reicht vom Balkan bis zum Horn von Afrika. Jahrzehntealte Konflikte mit den Nachbarn Griechenland, Zypern und damit auch der EU um die Abgrenzung von Territorialgewässern, ausschließlichen Wirtschaftszonen und die Nutzung des Festlandsockels sind 2020 wieder eskaliert. Verstärkt mischt sich die Türkei in innenpolitische Debatten anderer Staaten ein und beansprucht offen eine Führungsrolle in ihrer Nachbarschaft. Vor dem Hintergrund der amerikanischen Abwesenheit im östlichen Mittelmeerraum und im Nahen Osten findet derzeit daher eine Machtverschiebung statt. Unabhängig von ihren westlichen Bündnispartnern verfolgt die Türkei zunehmend eine eigenständige Politik.

In diesem Zusammenhang wird der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan im Westen allzu gerne als neuer Sultan bezeichnet. Die oft als neo-osmanisch und revisionistisch titulierte Außenpolitik der AK-Partei vermittelt im westlichen Ausland die Vorstellung, dass die Regierung unter Erdoğan die Ausdehnung und Größe des untergegangen Osmanischen Reiches wiederherstellen wolle. Die Türkei möchte zwar ihren globalen Einfluss erhöhen und erhebt den Anspruch, als Regionalmacht in die Fragestellungen ihrer Nachbarschaft involviert zu sein, doch möchte keineswegs eine imperiale Macht sein. Entgegen der westlichen Wahrnehmung, die Außenpolitik der Türkei unter Erdoğan verfolge vor allem islamistische Ziele, dient die scheinbar neue proaktive Außenpolitik Ankara vielmehr als Mittel, um die innere Legitimität des Regimes zu stärken. Die neo-osmanische Rhetorik dient dem türkischen Präsidenten in erster Linie zur Erhaltung seiner Macht. Er will innen- wie außenpolitisch als starker Mann wahrgenommen werden und so Verhandlungsmasse für Gespräche zum Beispiel mit der EU oder Russland schaffen. Es ist trotzdem zu einfach, die aktuelle türkische Außenpolitik alleine mit der Persönlichkeit eines Recep Tayyip Erdoğans zu erklären. Vielmehr ist es wichtig, die Außenpolitik der Türkei in einem breiteren historischen Kontext zu betrachten, um zu erkennen, dass die gegenwärtige Politik in der Nachbarschaft viel eher opportunistischer als strategischer Natur ist und einer tief verankerten türkischen Realpolitik folgt. Diese ist keineswegs ein neues Phänomen. Die in der westlichen Betrachtung präsente Überbewertung des Islams als Grund für die türkische Außenpolitik verkennt die Komplexität und Hintergründe der türkischen Sicherheitspolitik.

Die nachfolgende Analyse zeigt, dass zwar möglicherweise die Rhetorik aus Ankara unter anderen Regierungen eine andere wäre, sich der außenpolitische Kurs jedoch nicht wesentlich unterscheiden würde. Der Artikel zeigt die realen und konstruierten Treiber der außenpolitischen Wahrnehmung und der daraus resultierenden Außenpolitik der Türkei auf.

Ein Blick in die jüngere Geschichte der Türkei hilft uns zu erkennen, was sich wirklich verändert hat und worauf das Regionalmachtstreben der Türkei basiert. Außerdem wird die Frage beleuchtet, wie nachhaltig diese scheinbar neue Politik ist und welche Rolle die Türkei im Rahmen globaler Machtverschiebungen einnehmen könnte.

 

Historische Einordnung: Von Reaktion zu Prävention

Als 1923 die moderne türkische Republik aus der Asche des Osmanischen Reiches entstand, galt in Ankara die Maxime „Frieden zu Hause, Frieden in der Welt“ des Staatsgründers der modernen Türkei, Mustafa Kemal Atatürk. Orientiert an dieser anti-imperialen Doktrin, verfolgte die türkische Politik vor allem eine innenpolitische Stabilisierung und Wahrung der territorialen Integrität. Der Befreiungskampf nach dem Vertrag von Sèvres mit der westlichen Besatzung hinterließ seine Spuren in einem Nationalismus, der das kollektive Geschichtsbewusstsein in der Türkei bis heute prägt. Im Westen vergessen, ist das Gespenst von Sèvres und das Narrativ der Einkreisung in der Türkei noch allgegenwärtig.

Das Narrativ von Spaltungsversuchen durch ausländische Mächte ist eine mächtige Kraft in der türkischen Politik.

Die Idee, dass westliche Großmächte die Ambitionen der Türkei seit jeher untergraben würden, ist in der türkischen Gesellschaft tief verankert – und das nicht ganz unbegründet. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert haben europäische Großmächte wie Frankreich, Russland und Großbritannien systematisch die Souveränität und Integrität des Osmanischen Reiches unterminiert, indem sie separatistische Bewegungen auf dem damals noch osmanischen Balkan und später in der arabischen Welt unterstützten. Gleichzeitig versicherten sie der osmanischen Regierung, ihr bei der Erhaltung des Status quo behilflich zu sein. Die Vorstellung, dass ausländische Mächte versuchen, die Türkei zu schwächen und zu spalten, ist weiterhin so sehr verbreitet, dass sie eine mächtige Kraft in der Innen- und Außenpolitik der Türkei ist. Gemäß einer Studie der Istanbuler Bilgi-Universität von 2018 glauben 87 Prozent der Türken daran, dass die europäischen Staaten die Türkei spalten und aufteilen wollen. So ist es auch nicht überraschend, dass türkische Politiker und Medien schnell den Westen als einen der Schuldigen für den gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli 2016 identifiziert hatten.

Die Erinnerung daran, das Osmanische Reich an ethnischen Nationalismus und Separatismus verloren zu haben, hat zu einer Überempfindlichkeit gegenüber äußeren Einmischungen in „türkische“ Themen geführt. Sowohl im Konflikt in Syrien als auch im Irak stellte sich Washington an die Seite der Kurden, ohne die türkische Sicherheitswahrnehmung zu berücksichtigen. Die Unterstützung der kurdischen YPG durch die USA ist daher auch vor diesem Hintergrund zu sehen und wirkt doppelt schwer in der türkischen Politik und Gesellschaft.

 

Konstanten der Außenpolitik

Traditionell ist die türkische Außenpolitik geprägt von ebenjenen historischen Erfahrungen des Osmanischen Reiches, der geostrategischen Lage des Landes sowie der politischen Ideologie seiner kemalistischen Gründerväter.

Die geopolitische Lage der Türkei prägt in besonderem Maße die Außenpolitik des Landes und sorgt dafür, dass dessen Handeln in den letzten Jahrzehnten vor allem von sich ändernden (geopolitischen) Umständen getrieben war. Die Türkei ist ein sehr gutes Beispiel dafür, wie und in welchem Maße die Geografie die Außenpolitik eines Landes bestimmt. Als die noch junge Republik zunehmend von der Sowjetunion bedrängt wurde, die territoriale Zugeständnisse von der Türkei und Stützpunkte am Bosporus forderte, strebte die türkische Regierung mit dem Beitritt des Landes zur NATO am 18. Februar 1952 die Anbindung an den Westen an.

Diese Lage und Ausrichtung erhöht den Wert der Türkei als Bündnispartner für die NATO und sorgt dafür, dass das Land innerhalb des westlichen Verteidigungsbündnisses vor allem als funktionaler Verbündeter betrachtet wird, welcher in erster Linie aufgrund seiner geografischen Lage und militärischen Macht einen essenziellen Bestandteil der NATO ausmacht. Die zweitgrößte Armee der NATO nach den USA ist seit dem Kalten Krieg fest in das westliche Bündnissystem eingebettet und bildet weiterhin den wichtigsten Bestandteil der Südflanke der Allianz. Trotz aller antiwestlicher Rhetorik stellt die NATO für die Türkei mitunter die einzige internationale Plattform dar, wo sie auf Augenhöhe agieren kann. Die Tatsache, dass es bislang keine realistische Alternative zur Anbindung an den Westen gibt, zeigt sich auch an der Bedeutung, welche Ankara der NATO beimisst. Am 1. Januar 2021 hat die Türkei das Kommando der VJTF (Very High Readiness Joint Task Force), des schnellen Eingreifverbandes der Allianz, übernommen. Diese Speerspitze besteht aus einer verstärkten Kampfbrigade mit etwa 6.400 Soldaten, die innerhalb weniger Tage einsatzbereit und verlegbar sind. Außerdem ist die Türkei als kaum verzichtbarer Truppensteller in zahlreicheNATO- und VN-Missionen eingebettet. Dies zeigt, dass trotz der Schwierigkeiten mit einigen ihrer NATO-Verbündeten die Türkei weiterhin ein fester Bestandteil der Militärstrukturen ist. Ebenso hat die Türkei sich dafür eingesetzt, dass auch nach einem Abzug der USA aus Afghanistan eine internationale Militärpräsenz im Land bleibt. Türkische Soldaten werden ihre Ausbildungsmission für afghanische Sicherheitskräfte fortsetzen.

 

Neue Welt – Neues Sicherheitsumfeld

Während andere europäische NATO-Staaten wie Deutschland sich auf die Sicherheitsgarantie der NATO verlassen konnten, war die Türkei seit ihrem Beitritt immer auch darauf angewiesen, sich selber zu helfen. Nach dem Johnson Letter von 1964, in welchem der amerikanische Präsident Ankara drohte, dass im Falle eines Angriffs der UdSSR auf die Türkei die NATO der Türkei nicht helfen würde, falls die Türkei sich in Zypern engagieren sollte, begann Ankara seine Beziehungen zur UdSSR zu verbessern und zunehmend auch eigene Positionen, unabhängig von der restlichen NATO, zu verfolgen. Seit dem Fall der Mauer und der Auflösung der Sowjetunion befindet sich Westeuropa umgeben von Freunden und Sicherheit. Die Türkei hingegen sieht sich seit den 1990er Jahren umzingelt von Instabilität. In den letzten drei Jahrzehnten entstanden durch den Zerfall der Sowjetunion und den blutigen Zusammenbruch Jugoslawiens dutzende neue Staaten in ihrer Nachbarschaft. Die Desintegration des Irak und der Kollaps Syriens, der Bergkarabachkonflikt und der Krieg gegen die PKK im eigenen Land haben das sicherheitspolitische Verständnis der Türkei geprägt. Insbesondere der Nahe Osten – und damit die direkte Nachbarschaft der Türkei – war seit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches durchgehend geprägt von Instabilität und hat insbesondere seit dem Beginn des neuen Jahrtausends immense Sicherheitsprobleme für Ankara gebracht. Dementsprechend liegt der Erhalt eines stabilen Status quo in der Nachbarschaft im besonderen Interesse Ankaras. In diesem Sinne wurde schon früh die oben erwähnte Doktrin Atatürks aufgeweicht, wenn die Türkei ihre Sicherheitsinteressen bedroht sah. Mit dem Anschluss Hatays 1939 und der Militärintervention in Nordzypern 1974 auf Grundlage der Zürcher und Londoner Abkommen von 1959, in denen die Türkei als eine der Garantiemächte für die neue Republik Zypern festgelegt wurde, zeigte die türkische Republik, dass sie bereit war, militärisch zu reagieren und unilateral zu agieren, wenn dies türkische sicherheitspolitische Interessen erforderten.

Die Türkei hatte es traditionell vermieden, sich in regionale Politik und Konflikte einzumischen. Die geopolitischen Entwicklungen sowie die Ereignisse im eigenen Land zwangen die Türkei dazu, sich stärker mit ihrer Außenwelt zu befassen und in der internationalen Politik eine größere Bedeutung zu erlangen. Der Terror durch die PKK, die Erfahrungen der beinahe gescheiterten Zypern-Operation und das Ende des Kalten Krieges führten in der Türkei zu einem sicherheitspolitischen Paradigmenwechsel. Beim türkischen Militär etablierte sich die Maxime der zweieinhalb Kriege, laut welcher die Streitkräfte in der Lage sein müssen, das Land gleichzeitig im Westen und im Osten zu verteidigen sowie im Inland der Bedrohung durch die PKK standzuhalten.

Der Wandel hin zu einer aktiveren Beteiligung an regionalen Entwicklungen hat die politische Reichweite der Türkei erhöht, ihr aber auch Sicherheitsprobleme beschert.

Die sich ändernden Umstände haben gleichzeitig vollkommen neue Möglichkeiten für die türkische Außenpolitik eröffnet. Die Unabhängigkeit der Turk-Republiken und das Erstarken der muslimischen Bevölkerung auf dem Balkan erweckten historische Parallelen zum Leben und ermöglichten es der Türkei, positive Erinnerungen an das Osmanische Reich für ihre außen- und wirtschaftspolitischen Zwecke zu nutzen. Im Zuge dieses neuen außenpolitischen Auftretens leistete das Land in den 1990er Jahren einen Beitrag zu multilateralen Militäroperationen der NATO und ergriff in ihrer gesamten Nachbarschaft vom Balkan (Bosnien und Herzegowina und Kosovo) über den Kaukasus (Bergkarabach) bis in den Nahen Osten (Kuwait und Irak) Partei.

Der Wandel von der traditionellen Politik der Abschottung und Nichteinmischung hin zu einer zunehmend aktiven Beteiligung der Türkei an regionalen Entwicklungen hat einerseits dem Land das Potenzial gegeben, seine wirtschaftliche und politische Reichweite zu erhöhen, andererseits aber auch neue Herausforderungen und Sicherheitsprobleme mit sich gebracht. Durch den „Arabischen Frühling“ 2011 und seine Nachwirkungen ist die rapide Verschlechterung des regionalen und inneren Sicherheitsumfelds der Türkei mit der wachsenden Wahrnehmung zusammengetroffen, dass deren westliche Verbündete zentralen türkischen Sicherheitsinteressen nicht genügend Beachtung schenken. Der Sturz Saddam Husseins entfachte die Kurdenfrage im Irak erneut, die im Zuge des syrischen Bürgerkrieges wiederum wichtig wurde.

 

Dünya beşten büyüktür  – „Die Welt ist größer als fünf“

Die regionalen Machtambitionen wurden in den letzten Jahren durch die Rolle des seit 18 Jahren regierenden Recep Tayyip Erdoğan verstärkt. Erdoğan betrachtet sein Land als Regionalmacht, welche nicht von Europa oder den USA abhängig ist und schon gar nicht von diesen bevormundet werden soll. Diese Vision gipfelt in seinem Mantra, dass „die Welt größer als fünf“ sei. Hiermit verweist er auf die permanenten Mitglieder des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen, den er reformieren will, um die Machtverschiebung seit dem Ende des Kalten Krieges rund um den Globus widerzuspiegeln. Schon 2012, als der Rat daran scheiterte, eine Resolution gegenüber Syrien zu verabschieden, kritisierte er medienwirksam dessen Zusammensetzung. Zuletzt prangerte Erdoğan im Herbst 2020 die Ineffektivität der globalen Mechanismen im Zuge der COVID-19-Pandemie an und forderte weitreichende Reformen.

Die Türkei strebt eine strategische Unabhängigkeit an, ohne ihre traditionelle Westbindung aufzugeben.

In der „Neuen Türkei“ geht es um Unabhängigkeit um jeden Preis. Trotz einer desaströsen Wirtschaftslage und einer stark abgewerteten Lira weigert sich die türkische Regierung daher weiterhin vehement, ein Hilfsprogramm des Internationalen Währungsfonds anzunehmen. In der Türkei gilt die unausgesprochene Erwartung, dass ihr eine natürliche Führungsrolle in einer veränderten Welt zusteht. Gülnur Aybet, eine außen- und sicherheitspolitische Beraterin des türkischen Präsidenten, beschreibt diese neue Rolle der Türkei als „Selbsthilfestaat“, welcher „für seine eigenen nationalen Sicherheitsprioritäten sorgt sowie seine Beziehungen zwischen den Großmächten und regionalen Akteuren ausbalanciert, um die für die eigenen Interessen am besten geeignete Lösung zu finden“. Dieses ernsthafte Regionalmachtstreben ist erst heute möglich, da der Türkei zuvor die Ressourcen und politischen Gestaltungsmöglichkeiten fehlten. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung, der Stabilisierung und Konsolidierung der Regierungsverhältnisse Anfang der 2000er sowie den veränderten geopolitischen Umständen hatte die Türkei erstmals seit Jahrzehnten wieder die Möglichkeit, die ihrer Meinung nach natürliche und ihr zustehende Vormachtstellung in der Region auszubauen.

 

Unabhängigkeit um jeden Preis

Der Wunsch nach einer Emanzipierung von „westlicher Bevormundung“ stellt in gewisser Weise eine Fortsetzung der atatürkschen republikanischen Doktrin zur Erlangung der Unabhängigkeit dar. In den Anfangsjahren der Republik und im Kalten Krieg noch angewiesen auf die westlichen Verbündeten, strebt das Land heute eine strategische Unabhängigkeit an, ohne seine traditionelle Westbindung aufzugeben. Dieses gaullistische Verständnis unterstreicht, dass der für die westlichen Verbündeten neue Ton der türkischen Außenpolitik weniger mit religiösen oder imperial-revisionistischen Ambitionen zu tun hat, sondern vielmehr mit dem Streben nach Unabhängigkeit, getrieben von einem tief verankerten Nationalismus. Die aggressive Rhetorik und das offensichtliche innenpolitische Machtkalkül dahinter ist weniger der Grund als der Katalysator für die Entwicklung der letzten Jahre. Verfolgte die AK-Partei am Anfang ihrer Regierungszeit noch einen liberalen und wesentlich weniger konfrontativen Kurs als die kemalistischen Eliten des Landes, hat sie in den letzten Jahren unter Einbeziehung der ultranationalistischen MHP deren nationalistischen Kurs für sich vereinnahmt. Nachdem die AK-Partei 2015 erstmals die absolute Mehrheit verloren hatte, musste sie spätestens nach dem Putschversuch 2016 zwingend die Kooperation mit konservativ-nationalistischen Eliten suchen, um ihre Macht zu erhalten. Der Einfluss dieser Allianz auf die Außenpolitik wurde sichtbar in der neuen Härte gegen die Kurden und den mittlerweile vier separaten Interventionen in Syrien. Kurz nach dem Putschversuch 2016 erklärte Erdoğan, die Türkei könne es sich nicht mehr erlauben, da-rauf zu warten, dass Probleme „an ihre Tür klopfen“, und unterstrich damit den Wandel von Reaktion zu Prävention.

Der nationalistische außenpolitische Kurs würde sich nicht ändern, wenn die heutige Opposition die Nachfolge der AK-Partei antreten würde.

Diese Logik des Präventivschlags und der militärischen Machtpolitik nutzt den in der Türkei tief verwurzelten Nationalismus. Die aktuelle Melange aus politischem Islam und kemalistischen Hardlinern lässt sich mit ebenjenem Nationalismus erklären, welcher das Bindeglied für die heute so polarisierte türkische Gesellschaft darstellt. Dies erklärt auch, warum die türkische Regierung trotz der Tatsache, dass sie international zunehmend isoliert wird und scheinbar einen Kampf gegen alles und jeden führt, ihre außenpolitische Agenda ohne nennenswerte Kritik im Inland durchsetzen kann. Mehr noch: In den letzten Jahren hat Präsident Erdoğan seine Koalition in außenpolitischen Fragen dramatisch ausgeweitet und Unterstützung von den Oppositionsparteien mit Ausnahme der kurdischen HDP erhalten. Bei den letzten Kommunalwahlen haben auch führende Politiker der größten Oppositionspartei, der kemalistischen CHP, mit konservativen und nationalistischen Programmen gewonnen, beispielsweise Ekrem İmamoğlu und Mansur Yavaş. Insbesondere der Oberbürgermeister von Ankara, Mansur Yavaş, der im letzten Jahr an Popularität gewonnen hat und als möglicher Präsidentschaftskandidat gehandelt wird, kommt aus dem nationalistischen Lager. Bis 2013 war Yavaş Mitglied der ultranationalistischen MHP. In einigen Fällen, wie den Entwicklungen um das türkische Forschungsschiff Oruç Reis im östlichen Mittelmeer, bestand der Oppositionsführer der CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, beispielsweise auf einen wesentlich aggressiveren Ton in der Außenpolitik.

Diese innenpolitisch begründete nationalistische Rhetorik der Regierung verzerrt unweigerlich die Wahrnehmung von äußeren und inneren Bedrohungen. Stärker als religiöser Konservatismus und Islamismus sind daher Nationalismus und Nativismus Treiber des außenpolitischen Kurses der Regierung Erdoğan. Es ist ein Trugschluss zu glauben, der nationalistische außenpolitische Kurs würde sich ändern, falls eines Tages die Opposition die Nachfolge der AK-Partei antreten sollte.

 

In der Tradition von Turgut Özal

Der konservativ-liberale Turgut Özal legte den Grundstein für dieses neue außenpolitische Konzept. Während seiner Zeit als Minister- und Staatspräsident der Türkei (insgesamt von 1983 bis 1993) wurde die Außenpolitik zunehmend zu einer Erweiterung der Innenpolitik. Das Ende des Kalten Krieges sah Özal als Chance für die Türkei, „zwei Karten“ auszuspielen – zum einen die der traditionellen westlichen Verbündeten und zum anderen die der arabischen und islamischen Welt. In seiner Zeit als Ministerpräsident und Präsident begann er, das osmanische Erbe wieder hervorzuheben und für außenpolitische Initiativen zu nutzen. Außerdem fand eine Liberalisierung statt, die erstmals seit der Gründung der Republik den Islam wieder staatsfähig machte sowie in die Gesellschaft und vor allem Politik zurückbrachte. Seine insgesamt aktivere Außenpolitik, die darauf abzielte, der Türkei bei ihrer Modernisierung und Positionierung in der neuen Welt zu helfen, legte somit den Grundstein für das heutige außenpolitische Auftreten Ankaras.

Die schmerzvolle Erfahrung der Beteiligung der Türkei am Zweiten Golfkrieg 1991 an der Seite der USA, welcher letztlich der Türkei mehr schadete als nutzte, zeigte den verantwortlichen Strategen allerdings wieder einmal, dass die Interessen der westlichen Verbündeten nicht unbedingt kongruent mit denen Ankaras waren. Während im Zweiten Golfkrieg Ankara den USA noch gestattete, aus İncirlik Luftangriffe auf irakische Ziele zu starten, warnte die Türkei 2003 vor den langfristigen Folgen einer erneuten Intervention im Irak für die Region und stellte sich wie Frankreich und Deutschland gegen die Bush-Regierung.

Der multidimensionale Ansatz Davutoğlus ist zwar weiterhin präsent, aber das Gewicht ist zu Gunsten einer militarisierten hard power gekippt.

Die strategische Neuorientierung setzte sich in der Vision des früheren Außenministers von Erdoğan, Ahmed Davutoğlu, von einer aktiven und multidimensionalen Außen- und Regionalpolitik fort, in welcher die Türkei gemeinsam mit anderen Akteuren eine Gestaltungsrolle vor allem in ihrer Nachbarschaft übernimmt. Diese „Null-Probleme mit Nachbarn“-Politik ist allerdings spektakulär gescheitert, als die arabischen Aufstände der Jahre 2010/2011 und ihre Nachwirkungen die gesamte Region auseinanderrissen. Die Entscheidung, sich früh zu positionieren und am Anfang der Proteste islamistische Kräfte wie die Muslimbruderschaft zu unterstützen, hat nach dem Scheitern dieser Kräfte zu einer zunehmenden Isolation der Türkei in Teilen der arabischen Welt geführt, die bis heute anhält.

 

Rüstungsunabhängigkeit bis 2023

Angefangen mit Özal über Davutoğlu bis hin zur jetzigen Situation hat sich Ankara zunehmend einer aktiven Außenpolitik hingewandt. Was ist also anders als noch vor wenigen Jahren? Der eigentliche Wechsel hat von einer Politik der aktiven soft power hin zu einer hard power in Form einer zunehmend militarisierten Außenpolitik stattgefunden. Dies liegt vor allem auch daran, dass die Türkei mittlerweile Möglichkeiten hat, die ihr noch vor wenigen Jahren verwehrt waren. Ausdruck dieser Militarisierung ist der Ausbau von militärischer Infrastruktur im nahen und fernen Ausland. In Mogadischu befindet sich beispielsweise seit 2017 die größte türkische Ausbildungsstätte außerhalb der Türkei. Das Land hat sich damit neben seiner Marinepräsenz im Golf von Aden an einem entscheidenden Nadelöhr in der Nähe des Eingangs zum Roten Meer positioniert.

Der multidimensionale Ansatz Davutoğlus ist zwar weiterhin präsent, aber das Gewicht ist vor allem seit 2015 zu Gunsten einer militarisierten hard power gekippt, welche flankiert wird durch den Aufbau einer großen nationalen Verteidigungsindustrie – mit dem Ziel, in wenigen Jahren die Rüstungsunabhängigkeit zu erreichen.

Aber auch dieser Trend hat nicht erst mit der AK-Partei begonnen. Als die USA nach der türkischen Intervention auf Zypern 1974 Rüstungssanktionen gegen Ankara verhängten, begann der massive Aufbau eines nationalen türkischen Verteidigungssektors. Das Rüstungsembargo hatte gravierende Auswirkungen auf die türkische Wirtschaft und Verteidigungsfähigkeit, da die Zypernkampagne kontinuierliche logistische Unterstützung erforderte und die Türkei zu diesem Zeitpunkt von militärischen Lieferungen der Vereinigten Staaten abhängig war. Die Kubakrise und der damit verbundene Abzug der amerikanischen Jupiterraketen hatten Ankara schon zuvor die Notwendigkeit einer souveränen Rüstungsindustrie aufgezeigt. Nach dem Embargo ging die Türkei daher in den 1980er Jahren dazu über, bei der Beschaffung von neuen Waffensystemen ausländische Unternehmen zu verpflichten, einen bestimmten Teil der Produktion in die Türkei zu verlegen, um einen Technologietransfer ins Inland zu ermöglichen. Heute ist das Land mit einem Exportvolumen von drei Milliarden US-Dollar auf Platz 14 der größten Rüstungsexporteure der Welt. Ankara hat zwar den Anteil der Importe an den erworbenen Rüstungsgütern auf 30 Prozent reduziert, ist aber aktuell noch abhängig von Technologie aus dem Ausland.

Der Einsatz bewaffneter Drohnen wurde ein wesent-licher Bestandteil der türkischen Außenpolitik.

 

Mit Drohnen in die Unabhängigkeit

Nichts versinnbildlicht das Streben nach einer regionalen Vorherrschaft mehr als die bewaffnete Drohne, welche der türkischen Armee als Kampfkraft-Multiplikator zur Erhöhung der Effektivität der Streitkräfte dient und der türkischen Wirtschaft als erfolgreiches Exportgut. In ihrem jahr-zehntelangen Kampf gegen die PKK hat die Türkei früh erkannt, dass eigene strategische Fähigkeiten und solche Kampfkraft-Multiplikatoren der Schlüssel für einen hohen Grad an strategischer Unabhängigkeit und Erfolg in der Gefechtszone sind. Außerdem hat die Analyse des erfolgreichen Einsatzes von Drohnen durch die USA und Großbritannien in Afghanistan und im Irak dazu geführt, dass die Türkei vorausschauend die Bedeutung von Drohnen richtig eingeschätzt hat. Mittlerweile gehört das Land zu den weltweit führenden Herstellern von Drohnen. Deren erfolgreiche Anwendung an unterschiedlichsten Fronten hat ihre Kampftauglichkeit demonstriert, was wiederum den türkischen Herstellern Vorteile beim Exportabsatz verschafft. Türkische Drohnen werden in der Türkei von allen Teilstreitkräften und dem Geheimdienst MIT eingesetzt. Ihr erfolgreicher Einsatz ist mittlerweile ein wesentlicher Bestandteil der türkischen Außenpolitik geworden. Die Erfahrungen einer effektiven Nutzung von Drohnen hat die türkische Armee zum einen durch den Einsatz in asymmetrischen Konflikten wie dem Kampf gegen die PKK im Nordirak und zum anderen durch deren Erprobung auf entlegeneren Kriegsschauplätzen gesammelt. Der erfolgreiche Einsatz der türkischen Drohnen – neben den israelischen – durch Aserbaidschan erwies sich als großer taktischer Erfolg. Die Luftunterstützung durch türkische Drohnen in Libyen zur Stabilisierung der von den Vereinten Nationen anerkannten Regierung, welche das Gleichgewicht im Kampf gegen den aufständischen General Chalifa Haftar wiederhergestellt hat, kurbelt die Exporte türkischer Drohnen weiter an. Deren systematischer Einsatz bei türkischen Militäroperationen in Syrien zeigt die maßgebliche Bedeutung dieser Technologie als Stütze der türkischen Außenpolitik.

Neben der Entwicklung des ersten leichten Flugzeugträgers TCG Anadolu, der in Kürze in Betrieb genommen werden soll, zeigt diese Entwicklung, dass die Türkei mittlerweile in der Lage ist, Macht zu projizieren und größere Expeditionsstreitkräfte schnell und effektiv einzusetzen.

 

Neue Partner – Neue Allianzen?

Dass eine schwache Wirtschaft letztlich diese aktive Außenpolitik einschränken wird, ist längst nicht ausgemacht. Vieles spricht dafür, dass die innenpolitische Situation das selbstbewusste außenpolitische Auftreten der Türkei weniger einschränkt, als dass sie ihm als Motor dient. Die Tatsache, dass es in der türkischen Bevölkerung eine breite Rückendeckung für ein ausgedehntes außenpolitisches Engagement gibt, erlaubt es der Regierung in Ankara, weiter Ressourcen in diese Richtung zu lenken, obwohl sie an anderer Stelle im Land fehlen.

Betrachtet man die türkische Außenpolitik in der Region vor diesem Hintergrund, erscheint sie alles andere als willkürlich. Sie ist vielmehr rational und erfolgt hauptsächlich bis ausschließlich basierend auf der Durchsetzung der nationalen Interessen. Diese türkische Realpolitik manifestiert sich im Umgang mit Russland, dem Engagement in Libyen, den Militäroperationen in Syrien und im Irak sowie den angespannten Beziehungen zu den westlichen Bündnispartnern. Als Teil dieser Bestrebungen werden neue Partnerschaften geknüpft, teils taktischer, teils langfristiger und strategischer Natur.

Während die westliche Welt mit der Coronapandemie beschäftigt ist, konsolidieren Russland und die Türkei ihren militärischen Einfluss.

Die US-amerikanische Abwesenheit in den letzten Jahren und das damit entstandene politische Vakuum haben dafür gesorgt, dass Ankara mitunter als einziges militärisches Gegengewicht zu Russland in mehreren Konflikten in der unmittelbaren türkischen Nachbarschaft dasteht. Anders als der Konflikt um die Beschaffung des russischen Luftabwehrsystems S-400 und die damit verbundene Nicht-Lieferung US-amerikanischer F-35 Kampflugzeuge vermuten lässt, ist das derzeitige Agieren Ankaras gegenüber Moskau weniger Ausdruck einer Reorientierung der Türkei hin zu Russland als ein Zeichen für das selbstbewusste Auftreten einer Regionalmacht. Die bei den NATO-Partnern kritisch beäugte punktuelle Zusammenarbeit mit Russland oder China ist demnach zum jetzigen Zeitpunkt rein taktischer und opportunistischer Natur und dient dazu, die eigenen, kurzfristigen Ziele zu erreichen. Mittelfristig sind sowohl Russland als auch China strategische Konkurrenten, welche in der türkischen Nachbarschaft wie auch in Afrika konträre Ziele zur Türkei verfolgen. Während die westliche Welt auch diplomatisch und außenpolitisch mit den Auswirkungen der Coronapandemie beschäftigt ist, setzen sich Russland und die Türkei weiterhin in Libyen fest und konsolidieren ihren militärischen Einfluss. Erst vor Kurzem hat das türkische Parlament das Mandat zur Entsendung von Truppen um 18 Monate verlängert. Flankiert von diplomatischen und zunehmend militärischen Bemühungen in den benachbarten Staaten Niger, Tunesien und Algerien, baut Ankara seinen Einfluss und seine Infrastruktur sukzessive aus. Im Sommer 2020 hat sich die türkische Regierung im Konflikt um Bergkarabach zudem demonstrativ hinter Aserbaidschan gestellt, aufbauend auf dem an die nationalistische Klientel adressierten Slogan „Zwei Staaten, eine Nation“. Auch die Fähigkeit Ankaras, in kürzester Zeit ein de facto staatsähnliches, vom syrischen Zentralstaat unabhängiges Gebiet an seiner südlichen Grenze zu errichten mit einer Infrastruktur, welche in Kürze eine halbe Million syrischer Flüchtlinge beherbergen soll, unterstreicht den Gestaltungsanspruch in der Region.

Dieser Anspruch wird ebenso am Beispiel der strategischen Achse Ankara-Baku-Kiew deutlich. Bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj betonte Erdoğan, die Ukraine sei „ein Schlüsselland für Stabilität, Frieden, Sicherheit und Wohlstand in der Region“ und die „Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine [werde] auch in Bezug auf die [ehemals osmanische] Krim“ von Ankara unterstützt. Seit dem Zwischenfall auf dem Asowschen Meer im November 2018 unterstützt die Türkei massiv den Umbau der ukrainischen Marine mit Rüstungslieferungen wie Korvetten der T-MILGEM-Klasse. Hinzu kommt die Kooperation in der Herstellung von Drohnen und anderen Rüstungsgütern, die vor Kurzem noch einmal ausgeweitet wurde.

Die türkische Allianz mit Katar in Folge des Arabischen Frühlings dient als ideologisches und finanzielles Gegengewicht zum von den VAE und Saudi-Arabien angeführten Golfkooperationsrat und zu Ägypten. In nur fünf Jahren ist Katar mit mittlerweile 15 Prozent aller ausländischen Direktinvestitionen der zweitgrößte Investor in der Türkei geworden. Die Türkei hält währenddessen Katar den Rücken frei im Konflikt mit Dohas Nachbarn vom Golf und stellt sich gegen deren Regionalpolitik in Libyen, Jemen und Syrien. Mit dem Ende des Embargos gegen Katar und der beginnenden Reintegration in die Arabische Welt sowie der israelischen Integration wird die Türkei aus ebenjenen realpolitischen Überlegungen versuchen, einen Modus Vivendi mit Israel sowie den VAE und anderen arabischen Ländern zu finden, um sich den geopolitischen Verschiebungen in der Region anzupassen. Die Annäherungsversuche an Ägypten und die Entspannungssignale gegenüber Israel unterstreichen diese Vermutung.

 

Fazit

Die Entwicklungen der letzten Jahre und insbesondere das Jahr 2020 zeigen, dass die Türkei nicht nur nach dem Status einer Regionalmacht strebt, sondern de facto schon längst eine geworden ist. Die Nicht-Anerkennung dieser Entwicklung ist der Dorn im Auge der türkischen Führung, welcher den Trend zu unilateralem Aktionismus vorantreibt. Unmissverständlich klar wurde jedoch in den letzten zwei Jahren, dass Ankara die Sprache der Macht beherrscht, welche die EU weiterhin zögert zu sprechen.

2022 wird die Türkei ihre 70-jährige Mitgliedschaft in der NATO feiern. Damit ist sie länger Mitglied als die Bundesrepublik Deutschland. 2023 jährt sich der 100. Jahrestag der Ausrufung und Gründung der Republik Türkei durch Mustafa Kemal Atatürk. Wer auch immer die Türkei nach den nächsten Wahlen führen wird, wird sich der Bedeutung des Landes bewusst sein und auch in Zukunft einen Platz am Tisch einfordern. Umso wichtiger sind der Dialog und die strategische Zusammenarbeit mit der Türkei für Deutschland, Europa und die transatlantische Allianz NATO.

Trotz der global gesehenen Abnahme der Bedeutung der Region und der damit verbundenen globalen Machtverschiebung in Richtung Indopazifik wird die Relevanz der Türkei für Deutschland und Europa weiter zunehmen und ein Dialog deshalb unabdingbar sein. Die Türkei mag zwar in Zukunft für die USA nicht mehr unverzichtbar sein, aber wenn Europa eine von den Umständen getriebene Türkei verhindern möchte, muss sich die EU wesentlich stärker und strategischer in ihrer Nachbarschaft positionieren.

Ob zunehmend auf dem afrikanischen Kontinent oder in Südasien: Die Türkei kann das Tor und die Brücke zu vielen strategisch, wirtschaftlich und sicherheitspolitisch wichtigen Regionen für Deutschland und Europa bilden – oder zunehmend ein strategischer Herausforderer werden. Der Erfolg dieser Haltung und der nachhaltige Einfluss der Türkei in der Region sind zum einen abhängig von den wirtschaftlichen und industriellen Ressourcen und zum anderen von der langfristigen innenpolitischen Stabilität. Nutzen und Kosten des militärischen Expansionismus von Katar über Somalia bis Libyen werden sich aus Sicht der türkischen Regierung an der Fähigkeit Ankaras messen lassen müssen, diese neue Außenpolitik nicht nur zum Schutz der nationalen Sicherheitsinteressen einzusetzen, sondern sie auch für eine Diversifizierung der eigenen Wirtschaftsbeziehungen zu nutzen und so zu monetarisieren.

Beim Umgang mit der „Neuen Türkei“ müssen sowohl die türkischen Bedenken als auch die teils widersprüchlichen Interessen und Verflechtungen der EU-Mitgliedstaaten mit der Türkei beachtet und respektiert werden. Die USA werden mittel- bis langfristig ihr Augenmerk auf andere Weltregionen legen. Es liegt also an der EU und insbesondere an Deutschland, die Brücken nicht einzuziehen und die Tore nicht zu schließen, sondern vielmehr die Türkei als gleichberechtigten Partner ernst zu nehmen und einzubinden, anstatt sich abzuschotten, um türkische Alleingänge zu verhindern.

 


 

Walter Glos ist Leiter des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in der Türkei.


 

Nils Lange ist Trainee im Auslandsbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung in der Türkei.

 


 

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