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David Cheskin, empics, picture alliance.

Auslandsinformationen

Von einer Zone des ­Friedens zum ­Konfliktherd?

von Michael Däumer

Die geopolitische Bedeutung der Arktis

Die Arktis rückt zunehmend in den Fokus geopolitischer Interessen. War noch die von Michail Gorbatschow 1987 in Murmansk ausgerufene Losung einer „Zone des Friedens“ in der Arktis ein Hoffnungszeichen für eine konstruktive Zusammenarbeit zwischen den Anrainer­staaten, so zeichnet sich heute – vor allem nach dem völkerrechtswidrigen Einmarsch Russlands in die Ukraine – ein düsteres Bild ab, geprägt von Machtkampf, Misstrauen und Militarisierung.

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Der „Kampf um den Nordpol“ ist in aller Munde. Als Auslöser gilt insbesondere der globale Klimawandel. Zum einen führt die Erwärmung der Arktis zu dramatischen Klimaveränderungen mit weltweiten Konsequenzen. Zum anderen werden vor allem auf dem arktischen Meeresgrund wertvolle Rohstoffe vermutet, die Begehrlichkeiten nicht nur bei arktischen Anrainerstaaten wecken. Die voranschreitende Eisschmelze stellt neue See- und Handelswege in Aussicht, die für kürzere Zugänge zu Rohstoffen und wichtigen Märkten sorgen. Der Schutz der Arktis als globaler Klimaregulator, der bislang die multilaterale Agenda der arktischen Governance bestimmte, verliert damit an politischem Gewicht und geostrategische sowie ökonomische Interessen treten in den Vordergrund.

 

Die Arktis und ihre terrestrischen Gebiete

Eine international abgestimmte und allgemein rechtsgültige Definition der Arktis existiert bislang nicht. Eine häufig genutzte Definition ist die des Arctic Monitoring and Assessment Programmes (AMAP). Demnach umfasst die Arktis die Land- und Meeresflächen nördlich des Polarkreises (66°32’N) beziehungsweise nördlich des 62. Breitengrads in Asien und nördlich des 60. Breitengrads in Amerika. Teilweise werden außerdem weitere Kriterien wie politische Grenzen und die Ausdehnung des Permafrosts berücksichtigt. Zu den acht Anrainerstaaten („Arctic 8“) zählen Dänemark (mit Grönland), Finnland, Island, Kanada, Norwegen, Russland, Schweden und die USA. Davon sind die fünf Staaten Dänemark, Kanada, Norwegen, Russland und die USA Küstenanrainer („Arctic 5“). Island liegt knapp südlich des Polarkreises und wird daher nicht zu den direkten Anrainern des Nordpolarmeeres gezählt.

Im Zentrum der Arktis liegt das bislang ganzjährig zugefrorene Meer, der Arktische Ozean. Die Fläche der Arktis beträgt rund 16,5 Millionen Quadratkilometer: etwa acht Prozent der Erdoberfläche. Drei transarktische Routen durchqueren den Arktischen Ozean:

  • die durch kanadische Gewässer führende Nordwestpassage (NWP),
  • die Transpolare Route, die sich direkt über den zentralen Arktischen Ozean (also internationale Gewässer) erstreckt,
  • die Nordostpassage (NOP) nördlich der russischen und norwegischen Küsten.

Als Teil der NOP gilt die von Russland verwaltete Nördliche Seeroute (NSR), die entlang dessen Küste und durch seine Ausschließliche Wirtschaftszone (AWZ) verläuft.

Die rund fünf Millionen Quadratkilometer umfassende russische Arktis erstreckt sich entlang einer 24.140 Kilometer langen Küstenlinie von der Barentssee im westlichen Teil Russlands bis zur Beringstraße im Osten und grenzt damit an den US-Bundesstaat Alaska. Mit mehr als der Hälfte der gesamten arktischen Küstekann Russland als „arktischer Hegemon“ betrachtet werden. Auch bevölkerungsmäßig stellt Russland mit rund 70 Prozent den größten Anteil der insgesamt vier Millionen Einwohner, von denen circa zehn Prozent Indigene sind.

 

Abb. 1: Polarkreis und Transportrouten der Arktis mit Anrainerstaaten „Arctic 5“ und „Arctic 8“

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Quelle: eigene Darstellung nach Paul, Michael 2020: Arktische Seewege. Zwiespältige Aussichten im Nordpolarmeer, SWP-Studie 2020/S 14, SWP, 23.07.2020, S. 8, in: https://bit.ly/3RMdFKG [10.02.2023]. Karte: © Peter Hermes Furian, AdobeStock.

 

 

Die Governance der Arktis

Im Gegensatz zur Antarktis existiert für die Arktis aufgrund der geografischen Komplexität kein internationales Gesamtvertragswerk. Die Governance-Strukturen der Arktis basieren auf verschiedenen nationalen Gesetzen und Regelungen der Anrainerstaaten, völkerrechtlichen Verträgen und dem Völkergewohnheitsrecht. Die Mehrheit dieser Regelungen bezieht sich auf den arktischen Klima- und Umweltschutz, die Verfahren zur Klärung von Territorialansprüchen sowie auf die Zusammenarbeit und das Verhalten der Arktisstaaten in Forschung, Wissenschaft und Wirtschaft. Zu den wichtigsten regulativen Strukturen gehören das 1982 verabschiedete Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (SRÜ) sowie der 1996 gegründete Arktische Rat.

Um zu verhindern, dass sich Nicht-Anrainerstaaten in der Region im Alleingang betätigen, wurden sie vom Arktischen Rat als Beobachter eingeladen.

Das SRÜ bildet den übergreifenden völkerrechtlichen Rahmen für die Arktis. Die USA haben das Abkommen bislang als einziges Arktisland aufgrund eines Streits mit Kanada über den Status der Nordwestpassage, die Kanada als sein Hoheitsgebiet ansieht, nicht ratifiziert. Das SRÜ regelt die Grenzen der jeweiligen Hoheitsgewässer sowie die Ausschließlichen Wirtschaftszonen, die 200 Seemeilen vom Küstenstreifen ins Meer reichen. In den AWZ hat der jeweilige Küstenstaat exklusive Rechte auf die Nutzung von Rohstoffen. Zu den wichtigsten Bestimmungen des SRÜ gehört der Artikel 76 (Definition des Festlandsockels), der den fünf Arktisküstenanrainern das Recht verschafft, ihre AWZ auszudehnen, wenn sie wissenschaftlich nachweisen können, dass geologische Unterwasserformationen eine „natürliche Verlängerung des Landsockels darstellen“. Entsprechende Anträge werden in der Festlandsockelgrenzkommission (FSGK) entschieden. Damit kann ein Küstenstaat über den Festlandsockel souveräne Rechte zum Zweck seiner Erforschung und der Ausbeutung seiner natürlichen Ressourcen ausüben (Artikel 77 SRÜ). Die Aussichten auf Ansprüche auf wertvolle Rohstoffe im Nordpolarmeer haben zahlreiche Arktisanrainer dazu bewogen, Anträge bei der FSGK zu stellen. Derzeit wird über den russischen Anspruch auf den 1.800 Kilometer langen Lomonossow-Rücken verhandelt, der von den Neusibirischen Inseln über den mittleren Teil des Arktischen Ozeans unter dem Nordpol bis in die Nähe Grönlands verläuft. Zahlreiche Rohstoffe, darunter Öl und Gas sowie Seltene Erden, Platin, Diamanten, Kupfer und Zink, werden dort vermutet. Aufgrund des niedrigen geologischen Erkundungsstands des Arktischen Ozeans sind die bisherigen Potenzialabschätzungen über Rohstoffarten und -mengen jedoch weitgehend ungesichert.

 

Abb. 2: Überlappende Gebietsansprüche am Lomonossow-Rücken

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AWZ Kanada Kontinentalschelf Kanada (> 200 sm) AWZ Russland Kontinentalschelf Russland (> 200 sm) Kontinentalschelf USA (> 200 sm) AWZ Dänemark Kontinentalschelf Dänemark (> 200 sm) Nicht beanspruchte Gebiete. Quelle: eigene Darstellung nach IBRU Centre for Borders Research, Durham University, hier in: Schwedisches Außenministerium 2020: Sweden’s strategy for the Arctic region, S. 13, in: https://bit.ly/3UTD3hs [13.12.2022].

 

Das wichtigste zwischenstaatliche Forum für die Governance der Arktis ist der Arktische Rat, zu dessen Mitgliedern die sechs NATO-Länder USA, Kanada, Island, Norwegen, Finnland und Dänemark mit Grönland, der voraussichtlich künftige NATO-Staat Schweden sowie Russland zählen. Außerdem gehören ihm sechs sogenannte Ständige Vertreter der indigenen Völker („Permanent Participants“) an. Angeschoben wurde die Ratsgründung mit der Absicht, die Governance der Arktis überwiegend den Arktisanrainern zu überlassen.

Anfänglich betrachtete der Arktische Rat die Region vornehmlich als wissenschaftliches Forschungsgebiet. Zu Beginn war der Rat „weniger ein politisches Gremium als vielmehr ein wissenschaftliches Format“, bei dem nur selten Minister an Treffen teilnahmen. Mit den globalen Auswirkungen des Klimawandels stieg aber das internationale Interesse an der Arktis. Um zu verhindern, dass sich Nicht-Arktisstaaten im polaren Hinterhof der Anrainerstaaten im Alleingang betätigen, wurden sie vom Arktischen Rat eingeladen, als Beobachter teilzunehmen. So sind neben Deutschland (seit 1998) zwölf weitere Staaten als Beobachter zugelassen. Von geopolitischer Bedeutung war die Aufnahme von China, Indien, Japan, Singapur und Südkorea im Jahr 2013. Darauf hatten die asiatischen Staaten, vor allem China, das sich geografisch als „Arktisnahanrainer“ („Near-Arctic State“) versteht, längere Zeit gedrängt. Mit der Aufnahme bezweckte der Arktische Rat die Einbindung dieser Staaten in seine Strukturen. Die EU als wichtiger Arktisakteur nimmt ohne Beobachterstatus an den Ratssitzungen teil. Die meisten Beobachterländer sowie die EU haben in den vergangenen Jahren eigene Arktisstrategien veröffentlicht, darunter auch Deutschland (2013/2019), China (2018) und Indien (2022).

 

Abb. 3: Zusammensetzung des Arktischen Rates

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Zu den sechs Organisationen indigener Arktisvölker gehören der Inuit Circumpolar Council, der Saami Council, die Assoziation der indigenen kleinen Völker des Nordens, Sibiriens und des Fernen Ostens (RAIPON), die Aleut International Association (AIA), der Arctic Athabaskan Council und der Gwich’in Council International. Quelle: eigene Darstellung.

 

 

Mit der Gründung des Arktischen Rates bezweckten die Arktisstaaten, einen friedlichen und konstruktiven Interessenausgleich untereinander und mit den indigenen Völkern herbeizuführen. Zur Gewährleistung eines reibungslosen Ablaufs der Ratsarbeit verzichtete man bewusst auf die Behandlung sicherheits- und militärpolitischer Fragen. Auf diese Weise sollte die Region auch in Zeiten politischer Krisen „konfliktarm“ gehalten werden, was allgemein als „arktischer Exzeptionalismus“ bezeichnet wird. Entsprechend konnte sich die Ratsarbeit auf Klima- und Umweltschutz, wirtschaftliche Entwicklung der Arktis sowie wissenschaftliche Zusammenarbeit konzentrieren. So hat der Arktische Rat rechtsverbindliche Abkommen über die Zusammenarbeit im Such- und Rettungsdienst (2011), zur Behandlung mariner Ölverschmutzung (2013) sowie zur Verbesserung der internationalen wissenschaftlichen Zusammenarbeit (2017) erarbeitet.

Bis vor wenigen Jahrzehnten haben die klimatischen Bedingungen die Arktis geopolitisch geschützt.

Um die sicherheitspolitische Lücke, die durch die Strukturierung des Arktischen Rates entstanden war, zu schließen, wurden 2010 von Norwegen und den USA der Arctic Security Forces Roundtable, an dem neben den Arktisstaaten auch Deutschland, Frankreich, die Niederlande und Großbritannien teilnehmen, und 2012 von den Arktisstaaten der Arctic Chiefs of Defense Staff als sicherheitspolitische, wenn auch unverbindliche Dialogforen ins Leben gerufen. Zudem lud die NATO Russland ein, sich im NATO-Russland-Rat über militärische Sicherheit auch im arktischen Raum auszutauschen. Nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland 2014 wurde allerdings die Zusammenarbeit mit Russland in allen sicherheitspolitischen Foren ausgesetzt.

 

Der Klimawandel und die „Geopolitisierung“ der Arktis

Als „Indikator für den Wandel des gesamten Klimasystems“ spielt die Arktis eine globale Rolle. Bis vor wenigen Jahrzehnten haben die klimatischen Bedingungen in der Arktis diese unwirtliche Region überwiegend geopolitisch geschützt. Das hat sich mit dem Klimawandel und der raschen Erwärmung der Arktis gravierend verändert. Das deutsche Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung prognostiziert, dass weite Teile des Arktischen Ozeans und der Landmassen aufgrund des Temperaturanstiegs mit „hoher Wahrscheinlichkeit noch vor 2050 in manchen Sommern eisfrei sein“ werden. Der dadurch bewirkte weltweite Meeresanstieg sowie das Auftauen von Permafrostböden und Gletschern hat schwerwiegende Konsequenzen für Infrastrukturen und Ökosysteme. Die Folgen sind bereits deutlich in Alaska, Kanada und insbesondere in Sibirien sichtbar. Ganze Ortschaften sind einsturzgefährdet, Verkehrswege brechen ein und Versorgungsnetzwerke wie Öl- und Gaspipelines werden instabil. Dies wiederum verursacht die Unterbrechung von Produktions- und Lieferketten sowie Nahrungs- und Wasserknappheit.

Der Klimawandel schafft nicht nur ökologische, sondern auch sicherheitspolitische Probleme. Das betrifft etwa Russland: Mit der Eisschmelze an der russischen Nordküste schmilzt aus Sicht Moskaus seine Sicherheit im hohen Norden, denn das Meereis schützte auf natürliche Weise jahrhundertelang den Zugang zur nördlichen Grenze Russlands. Der „subjektiv empfundene Verlust an Sicherheit“ verstärkt die „traditionelle Belagerungsmentalität“. Somit ist die russische Interpretation des Klimawandels als Bedrohung der nationalen Sicherheit von politischer Relevanz und rechtfertigt aus der Perspektive Moskaus die (Re-)Militarisierung der Arktisregion.

Die „Geopolitisierung“ der Arktis ist zudem zu einem großen Teil auch den neuen wirtschafts- und handelspolitischen Möglichkeiten geschuldet. Der Klimawandel macht die Arktis zugänglicher und legt gleichzeitig wertvolle Ressourcen frei, wenngleich genaue Erkenntnisse über Rohstoffarten und -mengen kaum existieren. Neue See- und Handelsrouten entlang der russischen und norwegischen Küste (Nordostpassage), durch die Inselwelt Kanadas (Nordwestpassage) sowie über den noch zugefrorenen Nordpol im Arktischen Ozean (Transpolare Route) entstehen oder sind zumindest langfristig denkbar. Diese würden zu erheblich kürzeren Distanzen zwischen wichtigen Märkten führen, könnten aber auch eine immer wichtigere Rolle für den innerarktischen Verkehr in Verbindung mit Ressourcenabbau spielen. Hierdurch gewinnen die Arktisstaaten Einfluss auf den künftigen arktischen See- und Handelsverkehr. Dies ist nicht nur eine große Herausforderung für die Arktisstaaten, sondern ruft neue Akteure auf den Plan, darunter China, Indien und Japan. Deren Interessen sind sowohl wirtschaftlicher als auch politischer Natur. Mithilfe eigener Arktis-Forschungsstationen und Meeresexpeditionen in internationalen Gewässern im Nordpolarmeer positionieren sich zahlreiche Staaten strategisch in der Arktis.

Gegen eine Nationalisierung eines Großteils der bislang internationalen arktischen Gewässer stemmen sich die USA und die EU, aber auch China.

Die Arktis gilt als größtes, überwiegend unerforschtes Rohstofffördergebiet der Erde. Riesige energetische Rohstoffe wie Öl und Gas, davon 85 Prozent in Schelfgebieten, sowie große Mengen an Bodenschätzen (etwa Gold, Diamanten, Zink, Kupfer und Platin sowie Seltene Erden) werden dort vermutet. Nachgewiesen wurden mineralische Rohstoffe in der Arktis bislang nur an Land. Zwar gilt es als wahrscheinlich, dass sich mineralische Rohstoffe im Meeresboden des Arktischen Ozeans befinden, so beispielsweise in Kontinentfragmenten wie dem Lomonossow-Rücken, doch ist der Abbau langfristig unwirtschaftlich und technologisch schwierig. Angefacht durch zahlreiche Studien über Rohstoffpotenziale aus den 2000er-Jahren, darunter die der US Geological Survey (USGS), entstand geradezu ein Hype um arktische Rohstoffe. Durch die weltweit hohe Nachfrage nach Rohstoffen hat das internationale Interesse an deren Erkundung und Abbau stark zugenommen. Die Arktisländer beobachten diese Entwicklungen in ihrem nördlichen Hinterhof mit großer Skepsis. Insbesondere Russland befürchtet einen Wettlauf um Rohstoffe außerhalb seiner AWZ. Deswegen erhebt Moskau über die FSGK Territorialansprüche, die über seine jetzige AWZ hinausgehen. Die Arktis bildet für Russland einen „integralen, geostrategisch und wirtschaftlich wichtigen Bestandteil“ des Landes.

Russland beansprucht wie erwähnt den 1.800 Kilometer langen Lomonossow-Rücken und bekräftigt dies nachdrücklich in seiner Arktisstrategie von 2020. Bereits 2007 hatte Russland dort durch die Setzung einer russischen Flagge aus Titan seine territorialen Ansprüche symbolisch erhoben. Diese Ansprüche überlappen sich jedoch mit denen Dänemarks und Kanadas. Daraus kann ein Konflikt erwachsen, sollte die FSGK zuungunsten Russlands entscheiden. Wenn auch die Entscheidung erst in einigen Jahren erwartet wird, so zeichnet sich bereits heute ab, dass sich Russland völkerrechtlichen Entscheidungen zunehmend entzieht. Sollte die Entscheidung der FSGK zugunsten Russlands ausfallen, bleibt abzuwarten, wie andere Länder mit Interessen in der Arktis sich gegenüber Russland positionieren.

Die Nationalisierung eines Großteils der bislang internationalen arktischen Gewässer unter russischer Kontrolle würde nicht nur zu einem unkontrollierbaren und wenig nachhaltigen Abbau von Rohstoffen und Bodenschätzen führen, sondern auch die freie Schifffahrt in der Nordostpassage stark behindern. Dagegen stemmen sich vor allem die USA und die EU, die darin erhebliches Konflikt- und Erpressungspotenzial durch Russland erkennen. Auch mit dem selbsternannten „Arktisnahanrainer“ China, der seine Machtposition im hohen Norden mit dem Ziel ausbaut, die Governance-Regelungen für die Arktis mitzubestimmen, gäbe es für Russland einen Interessenkonflikt, denn das Nordpolarmeer ist auch für Peking als Schiffsroute von strategischer Bedeutung. So soll Chinas wirtschaftsstrategisches Projekt einer Polaren Seidenstraße die „Transportwege diversifizieren und die eigene Versorgungssicherheit erhöhen“. Dabei ist auch mit wachsenden chinesischen Marineaktivitäten im Nordpolarmeer zu rechnen, vor allem im Konfliktfall, um wichtige Versorgungsrouten militärisch abzusichern.

Spannungspotenzial bietet auch der rechtliche Status der Nordwestpassage durch Nordkanada, die bislang international nicht als kanadisch anerkannt wurde. Für Kanada sind die Wasserwege der Nordwestpassage nationales Hoheitsgebiet, was USA und EU grundsätzlich ablehnen. So betrachtet Kanada die Inselwelt im hohen Norden als eine Zone, die es souverän verwalten und kontrollieren kann. Die USA und ebenso die EU bestehen darauf, dass es sich hier um internationale Gewässer handelt, die Atlantik und Nordpolarmeer verbinden und damit Schiffen zur Transitfahrt offenstehen. So verweisen auch die Leitlinien deutscher Arktispolitik auf die Wahrung geltender Schifffahrts- und Durchfahrtsrechte. Es gelte, den „bestehenden geopolitischen Spannungen in der Region zu begegnen und (Interessens-)Konflikten und potentiellen Krisen in der Arktis vorzubeugen“.

Besondere Aufmerksamkeit richtete Präsident Putin auf die Modernisierung der russischen Nordflotte.

Die verstärkt schiffbar werdenden Routen könnten damit zum Gegenstand von Interessenkonflikten werden. Der damalige US-Außenminister Mike Pompeo hob im Mai 2019 im Arktischen Rat die Bedeutung der neuen Schiffsrouten als „Suez- oder Panamakanal des 21. Jahrhunderts“ hervor, stieß aber gleichzeitig Warnungen an Peking aus, dass dessen Bemühungen, Infrastruktur in der Region aufzubauen und mit Russland beim Ausbau der Seerouten zusammenzuarbeiten, das Risiko bergen, die Arktis in ein weiteres Gebiet konkurrierender territorialer Ansprüche zu verwandeln, ähnlich wie im Südchinesischen Meer.

 

Sicherheit in der Arktis

Der Arktische Rat und die sicherheitspolitischen Foren sollten dazu beitragen, die Arktis konfliktfrei zu halten. Nach der Annexion der Krim 2014 wurde Russland vom sicherheitspolitischen Dialog suspendiert. Die Spannungen hatten indes schon Anfang der 2000er-Jahre mit russischen Militärmodernisierungsprogrammen in der Arktis zugenommen, doch wollten der Westen und die NATO dem damals noch jungen Arktischen Rat die Chance geben, sich positiv auf Russlands Arktispolitik auszuwirken.

Da die russische Außenpolitik auch in der Arktis von einem „reflexartigen Primat der Sicherheitspolitik gekennzeichnet ist“, sah sich Moskau aufgrund der Folgen des Klimawandels für seine nationale Sicherheit sowie der Verschlechterung seines Verhältnisses zum Westen seit 2014 veranlasst, seine Interessen in der Arktis militärisch abzusichern.

So wurden an der russischen Nordküste zahlreiche Militärstützpunkte aus der Zeit des Kalten Krieges reaktiviert, ausgebaut und mit modernster, auch nuklearfähiger Waffentechnologie ausgestattet, darunter S-400-Mittelstreckenraketen, die NATO-Gebiet erreichen können. Besondere Aufmerksamkeit richtete Präsident Wladimir Putin auf die Modernisierung seiner aus strategischen Atom-U-Booten bestehenden Nordflotte auf der Kola-Halbinsel bei Murmansk, die sich mit dem schwindenden Meereis zu einer Bedrohung für die NATO entwickeln könnte. Die Nordflotte hätte damit erleichterten Zugang zum Nordatlantik, vor allem im Bereich des marine-strategischen Engpasses zwischen Grönland, Island und dem Nordende des Vereinigten Königreichs. Im Krisenfall könnte Russland in dieser sogenannten GIUK-Lücke nicht nur den Seeverkehr zwischen Europa und Nordamerika behindern, sondern die auf dem Grund des Atlantiks liegende kritische Infrastruktur (insbesondere Kommunikationsleitungen) empfindlich oder gar nachhaltig stören.

Auf die fortschreitende Militarisierung der Arktis durch Russland reagierten der Westen und vor allem die USA und die NATO im Vergleich zu den früheren Jahren entschlossener. Europäische Arktisstaaten wie Schweden und Finnland, die zunehmend über russische Militäraktivitäten in der Arktis klagen, nahmen nun den russischen Einmarsch in die Ukraine zum Anlass, eine sicherheitspolitische Wende einzuläuten. So werden, nach dem voraussichtlichen NATO-Beitritt Schwedens, nunmehr sieben von acht Arktisstaaten NATO-Mitglieder sein, was zu einer Einschränkung der Bewegungsfreiheit russischer Marineverbände im arktischen Raum führen könnte. Seit Frühjahr 2021 beherbergt Norwegen eine US-Bomberstaffel des Typs B-1 auf seinem Stützpunkt Ørland. Die USA beschleunigen auch militärisch ihr Arktisprogramm, welches zum Aufbau militärischer Defensivkapazitäten im US-amerikanischen arktischen Raum führen soll. Die US-Teilstreitkräfte und die Küstenwache haben jeweils eigene Arktisstrategien entwickelt. Auch die NATO positioniert sich nachdrücklicher als „Gegenpol zu Russland und auch zu China“. In ihrem wenige Monate nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine veröffentlichten Strategischen Konzept bezeichnet die Allianz die Fähigkeit Russlands, die „Verstärkung von Verbündeten und die Freiheit der Schifffahrt im Nordatlantik zu stören“, als „strategische Herausforderung für das Bündnis“. Im gleichen Maße warnt die NATO vor China, das politische, wirtschaftliche und militärische Instrumente einsetzt, um seine Machtprojektion zu vergrößern, und danach strebt, die regelbasierte internationale Ordnung zu untergraben. Ähnlich sieht das die EU in ihrer 2021 veröffentlichten Arktisstrategie, die die Arktis in einen geostrategischen Kontext setzt, in dem China, Russland und die USA um Einfluss in der Region ringen. Ihr umfassendes Engagement bei arktischen Angelegenheiten betrachtet die EU daher als eine geopolitische Notwendigkeit.

Lange vor der russischen Invasion der Ukraine hat die „Geopolitisierung“ der Arktis den Arktischen Rat erreicht. So bezeichnete der damalige US-Außenminister Pompeo auf dem Ministertreffen des Arktischen Rates im finnischen Rovaniemi im Mai 2019 die Arktis als „Arena globaler Macht und Konkurrenz“. Damit beginne, so Pompeo, ein „neues Zeitalter des strategischen Engagements […] mit neuen Bedrohungen für die Interessen und Territorien der Arktis“. Auf diese Weise hatte die Trump-Administration der Arktis eine geopolitische Bedeutung zugeschrieben, die konstruktive Verhandlungen erschweren sollte. Die Biden-Administration setzt zwar nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine noch immer auf den Arktischen Rat, doch blockieren die Interessenkonflikte weiterhin eine Zusammenarbeit mit Russland.

 

Abb. 4: Greenland-Iceland-United Kingdom-Lücke (GIUK-Lücke) und Seekabel im Nordatlantik

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Quelle: eigene Darstellung nach Hermann, Rudolf 2018: Die Nato will den „Flugzeugträger Island“ wieder mehr nutzen, Neue Zürcher Zeitung, 13.02.2018, in: https://nzz.ch/ld.1356585 [27.02.2023]; TeleGeography 2023: Submarine Cable Map, in: https://submarinecablemap.com [27.02.2023].

 

Ausblick

Die Situation in der Arktis ist angespannter als noch vor einigen Jahren – und das Spannungspotenzial könnte weiter zunehmen. Solange der Krieg in der Ukraine anhält, ist keine Besserung zu erwarten. Seit März 2022 ruht die politische Arbeit im Arktischen Rat, wo Russland derzeit den Vorsitz hat. Im Mai 2023 soll Norwegen den Vorsitz übernehmen.

Chinas Absichten, eine aktive und bestimmende Rolle in der Arktis zu übernehmen, tragen gleichsam nicht dazu bei, die Spannungen zu mindern. Der späte Einstieg der USA – lange ein unwilliger Arktisstaat – als sicherheits- und ordnungspolitischer Akteur im hohen Norden soll nun im Rahmen der neuen, auf zehn Jahre angelegten Arktisstrategie Washingtons dazu beitragen, effektiv konkurrieren und Spannungen bewältigen („effectively compete and manage tensions“) zu können. Dabei umfasst die neue Strategie vier Säulen: Sicherheit, Klimawandel und Umweltschutz, nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung sowie internationale Zusammenarbeit und Governance. Im sicherheitspolitischen Bereich setzt Washington auf militärische Abschreckung, Präsenz in der Arktis und gemeinsame Sicherheitsansätze mit Verbündeten und Partnern zur Minderung des Risikos einer unbeabsichtigten Eskalation. Die neue Großmachtpolitik Russlands und Chinas birgt langfristig Konfliktpotenzial, auch untereinander.

Angesichts der derzeitigen Herausforderungen für die Zusammenarbeit in der Arktis haben sich die USA dafür ausgesprochen, arktische Institutionen, einschließlich des Arktischen Rates, weiter zu unterstützen und diese so zu positionieren, dass sie die Auswirkungen der zunehmenden Aktivitäten in der Region bewältigen können. Dabei stellt die US-Arktisstrategie vor allem die Einhaltung internationaler Regeln, Normen und Standards in den Mittelpunkt.

Washington ist sich bewusst, dass ein langfristiger Ausschluss Russlands aus dem Arktischen Rat auch strategische Nachteile für die USA bringen könnte. Zum einen sind die zivile und auch die militärische Infrastruktur in Alaska schwach ausgeprägt. Dies ist nicht zuletzt auch dem Fehlen von Eisbrechern geschuldet, die dringend zum Ausbau der Infrastruktur, zur Sicherung der Küsten und zur Erforschung von Rohstoffpotenzialen auf dem Meeresgrund und der Klimaentwicklung erforderlich sind. So verfügen die USA (wie China) lediglich über zwei Eisbrecher, Russland dagegen über rund 50. Selbst Indien hat sechs kleinere Eisbrecher im Einsatz. Zum anderen ist es den USA wichtig, Russland in das Regelwerk des Arktischen Rates erneut einzubinden. Damit soll verhindert werden, dass Russland eigenmächtig eine konkurrierende Arktisorganisation gründet, in der Nicht-Arktisländer wie China und Indien als Vollmitglieder vertreten sind. Seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine hat sich die Arktiszusammenarbeit zwischen Russland, China und Indien verstärkt. Fest steht, dass viele Staaten derzeit aktiv daran arbeiten, aus dem Zusammenbruch der arktischen Zusammenarbeit zwischen Russland und dem Westen Kapital zu schlagen. Einerseits geht es, wie im Falle Chinas, darum, sich Zugangsrechte in der Nördlichen Seeroute dauerhaft zu sichern und damit auch langfristig Einfluss in der arktischen Region auszuüben. Andererseits ist es im Interesse vor allem der Schwellenländer, sich mit Russland über den Zugang zu Rohstoffen in der Arktis zu verständigen, zumal diese Länder weiterhin auf fossile Energieträger fokussiert sind. Im Gegenzug verspricht sich Moskau angesichts der westlichen Sanktionen wichtige Investitionen und vor allem technologische Zusammenarbeit.

Die sieben westlichen Arktisanrainer, die „Arctic 7“, sind sich einig, dass die Arktiszusammenarbeit ohne Russland als größtes Arktisland wenig sinnvoll ist, zumal Wetterdienste, Operationen der Küstenwache sowie Such- und Rettungsdienste in unterschiedlichem Maße von der Zusammenarbeit mit Russland abhängig sind. Das Gleiche gilt auch für global bedeutende polare Klimaforschungsprogramme und die Meereisüberwachung. Im Juni 2022 wurden einige Forschungsprojekte im Rahmen des Arktischen Rates wieder aufgenommen, die ohne Beteiligung Russlands fortgesetzt werden können. Derzeit können die „Arctic 7“-Staaten mit Russland über Arktisthemen nur in den für die Arktis zuständigen internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen sprechen. Die westlichen Arktisstaaten werden es bewusst vermeiden, Moskau zu provozieren, indem sie eine neue Institution unter Ausschluss Russlands gründen oder den Arktischen Rat für sich vereinnahmen und Russland permanent ausschließen.

Der Arktische Rat erlebt derzeit seine wohl schwerste Krise. Die Rückkehr zu einer konstruktiven arktischen Zusammenarbeit ist angesichts der klimatischen Herausforderungen für die Menschheit dringend erforderlich, gegenwärtig jedoch nahezu ausgeschlossen. Der Ausgang des Krieges in der Ukraine spielt dabei eine wichtige Rolle. Sollte Russland den Krieg gewinnen, wäre die regelbasierte internationale Ordnung nachhaltig gestört und eine Zusammenarbeit mit den westlichen Arktisstaaten dauerhaft unmöglich. Eine Niederlage Russlands mit der Wiederherstellung der vollen Souveränität der Ukraine würde die Zusammenarbeit im Arktischen Rat ermöglichen, allerdings unter der Voraussetzung, dass Moskau sich verpflichtet, die regelbasierte internationale Ordnung zu achten. Dazu wäre nicht zuletzt ein Regimewechsel in Moskau erforderlich, was derzeit nicht abzusehen ist.

Letztlich ist sich auch Moskau bewusst, dass eine multilaterale Zusammenarbeit in der Arktis auch für Russland notwendig ist. Die russische Führung hat jedoch die Reaktion des Westens nach der völkerrechtswidrigen Invasion der Ukraine vollkommen unterschätzt und angenommen, dass die westlichen Arktisstaaten wie seinerzeit nach der Krim-Annexion die Verhandlungen im Arktischen Rat weiterführen würden. Es ist damit zu rechnen, dass Russland seine Arktisstrategie auch ohne den Arktischen Rat umzusetzen versucht und dabei auf Unterstützung vor allem aus China setzt.

 


 

Michael Däumer ist Berater für die Arktisregion betreffende Fragen. Von 2014 bis 2018 war er der deutsche Vertreter im Arktischen Rat. Für die Konrad-Adenauer-Stiftung leitete er zuvor die Auslandsbüros in Madrid und Amman.

 


 

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