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Gulshan Khan, Reuters.

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Zwischen den Stühlen

Demokratische Schwellenländer im sich verschärfenden Systemkonflikt

Während der Krieg in der Ukraine in westlichen Staaten häufig als Teil einer globalen Auseinandersetzung zwischen Demokratien ­und Autokratien gesehen wird, ist man in Brasilia, ­Neu-Delhi und Pretoria deutlich zurückhaltender, sich diese Lesart zu eigen zu machen, geschweige denn, sich deutlich auf eine Seite zu schlagen. Warum aber weigern sich viele – auch demokratische – Schwellenländer, hier eindeutig Farbe zu bekennen, und was kann der sogenannte Westen tun, um Schlüsselakteure aus anderen Regionen im System­wett­bewerb auf seine Seite zu ziehen? Ein Blick nach Brasilien, Indien und Südafrika.

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Der Jubel war groß, als am 2. März 2022 das Ergebnis der als historisch bezeichneten Abstimmung der UN-Vollversammlung in New York über Russlands Einmarsch in die Ukraine verkündet wurde. „Weltgemeinschaft verurteilt die Invasion Russlands mit überwältigender Mehrheit“ – so und ähnlich klangen die Einschätzungen zu Resolution A/ES-11/L.1, die von 141 Staaten befürwortet und von nur fünf – Russland, Belarus, Eritrea, Nordkorea und Syrien – abgelehnt wurde. 35 Staaten enthielten sich ihrer Stimme. Von einer Allianz des Westens und der Welt gegen Putin war anschließend sogar die Rede.

Etwas mehr als neun Monate später ist von dieser Euphorie nicht mehr viel übrig. Im sogenannten Westen, wo der Krieg vor allem als Konflikt zwischen Freiheit und Demokratie auf der einen und Unfreiheit und Autokratie auf der anderen Seite wahrgenommen wird, ist die Unterstützung für den Kampf der Ukraine nach wie vor groß, die Verurteilung des russischen Angriffskrieges weitgehend Konsens. Im Rest der Welt ist das Bild dagegen deutlich ambivalenter. Von einhelliger Unterstützung der Ukraine und einer Isolation Russlands kann hier keine Rede sein. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass eine deutliche Mehrheit der UN-Vollversammlung am 12. Oktober 2022 Russlands völkerrechtswidrige Annexionen in der Ukraine verurteilte. In den vergangenen Monaten wurde zunehmend deutlich, dass es ganz offensichtlich nicht im Interesse vieler Schwellenländer liegt, sich allzu deutlich gegen Russland zu positionieren.

Es lohnt sich deshalb an dieser Stelle, noch einmal zum Abstimmungsergebnis von Anfang März zurückzukehren, das bei genauerem Hinsehen durchaus schon ein paar Anhaltspunkte für ein insgesamt wesentlich ambivalenteres Bild liefert. Betrachtet man beispielsweise den afrikanischen Kontinent, wird deutlich, dass dort nur etwa die Hälfte der Mitgliedstaaten – 29 von 55 – für die Resolution gestimmt hat (17 Enthaltungen und acht Abwesenheiten). Darüber hinaus sollte nicht übersehen werden, dass jene 35 Länder, die sich bei der Abstimmung enthalten haben, zusammen mehr als 50 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen. Berücksichtigt man schließlich noch, dass das am Ende positive Abstimmungsergebnis nur unter großem diplomatischen Druck zustande kommen konnte, überrascht es nicht, dass die nur gut einen Monat später, am 7. April, abgehaltene Abstimmung in der UN-Vollversammlung über die Suspendierung von Russlands Mitgliedschaft im UN-Menschenrechtsrat bereits weit weniger eindeutig ausfiel: 93 Ja- bei 24 Nein-Stimmen und 58 Enthaltungen.

Es sind allerdings nicht allein solche Zahlen, die in den vergangenen Monaten zu Ernüchterung im westlichen Lager beigetragen haben. Große Illusionen über die Kräfteverhältnisse in der UN-Vollversammlung oder die globale Verbreitung von Demokratie und Freiheit dürften sich hier nur die Wenigsten gemacht haben. Zur Ernüchterung beigetragen hat deshalb vor allem, dass zu jenen Staaten, die eine klare Positionierung im Hinblick auf den Krieg Russlands gegen die Ukraine haben vermissen lassen, auch solche gehören, die der Westen gerne als ähnlich gesinnte, demokratische Partner betrachtet, allen voran die einflussreichen Schwellenländer Brasilien, Indien und Südafrika. Die Bedeutung dieser drei Länder ist mit Blick auf ihre Positionierung zum Westen insofern besonders relevant, als es sich bei allen dreien um politische, wirtschaftliche und militärische Zentralmächte der drei entsprechenden Weltregionen handelt, ihnen also als „Regionalmächten“ eine herausgehobene Stellung zukommt.

Die Definition als Demokratien ist für viele Schwellenländer selbst weit weniger wichtig als für den westlichen Blick auf diese Länder.

Die Frage, ob es sich bei diesen Ländern noch oder nicht mehr um sogenannte demokratische Schwellenländer, im engeren oder zumindest noch weiteren Sinne, handelt, ist eher akademischer Natur und soll an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden. Sie ist für die Zwecke dieses Beitrags auch insofern von nachgeordneter Bedeutung, als es hier eher darum geht aufzuzeigen, dass solche Definitionen für die betroffenen Länder selbst eine weit weniger wichtige Rolle spielen als für den westlichen Blick auf diese Länder.

Die Perspektiven der Länder selbst, im konkreten Fall die Perspektiven Brasiliens, Indiens und Südafrikas, auf den Krieg Russlands gegen die Ukraine in den Mittelpunkt zu rücken und nach Beweggründen für deren Positionierung beziehungsweise Nicht-Positionierung zu fragen, ist deshalb auch das Hauptanliegen dieses Artikels. Er soll auf diese Weise dazu beitragen, Perspektivunterschiede aufzuzeigen, die vor allem zwischen dem Westen und dem Globalen Süden bestehen. Denn: Diese Perspektivunterschiede zu eruieren und dann die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen, ist gerade vor dem Hintergrund des sich verschärfenden Systemkonflikts mit Russland und China für den Westen von herausragender Bedeutung.

 

Brasilien: Westbindung tchau tchau?

Brasilien, das im Oktober einen neuen Präsidenten gewählt hat, tat sich von Anfang an schwer, eine klare Haltung zum Krieg in der Ukraine zu finden. Präsident Jair Bolsonaro hatte Wladimir Putin noch kurz vor Kriegsausbruch einen Besuch abgestattet und ihm dabei seine Solidarität ausgedrückt. In den Tagen nach dem 24. Februar hielt er sich mit Äußerungen zu Russlands Angriff auf die Ukraine zunächst zurück, um dann Anfang März, während der UN-Vollversammlung, zu konstatieren, dass Brasilien Frieden wolle, er jedoch negative Auswirkungen auf die brasilianische Wirtschaft durch Sanktionen befürchte. Bei der ersten UN-Resolution Anfang März stimmte Brasilien nach langem Zögern dafür, die russische Invasion zu verurteilen, enthielt sich aber, als es Anfang April um den Ausschluss Russlands aus dem UN-Menschenrechtsrat ging. Auch bei einer gemeinsamen Stellungnahme der Organisation Amerikanischer Staaten im Februar 2022, die den Krieg verurteilte, enthielt sich Brasilien und war darüber hinaus bei einem Mercosur-Treffen in Uruguay im Juli neben Argentinien eines der Länder, die sich gegen einen virtuellen Auftritt des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj aussprachen, nur um dann bei der UN-Resolution im Oktober wieder gegen Russland zu stimmen.

Blickt man in die Vergangenheit und berücksichtigt außenpolitische Traditionen des Landes und der Region insgesamt, kann die bisherige Haltung Brasiliens zu globalen Ordnungsfragen und rund um den Krieg in der Ukraine nicht allzu sehr überraschen. In den vergangenen Jahrzehnten hatten es Länder wie Brasilien wegen einer vergleichsweise friedlichen regionalen Sicherheitsarchitektur nicht unbedingt nötig, globale Ordnungsfragen in den politischen Fokus zu stellen oder hard power nach außen zu projizieren. Brasilianische Diplomaten waren bekannt dafür, sich unter Zuhilfenahme multilateraler Institutionen zwischen unterschiedlichen Partnern aufzustellen und dies hauptsächlich mit dem Ziel, die eigene Souveränität und die relativ sichere geostrategische Position des Landes regional sowie global abzusichern.

Die gesamte Region hat eine lange Tradition der Nicht-Intervention in internationalen Angelegenheiten. Man legt besonders großen Wert auf das Selbstbestimmungsrecht und die Gleichheit der Staaten und hegt eine große Abneigung gegenüber externer politischer oder militärischer Einmischung in interne Angelegenheiten. Der Ursprung dieser Art, auf die Welt zu blicken, liegt vor allem in der Kolonial- und Interventionserfahrung vieler lateinamerikanischer Länder mit Staaten Europas und den USA. Das könnte erklären, warum Brasilien auf der UN-Ebene insbesondere bei Resolutionen wie der zur Annexion ukrainischer Gebiete gegen Russland gestimmt hat, während seine Haltung gegenüber Russland ansonsten deutlich ambivalenter ist.

Für „Lula“ da Silva ist die Ukraine genauso verantwortlich für den Krieg wie Putin.

Neben historischen Faktoren spielen nämlich auch andere Erwägungen eine Rolle. In Zeiten von globalen Lieferengpässen, Rezession und Nahrungsmittelknappheit sind diese Erwägungen insbesondere wirtschaftlicher Natur. Ein großer Teil des lateinamerikanischen Wirtschaftswachstums der vergangenen zehn Jahre basiert auf dem Handel mit Asien, allen voran China, welches mittlerweile zum größten Handelspartner der Region aufgestiegen ist. Aber auch Russland spielt hier eine nicht zu unterschätzende Rolle. Immerhin bezieht Brasilien fast ein Viertel seiner Düngemittellieferungen für den lebenswichtigen Agrarsektor aus Russland – eine Lieferquelle, für die es laut brasilianischen Kongressabgeordneten derzeitig keine Alternativen gibt. Ohnehin leidet die brasilianische Bevölkerung bereits jetzt unter einem immensen Anstieg der Preise für Grundnahrungsmittel und Energie sowie der insgesamt sehr hohen Inflation.

Trotz solcher struktureller Rahmenbedingungen ist allerdings offensichtlich, dass der Faktor Bolsonaro eine nicht unbedeutende Rolle in der bisherigen Positionierung Brasiliens gespielt hat. Vor allem von politischen Gegnern wird gemutmaßt, dass der noch bis zum Jahreswechsel amtierende Präsident in einem Autokraten wie Putin ein Vorbild sieht. Und nicht nur im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine wird deutlich, dass Bolsonaro die traditionell klare Westorientierung Brasiliens verlassen hat. Das seit dem Amtsantritt von Joe Biden eisige Verhältnis zu den USA ist mit dem Amerika-Gipfel im Juni 2022 zwar etwas aufgetaut. In der Außenpolitik der Bolsonaro-Administration ist jedoch insgesamt eine verstärkte Abkehr vom regionalen und internationalen Engagement zu verzeichnen gewesen. So zeigte Brasilien unter Bolsonaro beispielsweise große Skepsis in Bezug auf das regionale Mercosur-Bündnis, sagte die Ausrichtung des Weltklimagipfels 2019 ab und zog sich aus dem UN-Migrationspakt zurück.

Die große Frage ist, wie es mit der außenpolitischen Haltung des Landes nach den Wahlen vom Oktober und dem Sieg des ehemaligen und nun auch zukünftigen Präsidenten Luiz Inácio „Lula“ da Silva weitergehen wird. In Sachen Russland-Ukraine-Krieg jedenfalls ist kein Kurs-wechsel zu erwarten. Da Silva sieht Präsident Selenskyj „genauso verantwortlich für den Krieg wie Putin“, bezichtigt auch die USA und die EU, wegen der vorangetriebenen NATO-Osterweiterung eine Mitschuld zu tragen, und will nicht in einen neuen Kalten Krieg hineingezogen werden. Auch dürfte von Lula eine weitere Annäherung Brasiliens an China zu erwarten sein, wie es sie schon während seiner vorherigen Präsidentschaft gegeben hat. Brasilien ist zwar kein Mitglied der Belt and Road Initiative, empfängt jedoch chinesische Investitionen in beträchtlichem Umfang. Seit einigen Jahren hat China sogar die EU als wichtigsten Handelspartner Brasiliens abgelöst und ist mittlerweile der größte Abnehmer für landwirtschaftliche Produkte wie Soja, Schweine- oder Hühnerfleisch.

Insgesamt ist in den kommenden Jahren zu erwarten, dass viele Länder der Region Lateinamerika versuchen werden, sich eher pragmatisch und unparteiisch zur Ukraine und mit Blick auf die globale Ordnung aufzustellen. Ein Hauptgrund dafür wird vor allem die Priorisierung der Bewältigung sozialwirtschaftlicher Probleme zu Hause sein und die Tatsache, dass es sich derzeit innenpolitisch für Regierungen nicht auszahlt, sich stark mit dem oder gegen den Westen zu positionieren. Venezuela, Kuba und Nicaragua bilden dabei aus ideologischen Gründen eine Ausnahme und haben öffentlich Solidarität mit Putin demonstriert. Generell steht die Reaktion vieler Länder aber dennoch im Kontrast zu der in Zeiten des Kalten Krieges, in denen viele Akteure der Region zumeist eindeutige Allianzen mit den USA oder der ehemaligen Sowjetunion geschlossen haben, natürlich auch aufgrund militärischen, ideologischen und wirtschaftlichen Drucks, den beide Länder so in der Region nicht mehr ausüben können.

Brasilien ist heute ein Vorzeigebeispiel dafür, dass Länder der Region lieber gute Beziehungen und Handel sowohl mit China und Russland als auch der EU und den USA betreiben wollen. Und es ist auch ein Beispiel dafür, dass sich Länder nicht eindeutig auf die Farbpaletten der globalen Ordnung einsortieren lassen wollen, sofern sie dies nicht müssen. Der ehemals unter Präsident Lula amtierende Außenminister Celso Amorin betonte erst neulich, dass Multipolarität sowohl Tendenz als auch politisches Ziel Brasiliens sei und das Land nicht zwischen die Fronten von China und den USA gerückt werden wolle. Trotzdem könne Brasilien unter Lula wohl in Zukunft wieder eine stärkere Rolle in der lateinamerikanischen Integration und Ordnung einnehmen. Von der Erwartung einer eindeutigen Westbindung Brasiliens sollte sich Europa aber zukünftig wohl eher verabschieden.

 

Indien: Selbstbewusst und bündnisscheu

„Europa muss sich von der Denkweise befreien, dass die Probleme Europas die Probleme der Welt seien, aber die Probleme der Welt nicht die Probleme Europas“ – mit diesen Worten, die anschließend in den sozialen Medien viral gingen, antwortete der indische Außenminister Subrahmanyam Jaishankar im Rahmen der GLOBSEC-Konferenz im Juni 2022 in Bratislava auf eine Frage zu Indiens Haltung im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine, nur um anschließend deutlich zu machen, dass Indien nicht die leiseste Absicht hege, sich in naher Zukunft irgendeinem geopolitischen Machtblock zuzuordnen. Der Minister erläuterte in dem Gespräch die Interessenlage Indiens und lehnte die Idee strikt ab, dass Indien – immerhin nahezu ein Fünftel der Weltbevölkerung – die Weltsicht einer bipolaren Ordnung teilen, geschweige denn, sich einem der beiden Lager, dem politischen Westen oder Russland und China, anschließen müsse.

Der Großteil von Indiens Waffenarsenal stammt aus russischer Produktion.

Das außenpolitisch selbstbewusste und immer schon bündnisscheue Indien unterhält seit Sowjetzeiten enge Beziehungen zu Russland. Zu Zeiten des Kalten Krieges behinderte die UdSSR im Sinne Indiens zahlreiche Resolutionen des UN-Sicherheitsrats zum Kaschmir-Konflikt und galt schon damals als Gegengewicht zu Indiens Erzfeinden im Norden: China und Pakistan. Auch im Krieg 1971 gegen Pakistan konnte Indien auf sowjetische Unterstützung zählen. Im Gegenzug verurteilte Indien den Einmarsch der sowjetischen Truppen in die Tschechoslowakei 1968 nicht und unterstützte die sowjetische Invasion in Afghanistan 1980.

Bis heute sind Indien und Russland wirtschaftlich eng verbunden: Der Großteil von Indiens Verteidigungs- und Waffenarsenal stammt aus russischer Produktion. Die jüngsten Anschaffungen aus Russland sind die Fregatte Trikand aus 2014 sowie das Raketenabwehrsystem S-400. Allerdings ist die russische Waffenindustrie besonders im Technologiebereich, wie etwa bei Chips für das erwähnte S-400 Abwehrsystem, teilweise von westlichen Unternehmen abhängig. Dass Boeing, Airbus und andere Unternehmen aufgrund der westlichen Sanktionen nicht mehr an Russland liefern, könnte über kurz oder lang also auch die indische Wehrfähigkeit negativ beeinflussen.

Als Folge der westlichen Sanktionen wurde auch der Internationale Nord-Süd-Transport-Korridor (INSTC) zwischen Russland, Iran und Indien wiederbelebt. Doch die Bezahlung der Importgeschäfte hat seit Einführung der Sanktionen gegen Russland ihre Tücken: Neu-Delhi kann diese zwar über Rubel-Rupien-Zahlungen oder Drittwährungen abwickeln und somit die Sanktionen im Zahlungsverkehr umgehen – dieses Vorgehen verursacht allerdings höhere Kosten, was bei einem Großteil der indischen Finanz- und Wirtschaftselite nicht gerade Begeisterung auslöst.

Grundsätzlich hat man in Indien wenig Verständnis für wirtschaftliche Nachteile, die dem Land durch die Sanktionen gegen Russland entstehen. Der größte Widerstand kommt allerdings von der älteren, teilweise noch in der Sowjetunion sozialisierten und ausgebildeten außenpolitischen Elite des Landes. Gerade unter den etwas jüngeren Wirtschaftstreibenden werden die wirtschaftlichen Abhängigkeiten von Russland viel klarer als Problem erkannt, und vereinzelt ist sogar Verständnis für die wirtschaftlichen Sanktionen des Westens zu erkennen.

Trotzdem darf es vor diesem Hintergrund nicht verwundern, dass sich Indien bei den drei Abstimmungen in den Vereinten Nationen zum Krieg in der Ukraine enthalten hat. Apropos Vereinte Nationen: Aufgrund seiner wirtschaftlichen Entwicklung, seiner Größe und seines internationalen Engagements – das Land ist seit Jahrzehnten einer der größten Truppensteller bei UN-Friedensmissionen – fordert Indien einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat und kritisiert, dass der Rat nicht mehr die aktuellen Kräftekonstellationen repräsentiere. Gemeinsam mit Brasilien, Japan und auch Deutschland setzt sich Indien im Rahmen der Gruppe der vier Staaten (G4) für eine Reform der Vereinten Nationen ein.

Die werte- und regelbasierte internationale Ordnung wird in Indien insgesamt als westliches Konstrukt gesehen und deshalb werden auch gerne alternative Weltordnungsmodelle ins Spiel gebracht. Ein Teil der außen- und wirtschaftspolitischen Eliten des Landes rechnet mit einer künftigen Zweiteilung der Welt in einen von China und einen von den USA dominierten Block. Andere wiederum propagieren das Szenario einer neuen asiatischen Ordnung, mitunter mit Indien als neuer Supermacht in einer tripolaren Weltordnung, was jedoch angesichts der derzeitigen volkswirtschaftlichen Stärke Indiens im Vergleich zu China und den USA noch als wenig wahrscheinlich einzustufen ist.

Ein weiterer Beweggrund für Indien, sich neutral zu verhalten, ist die Angst, dass man Russland in eine Allianz mit China treiben könnte. Indien ist heute von Ländern, die an der chinesischen Belt and Road Initiative teilnehmen, so gut wie umzingelt, lehnt eine Beteiligung selbst aber strikt ab. Trotz der alten Fehden kooperiert Indien mit China jedoch innerhalb der BRICS (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika), im trilateralen Format RIC (Russland, Indien, China) und in der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (Shanghai Cooperation Organisation, SCO). Dass der übermächtige Nachbar China neben Taiwan auch das unter indischem Schutz stehende Bhutan angreifen könnte, wäre ein Testfall für die indische Wehrfähigkeit, die – wie oben erwähnt – unter den westlichen Sanktionen gegen Russland leidet und wohl noch stärker leiden wird. Nicht zuletzt wegen des zunehmenden chinesischen Einflusses in Indiens Nachbarschaft hat sich Indien mit den USA, Japan und Australien zum Quadrilateralen Sicherheitsdialog (Quad) zusammengeschlossen, der ein Gegengewicht zu Chinas expansiven Ambitionen im Indopazifik bilden will.

Die Quad ist nur ein Format von vielen, innerhalb derer der politische Westen die Kooperation mit Indien sucht - die Türen der liberalen Demokratien weltweit stehen Indien, zumindest rhetorisch, weit offen: Im Berliner Koalitionsvertrag bekundet man ein „herausragendes Interesse an der Vertiefung unserer strategischen Partnerschaft mit Indien“. Australien unterzeichnete 2021 ein Freihandelsabkommen mit Indien; Großbritannien, Kanada und die EU streben eines an. Frankreich verkaufte Indien sieben Kampfjets des Typs Rafale (die sich im Vergleich zu 400 Fluggeräten aus Russland jedoch bescheiden ausnehmen). Japan bietet den Ausbau von Infrastruktur an und Washington will eine Abkehr Indiens von Moskau mit Waffen, Technologie und Visa danken. Ob sich diese „Willensbekundungen“ aus jüngster Zeit allerdings konkret materialisieren, wird unter anderem auch stark vom weiteren Durchsetzungsvermögen der liberalen Demokratien abhängen.

Südafrikas Außenministerin rief Russland zum Rückzug aus der Ukraine auf, wurde aber von ihrem Präsidenten zurückgepfiffen.

 

Südafrika: Alle Türen offen

Die ersten Reaktionen Südafrikas auf den Krieg in der Ukraine waren vor allem eines: erratisch. Gleich nach dem Einmarsch Russlands rief Außenministerin Naledi Pandor Moskau auf, seine Truppen aus der Ukraine abzuziehen, wurde aber von Präsident Cyril Ramaphosa wieder zurückgepfiffen, der später konstatierte, die NATO sei durch ihre Osterweiterung Schuld an der Eskalation. Diese Haltung wurde von der Regierungspartei ANC, die ihre Rhetorik gegenüber dem Westen zunehmend verschärfte, Anfang August bei ihrem kleinen Parteitag noch einmal bekräftigt. In der UN-Vollversammlung enthielt sich Südafrika Anfang März mit der Begründung, die Resolution würde die Konfliktparteien nicht zum Dialog aufrufen und nur noch mehr Spaltung verursachen. Auch bei der Abstimmung über Russlands Ausschluss aus dem UN-Menschenrechtsrat und der jüngsten Abstimmung zu Russlands völkerrechtswidrigen Annexionen in der Ukraine enthielt sich Südafrika und schloss sich den Sanktionen gegenüber Russland nicht an.

Im Fall von Südafrika sind zudem weit in die Vergangenheit zurückreichende Beziehungen zu Russland ein Grund für die Zurückhaltung in der Verurteilung des russischen Angriffskrieges: Die UdSSR unterstützte den Kampf der jungen südafrikanischen Nation gegen das Apartheidsregime über Jahre, was man Russland bis heute nicht vergessen hat. Immer wieder wird thematisiert, dass die aktuelle Regierungspartei – deren Verteidigungsministerin Thandi Modise im August für viel mediales Aufsehen sorgte, als sie an einer Sicherheitskonferenz in Moskau teilnahm – finanzielle Unterstützung von russischen Oligarchen erhält.

Davon abgesehen blickt die südafrikanische Außenpolitik stolz auf eine lange Tradition der Blockfreiheit zurück und will diese „strategic neutrality“ auch weiterhin beibehalten. Man will gleichzeitig Partner für den Westen sein und gute Beziehungen zu China aufrechterhalten, mit dem man durch die BRICS sowie die Belt and Road Initiative verbunden ist. Nicht außer Acht zu lassen ist auch der in Südafrika vor allem in der Anfangszeit der COVID-19-Pandemie entstandene Eindruck, der Westen habe Südafrika und andere Länder des Globalen Südens im Stich gelassen. Die Tatsache, dass die vom Westen geführte COVAX-Initiative zwei Drittel aller 2021 nach Afrika entsandten Impfstoffe geliefert hat, spielt dabei offenbar keine große Rolle. Der Eindruck, vom Westen schlecht behandelt zu werden, wurde zuletzt auch durch den Umgang mit afrikanischen Migranten an der ukrainischen Grenze zu Beginn des Krieges verstärkt.

Südafrika bekennt sich grundsätzlich zum Multilateralismus und fordert schon lange Reformen im multilateralen System, um dieses gerechter und zeitgemäßer zu gestalten, wie etwa einen permanenten Sitz für ein afrikanisches Land im UN-Sicherheitsrat. Eine multipolare Welt wird als wünschenswert gesehen und hierfür sieht man in den BRICS-Counterparts China und Russland bessere Partner als in der westlichen Hemisphäre.

Südafrika hegt große Skepsis gegenüber regime-change-Ambitionen des Westens.

Südafrikanische Vertreter werfen westlichen Ländern angesichts ihrer Verurteilung des russischen Krieges Heuchelei vor und verweisen in diesem Zusammenhang gerne auf westliche militärische Interventionen wie beispielsweise in Afghanistan, Irak und Libyen. Dass solche Vergleiche hinken und die völkerrechtlichen Rahmenbedingungen in den genannten Fällen teils deutlich andere waren, wird dabei gerne übergangen. In einem Statement vom 8. April 2022 erläuterte Naledi Pandor zumindest, dass Südafrikas neutrale Position im Hinblick auf den Krieg in der Ukraine nicht heiße, dass man Russlands Bruch des Völkerrechts gutheiße. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Südafrika generell große Skepsis gegenüber regime-change-Ambitionen des Westens hegt, dieser Aspekt mit Blick auf Russland und sein Ansinnen, die Regierung in Kiew zu Fall zu bringen, allerdings weniger zu stören scheint.

Angesichts des bereits über neun Monate andauernden Krieges stehen inzwischen aber vor allem dessen wirtschaftliche Folgen für Südafrika im Mittelpunkt: Fragen der Ernährungssicherheit oder die stark gestiegenen Preise von Düngemitteln oder Rohstoffen wie Stahl machen dabei nicht nur Südafrika, sondern dem ganzen afrikanischen Kontinent zu schaffen. UN-Schätzungen zufolge stammen etwa 44 Prozent des in Afrika konsumierten Weizens aus Russland und der Ukraine, die Weizenpreise sind durch die unterbrochene Versorgung bereits um rund 45 Prozent in die Höhe geschossen. Die Afrikanische Union (AU) warnte schon vor einer Nahrungsmittelkrise katastrophalen Ausmaßes. Zudem ist unklar, ob die EU-Mitgliedstaaten oder die G7-Länder noch in der Lage sein werden, ihre Zusagen in Richtung des Globalen Südens zu erfüllen, wenn sie selbst gezwungen sind, Ressourcen umzuverteilen, um den internen wirtschaftlichen und sozialen Druck zu bewältigen, während sie der Ukraine finanzielle und militärische Unterstützung gewähren, die nicht geplant war.

Auch in anderen Bereichen hat sich Russland (neben China) in den vergangenen Jahren auf dem afrikanischen Kontinent in Stellung gebracht: Das Land spielt eine wichtige Rolle als mittlerweile wichtigster Waffenlieferant (noch vor Frankreich, den USA und China), Käufer und lizenzierter Schürfer von wertvollen Rohstoffen, Exporteur von landwirtschaftlichen Geräten, aber auch als Akteur, der durch die Wagner-Gruppe private Sicherheitsdienste bereitstellt.

In den Monaten seit Kriegsausbruch hat sich das schon seit Längerem festzustellende Werben um Südafrika und andere einflussreiche Akteure auf dem Kontinent noch einmal intensiviert: Bundeskanzler Olaf Scholz war im Juni, nicht zuletzt in seiner Rolle als G7-Vorsitzender, nicht nur in Niger und im Senegal, sondern auch in Südafrika zu Gast, um das Thema Nahrungsmittelversorgung zu erörtern, aber auch, um die afrikanischen Staaten noch stärker als politische Bündnispartner zu gewinnen. Im Juli besuchte dann der russische Außenminister Sergej Lawrow Ägypten, den Kongo, Uganda und den Hauptsitz der AU in Addis Abeba.

 

Erklärungsversuche: Zwischen alter Verbundenheit und neuer Abhängigkeit

Wenn die vorangegangenen Ausführungen zu den Perspektiven Brasiliens, Indiens und Südafrikas auf den Angriff Russlands auf die Ukraine eines gezeigt haben, dann, dass sich diese in erheblichem Maße und in vielerlei Hinsicht von der im Westen vorherrschenden Sicht unterscheiden. Während der Konflikt in Berlin, Brüssel und Washington mehrheitlich als eine Art Stellvertreterkrieg im sich verschärfenden Systemkonflikt zwischen den Demokratien und Autokratien dieser Welt wahrgenommen wird, teilt man diese Weltsicht in den drei hier betrachteten Ländern häufig nicht, ganz zu schweigen von der Bereitschaft, sich einer der beiden vom Westen eingeteilten Staatengruppen anzuschließen.

Abhängigkeiten in Schlüsselsektoren erschweren Schwellenländern eine Abwendung von Russland.

Statt einer an abstrakten Idealen wie Freiheit und Demokratie orientierten Debatte dominiert in Brasilia, Neu-Delhi und Pretoria eine an den eigenen historischen Erfahrungen und spezifischen Interessen des jeweiligen Landes orientierte Sicht auf die Dinge. Dabei können Kolonialerfahrungen genauso eine Rolle spielen wie außenpolitische Traditionen oder wirtschaftliche und militärische Abhängigkeiten. Und auch wenn jedes der drei Länder wiederum seine ganz eigene Sicht auf den Krieg in der Ukraine und die internationale Ordnung hat, lassen sich doch ein paar verallgemeinernde Schlussfolgerungen ziehen, die zu erklären helfen, warum die drei Länder weit davon entfernt sind, sich mit dem Westen gegen Russland und China zu verbünden:

  • Historische Erfahrungen: Wie das Beispiel Südafrika gezeigt hat, ist die Unterstützung afrikanischer Befreiungsbewegungen durch die ehemalige Sowjetunion bis heute nicht vergessen. Besonders augenscheinlich wurde das bei der Abstimmung in der UN-Vollversammlung am 2. März, bei der sich alle Staaten des südlichen Afrikas, die heute noch von früheren Befreiungsbewegungen dominiert werden, ihrer Stimme enthielten. Und auch in Indien spielt es bis heute eine wichtige Rolle, dass die UdSSR im Kaschmir-Konflikt stets treu an der Seite Neu-Delhis stand. Obwohl die Beziehungen zwischen Brasilien und Russland zu Zeiten der Sowjetunion überwiegend neutral waren und sich auf kleinere Handelsabkommen beschränkten, entwickelten die beiden Länder seit den späten 1990er-Jahren eine sich stetig intensivierende strategische Partnerschaft. Diese historisch gewachsenen bilateralen Beziehungen zu gefährden, liegt augenscheinlich nicht im Interesse Brasiliens.
  • Außenpolitische Traditionen: Wenn Indien, Brasilien und Südafrika den Krieg in der Ukraine weder gemeinsam an der Seite des Westens verurteilen noch sich eindeutig auf die Seite Russlands schlagen, folgen sie damit einer langen außenpolitischen Tradition: Besonders während des Kalten Krieges vermieden es viele Entwicklungs- und Schwellenländer ganz bewusst, sich einer der beiden Großmächte anzuschließen – insbesondere um zu vermeiden, in deren Konflikte hineingezogen zu werden. Die ursprüngliche „Gruppe der blockfreien Staaten“ (non-aligned movement) formierte sich in den 1950er-Jahren aus den vielen neu gegründeten Staaten Afrikas, Asiens und den größtenteils bereits im 19. Jahrhundert unabhängig gewordenen Staaten Lateinamerikas. In den UN fand diese Bewegung in der Gruppe der 77 ihren Ausdruck. Auch heute spielen solche Bewegungen wieder eine Rolle, etwa in Lateinamerika, wo gemäß der Idee eines „No Alineamiento Activo“ eine neue Vision des internationalen Systems propagiert wird, gekennzeichnet durch neue Akteure, neue Allianzen und Rivalitäten sowie neue Herausforderungen.
  • Wirtschaftliche und militärische Abhängigkeiten: Ob Brasiliens Abhängigkeit von russischen Düngemitteln oder jene Indiens von russischen Waffen: Die Länderbeispiele zeigen deutlich, dass Abhängigkeiten in Schlüsselsektoren der Wirtschaft oder der Verteidigung eine Abwendung von Russland erschweren oder gar unmöglich machen. Einige Abhängigkeiten haben sich durch den Krieg sogar noch weiter verschärft. So sind vor allem afrikanische Länder in hohem Maße auf Getreide oder Speiseöl aus Russland und der Ukraine angewiesen. Durch die Verwüstung landwirtschaftlicher Fläche und die Blockade von Häfen in der Ukraine schnellten die Preise für diese Güter in astronomische Höhen, was für die betroffenen Länder dramatische Auswirkungen hat.
  • Nüchternes Kalkül: Viele Staaten im Globalen Süden – nicht nur die drei in diesem Text behandelten – können heute aus einem bunten Strauß an wirtschafts-, entwicklungs- und sicherheitspolitischen Kooperationsangeboten auswählen. Und sie tun dies auch. Angebote aus dem Westen – so sie denn überhaupt vorliegen – sind dabei häufig an Bedingungen geknüpft, etwa an Standards in Sachen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, und auch deshalb in der Wahrnehmung des Globalen Südens nicht immer „die besten“. Wenn Angebote aus dem Westen ganz ausbleiben oder lückenhaft sind – so wie zuletzt bei den Impfstofflieferungen zu Anfang der COVID-19-Pandemie –, wird dies von China und Russland nur zu gerne genutzt, um in diese Lücken zu stoßen. Länder wie Brasilien, Indien und Südafrika sind dabei immer weniger bereit, Entscheidungen an einer vermeintlichen weltanschaulichen Nähe auszurichten und stellen stattdessen ganz nüchterne Kosten-Nutzen-Kalkulationen an, die sich in erster Linie an den eigenen eher kurzfristigen Interessen orientieren. Dem Opportunismusvorwurf, der in diesem Zusammenhang gerne erhoben wird, begegnet man dabei im Globalen Süden immer häufiger mit dem Gegenvorwurf westlicher Doppelmoral: Der Westen beschwöre zwar gerne hehre Ideale, handle aber letztlich genauso opportunistisch.
  • Antiwestliche Narrative: Im Zusammenhang mit dem Vorwurf westlicher Doppelmoral wird im Globalen Süden besonders häufig auf die Militärinterventionen der USA und europäischer Partner ohne UN-Mandatierung verwiesen, etwa den Einmarsch der USA im Irak 2003. Aber auch das Nicht-Einschreiten oder das vermeintliche Desinteresse des Westens bei anderen Konflikten – etwa in Syrien – wird im Zusammenhang mit der Debatte um den Krieg in der Ukraine häufig bemängelt. Auch wenn solche Vergleiche hinken und die völkerrechtlichen Rahmenbedingungen deutlich anders gelagert sind, sollte man sich im Westen darüber im Klaren sein, dass die entsprechenden Narrative im Globalen Süden weit verbreitet sind. Die vielzitierten Doppelstandards werden dem Westen aber auch im Hinblick auf Demokratie-, Umweltschutz- oder Menschenrechtslektionen vorgeworfen, die Entwicklungs- und Schwellenländern gerne erteilt werden, aber rasch vergessen seien, wenn es um wirtschaftliche oder sicherheitspolitische Kooperationen mit Ländern wie Katar und Saudi-Arabien geht. Rufe aus dem Westen, Wladimir Putin gehöre vor den Internationalen Strafgerichtshof, klingen aus der Sicht von Schwellenländern eher hohl, solang selbst die USA dessen Statut noch nicht einmal ratifiziert haben. Derartige Inkonsistenzen tragen jedenfalls zum Narrativ bei – das vor allem auch von Russland aktiv verbreitet wird –, der politische Westen verteidige die liberale Weltordnung nur deshalb, weil dies den eigenen Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen diene.
Die Entwicklungszusammenarbeit geht noch viel zu oft an den tatsächlichen Bedürfnissen der Partnerländer vorbei.

 

Schlussbemerkungen: Was tun?

Einsicht ist bekanntlich der erste Schritt zur Besserung. Zu diesem Schritt haben die vorangegangenen Ausführungen einen Beitrag zu leisten versucht. Weitere Schritte setzen die Bereitschaft voraus, auch tatsächlich etwas zu ändern. Im Folgenden soll deshalb zum Abschluss zumindest kurz skizziert werden, wo sich ansetzen ließe, um demokratische Schwellenländer im sich verschärfenden Systemkonflikt mit Russland und China wieder stärker an den Westen zu binden:

  • Bedürfnisse adressieren: Appelle für demokratische und rechtsstaatliche Standards sind und bleiben wichtig, auch in der Entwicklungszusammenarbeit. Diese geht aber immer noch viel zu oft an den tatsächlichen Bedürfnissen der Partnerländer vorbei. Stärker auf das einzugehen, was die jeweiligen Länder sicherheits- oder wirtschaftspolitisch tatsächlich brauchen und fordern, wäre deshalb ein guter Anfang. Deutschland könnte etwa bei Beschaffungsvorgängen behilflich sein, sich für bessere EU-Marktzugänge oder Visa-Erleichterungen einsetzen.
  • Gleichberechtigte Partnerschaften verwirklichen: Noch immer ist die Zusammenarbeit mit demokratischen Schwellenländern häufig asymmetrisch geprägt. Dabei haben viele Länder Afrikas, Lateinamerikas oder Asiens – gerade in Zeiten großen Diversifizierungsbedarfs im Energiesektor – viel anzubieten. Insbesondere Regionalmächte wie Brasilien, Indien und Südafrika haben wirtschafts- und sicherheitspolitische Potenziale, die vom Westen anerkannt und stärker genutzt werden sollten. Von oben herab zu agieren, Lektionen erteilen zu wollen und Druck auszuüben, ist dabei in jedem Fall kontraproduktiv und hat die ohnehin vorhandenen non-alignment-Reflexe dieser Länder in der Vergangenheit eher noch verstärkt. Der Westen wäre gut beraten, die expliziten und akuten Bedürfnisse dieser Länder in Zeiten einer globalen Energie- und Nahrungsmittelkrise genau zu identifizieren und die Zusammenarbeit voranzutreiben, zum Beispiel in Bereichen wie Technologietransfers im Bereich Landwirtschaft, Energieinfrastruktur oder auch durch eine Überarbeitung des Handelsabkommens zwischen dem Mercosur und der EU.
  • Multilaterale Einbindung stärken: Brasilien, Indien und Südafrika sind selbstverständlich schon in verschiedenen multilateralen Foren wie den G20 vertreten. Allerdings sind es in den vergangenen Jahren insbesondere kleinere und informellere Formate wie die BRICS oder die Quad, die einen Wandel in der globalen Ordnung zum Ausdruck bringen. Deutschland und Europa täten gut daran, vergleichbare Formate mit neuen Partnern aus dem Globalen Süden ins Leben zu rufen. Dies würde zum einen eine symbolkräftige Außenwirkung erzeugen, aber auch die Möglichkeit bieten, sich enger multilateral zu einer Bandbreite von Themen auszutauschen und zu kooperieren. In der Quad wird dies beispielsweise in Form von Arbeitsgruppen zum Klimawandel, zu Technologie, Infrastruktur oder COVID-19 getan. Eine stärkere Einbindung in alte und neue Foren wäre insgesamt ein guter Weg, Synergien zu schaffen und somit besser auf die Bedürfnisse anderer Länder einzugehen. Brasilien möchte zum Beispiel seit Langem Mitglied der OECD werden.
  • Eigene Narrative stärken: Insbesondere das Beispiel der negativen Wahrnehmung des Westens durch Teile der Gesellschaften im Globalen Süden während der COVID-19-Pandemie zeigt, wie wichtig politische Kommunikation ist. Denn trotz erheblicher Unterstützung Europas bei Impfstofflieferungen war die Kritik an Europa in der Bevölkerung mancher Schwellenländer groß. Ähnlich ist es mit Schuldzuweisungen, Europa verursache durch seine Sanktionen gegen Russland Nahrungsmittelknappheit in anderen Regionen. Hier wäre es von entscheidender Bedeutung, dass Europa seine eigenen, auf Fakten basierenden Narrative stärkt, um Desinformationskampagnen entgegenzuwirken. Nachholbedarf besteht hier insbesondere bei sozialen und Online-Medien, die gerade von China und Russland gezielt genutzt werden. Denn erst wenn der Westen von den Gesellschaften der jeweiligen Länder als vertrauenswürdiger Partner angesehen wird, kann auch der politische Wille zu einer noch intensiveren Zusammenarbeit entstehen.

 


 

Sebastian Enskat ist Leiter der Abteilung Demokratie, Recht und Parteien in der Hauptabteilung Analyse und Beratung der Konrad-Adenauer-Stiftung.

 


 

Magdalena Jetschgo-Morcillo ist Referentin Globale Ordnung und Systemwettbewerb in der Hauptabteilung Analyse und Beratung der Konrad-Adenauer-Stiftung.

 


 

Maximilian Römer vertritt die Referentenstelle Globale Ordnung und Systemwettbewerb in der Hauptabteilung Analyse und Beratung der Konrad-Adenauer-Stiftung.

 


 

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