Länderberichte
In der Nacht vom 15. auf den 16. Dezember 1999 hat die französiche Nationalversammlung mit den Stimmen der linken "Majorité plurielle" in dritter und damit letzter Lesung die gesetzliche Einführung der 35-Stundenwoche beschlossen. Damit findet ein Gesetzgebungsverfahren seinen vorläufigen Abschluß, das die innenpolitische Debatte in Frankreich seit Antritt der Regierung Jospin im Juni 1997 bestimmt hat.
Die 35-Stundenwoche wurde ausschließlich aus ideologischen Gründen von der Regierungsmehrheit durchgesetzt, die betroffenen Arbeitnehmer sind keineswegs von deren Nutzen überzeugt, sie stößt wegen mancher Detailprobleme bei den Gewerkschaften auf wenig Gegenliebe, wird vom Unternehmerverband massiv bekämpft, stieß auf den geschlossenen Widerstand der (ansonsten nicht sehr einigen) bürgerlichen Opposition und wurde auch von Präsident Chirac offen kritisiert. Selbst innerhalb der Regierung wurden Zweifel an der Sinnhaftigkeit dieses Gesetzes geäußert, insbesondere aus dem Wirtschafts- und Finanzministerium.
Genese
Jospin und die linke Opposition hatten im Wahlkampf nach der überraschenden Auflösung des Parlaments im Frühjahr 1997 die Einführung der 35-Stundenwoche zu einem ihrer zentralen Wahlkampfversprechen gemacht. Während dieses Wahlkampfes war die Linke ohnehin nicht sehr zimperlich mit großzügigen Versprechungen, denn zumindest in den ersten Wochen des Wahlkampfes rechnete kaum jemand, auch nicht Jospin, damit, die Wahlen zu gewinnen.
Nach dem überraschenden Wahlsieg der Linken wurde an erster Stelle die Einführung der 35-Stundenwoche zum Nachweis für eine neue, linke Politik. Deshalb wurde das Gesetz gegen alle Widerstände, gegen allen ökonomischen Sachverstand und gegen alle Probleme der praktischen Umsetzung und der Finanzierung verwirklicht. Insbesondere Arbeits- und Sozialministerin Martine Aubry walzte geradezu jeden Widerstand, der sich in- und außerhalb des Parlaments gegen das Gesetz regte, nieder. Dabei hatte sie sich noch vor einigen Jahren, als sie in der privaten Wirtschaft arbeitete, kategorisch gegen die Reduzierung der Arbeitszeit als Mittel zur Senkung der Arbeitslosigkeit ausgesprochen. Ihre Kehrtwende um 180 Grad erklärte sie damit, daß eine linke Regierungsmehrheit auch eine linke Politik betreiben müsse.
Das Gesetzesprojekt wurde von der Regierung "réduction négociée du temps de travail" genannt. Aber auch damit konnte sie nicht kaschieren, daß von einer Verhandlung über die Reduktion der Arbeitszeit keine Rede sein kann.
Aushängeschild der Politik der linken Mehrheit
Die zwangsweise Einführung der 35-Stundenwoche ist das zentrale Element der Politik der Regierung Jospin zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit. 450.000 zusätzliche Arbeitsplätze sollen entstehen. Schon jetzt sollen nach Behauptungen der Regierung 138.000 Arbeitsplätze erhalten oder neu geschaffen worden sein.
Mit dem nun beschlossenen Gesetz gilt ab dem 1. Januar 2000 für alle Unternehmen mit mehr als 20 Beschäftigten die 35-Stundenwoche. Die zwangsweise Einführung dürfte sich allerdings um einen Monat verzögern, da die Opposition den Verfassungsrat (Conseil constitutionnel) angerufen hat, der einen Monat Zeit für einen Einspruch hat. Damit wird allerdings nicht gerechnet, so daß das Gesetz ab dem 1. Februar 2000 endgültig wirksam werden wird. Ab dem 1. Januar 2002 wird dann auch für die Unternehmen mit zwanzig und weniger Beschäftigten die 35-Stundenwoche obligatorisch.
Nach der Schlußabstimmung in der Assemblee Nationale fielen sich manche Abgeordnete der linken Mehrheit aus Begeisterung ob des historischen Ereignisses gegenseitig um den Hals.
Der Teufel steckt im Detail
Erst im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens wurden zahlreiche Probleme, die mit der Umsetzung der 35-Stundenwoche verbunden sind, offenkundig und mehr oder minder überzeugend geregelt. So werden in Frankreich zahlreiche Beschäftigte mit geringer Qualifikation auf der Basis des Mindestlohns (SMIC = Salaire minimum) entlohnt. Beim Übergang von der bisher geltenden 39-Stundenwoche auf die 35-Stundenwoche hätten diese Beschäftigten eine Einkommenseinbuße hinnehmen müssen. Dies wollte man aber aus naheliegenden Gründen verhindern. Die Kaufkraft dieser Beschäftigten wäre um rund 10% gesunken und ihr Widerstand gegen das Gesetz massiv angestiegen. Deshalb wurde ein System von zwei verschiedenen Mindestlöhnen eingeführt: ein erhöhter Mindestlohn für jene, die 35 Stunden arbeiten, welcher das Einkommen trotz sinkender Arbeitszeit stabil hält. Und ein Mindestlohn wie bisher für all jene, die 39 Stunden arbeiten. Wegen dieser Ungleichbehandlung hat die Opposition den Verfassungsrat angerufen.
Wenn freilich der Gesetzgeber einmal damit begonnen hat, die Reduzierung der Arbeitszeit gesetzlich zu regeln, verstrickt er sich zwangsläufig immer weiter in Details und Regulierungen, die eigentlich den Verhandlungen der Sozialpartner vorbehalten sein sollten. Da das Gesetz eine Flexibilisierung der Arbeitszeit eröffnet, wird die maximale wöchentliche Arbeitszeit festgelegt (44 Stunden), die Jahresarbeitszeit wird auf 1.600 Stunden begrenzt. Selbst die Frage, ob die zum Anlegen von Arbeitskleidung erforderliche Zeit zur Arbeitszeit zählt oder nicht, wird geregelt (sie zählt!). Auch die Höhe der Überstundenzuschläge (25 % zwischen 35 und 39 Stunden, 50% zwischen 39 und 43 Stunden) und selbst die Zahl der Überstunden pro Jahr (maximal 130 Stunden) werden minutiös vorgeschrieben. Schließlich wird auch die Möglichkeit eröffnet, daß die Reduzierung der Arbeitszeit ersatzweise in Form von vier Wochen zusätzlichen Urlaubs erfolgen kann.
Ursprünglich war gar eine Verpflichtung für die Unternehmen vorgesehen, zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen. Dies wird nun nicht mehr verlangt. Aber in den Vereinbarungen, die jeweils auf Betriebsebene zwischen der Unternehmensleitung und dem Betriebsrat zur Klärung der weiteren Einzelheiten bei der Einführung der 35-Stundenwoche geschlossen werden müssen, muß auch die Anzahl der erhaltenen und zusätzliche geschaffenen Arbeitsplätze genannt werden.
Falls es bei leitenden Angestellten nicht möglich ist, die wöchentliche Arbeitszeit auf 35 Stunden zu begrenzen, gilt nach dem Gesetz eine maximale Zahl von Arbeitstagen (217) pro Jahr, darüber hinaus muß ein Ausgleich gezahlt werden. Die Beschäftigten eines Unternehmens werden daher in drei Kategorien eingeteilt, ohne daß indes klar wäre, wo die Trennlinien zwischen den einzelnen Kategorien liegen.
Überraschenderweise ist der öffentliche Dienst von der Reduzierung der Arbeitszeit ausgeschlossen, ebenfalls stundenweise und Teilzeit-Beschäftigte. Als Grund dafür, daß im öffentlichen Dienst die Arbeitszeit nicht verringert wird, führt die linke Mehrheit an, in den letzten Jahren habe vor allem der private Sektor Arbeitsplätze abgebaut. Man könnte hinzufügen, daß es sehr zu begrüßen wäre, wenn die Beschäftigten im öffentlichen Dienst im Durchschnitt zumindest 35 Stunden arbeiten würden. Für viele von ihnen würde das eher eine Verlängerung als eine Reduzierung ihrer Arbeitszeit bedeuten. Denn vor einiger Zeit erbrachte eine Studie über die durchschnittliche Arbeitszeit im öffentlichen Dienst doch sehr überraschende Ergebnisse (z.B. arbeiten manche Vollzeit-Beschäftigte der Eisenbahnen nur 25 Stunden in der Woche, Polizisten nur 29 Stunden).
Ungeklärte Finanzierung
Die Einführung der 35-Stundenwoche erfolgt bei vollem Lohnausgleich und führt damit bei den betroffenen Unternehmen zu erheblichen Kostensteigerungen. Um diese Kostensteigerungen zumindest teilweise auszugleichen und um die freiwillige Einführung der 35-Stundenwoche (bei den Kleinunternehmen) zu fördern, werden die Sozialabgaben geringfügig reduziert. Dadurch werden allein im Jahr 2000 Einnahmeausfälle in Höhe von rund 65 Mrd. FF entstehen. Diese sollen durch eine Ökosteuer und eine Gewinnsteuer für Großbetriebe finanziert werden. Da aus diesen Quellen aber nur mit Einnahmen von 25 Mrd. FF gerechnet wird, klafft noch eine erhebliche Finanzierungslücke.
Die Liste unvollkommener und unausgegorener Detailregelungen ließe sich beliebig fortsetzen. Schon die dargelegten Reglementierungen veranschaulichen, auf welch gefährliches Terrain sich die Regierung Jospin bei der gesetzlichen Einführung der 35-Stundenwoche begeben hat. Konflikte auf Betriebsebene bei der Umsetzung des Gesetzes sind vorprogrammiert. Selbst Martine Aubry hat dies bereits im Senat eingestanden. Dies wird den Enthusiasmus der Sozialpartner für das Gesetz noch weiter schwinden lassen.
Ökonomische Folgen
Die Regierung Jospin verkündet schon heute den Erfolg der 35-Stundenwoche. Die bis Ende 1999 mögliche freiwillige Einführung der 35-Stundenwoche habe bereits 138.000 Arbeitsplätze erhalten oder neu geschaffen. Natürlich spricht die Regierung nicht davon,
- daß die zwangsweise Einführung der 35-Stundenwoche den Standort Frankreich weiter verteuert,
- daß dadurch die Wettbewerbsfähigkeit der französischen Wirtschaft leidet,
- daß gerade gering qualifizierte und daher gering bezahlte Arbeitsplätze besonders gefährdet sind,
- daß Unternehmen gezwungen sein könnten, Investitionen im Inland zu unterlassen und/oder ihre Produktion ins kostengünstigere Ausland zu verlagern,
- daß weniger ausländische Unternehmen in Frankreich investieren werden.
"Die 35-Stundenwoche muß eingeführt werden, koste es, was es wolle" ("coûte que coûte"), hat Martine Aubry einmal gesagt. Denn die zwangsweise Einführung der 35-Stundenwoche verkörpert das "linke" Projekt der Regierung Jospin. So hat das Gesetz schon, bevor es richtig wirksam werden konnte, seine eigentliche Aufgabe erfolgreich erfüllt. Es hat aller Welt demonstriert, daß die Regierung Jospin ein linke Politik macht, und es hat dazu beigetragen, daß die "Majorité plurielle", die unverkennbar unter internen Spannungen leidet, diese Spannungen für einen gewissen Zeitraum verringern konnte.
Ob daneben auch Arbeitsplätze verloren gehen oder geschaffen werden, ist da eher zweitrangig. Zumal die gegenwärtige gute konjunkturelle Entwicklung das Problem eher überdeckt. Die Verringerung der Arbeitslosigkeit in diesem Jahr und die 500.000 neuen Arbeitsplätze werden dann in den Analysen der Regierung rasch zum Erfolg der 35-Stundenwoche, obwohl bis Ende 1999 ja überwiegend noch die 39-Stundenwoche galt. Im nächsten Jahr wird dann trotz der guten Konjunkturentwicklung gewiß jeder Arbeitslose weniger eben ein Erfolg der 35-Stundenwoche sein.
Schwieriger dürfte es aber werden, wenn die Konjunktur eines Tages wieder abflaut. Dann wird sich noch deutlicher als heute zeigen, daß das Problem der Arbeitslosigkeit in Frankreich, wie in manchen seiner Nachbarländer, vor allem ein strukturelles Problem ist. (siehe etwa OECD, Economic Survey: France 1999, Paris 1999, S. 51ff.) Die dann umfassend geltende 35-Stundenwoche wird die Beschäftigungsprobleme noch zusätzlich verschärfen.
"exception française"
Die zwangsweise Einführung der 35-Stundenwoche ist auch erneutes Beispiel jener "exception française", auf die man in Frankreich noch immer gerne stolz ist. Während in den meisten hochindustrialisierten Ländern eher die Notwendigkeit der Verlängerung der Arbeitszeit auf der Tagesordnung steht, trifft Frankreich eine völlig entgegengesetzte Entscheidung.
Beispiel Deutschland?
In der innerfranzösischen Debatte wurde mitunter auch das Beispiel der Arbeitszeitverkürzungen in Deutschland Ende der achtziger Jahre bemüht. Vor allem das angeblich so erfolgreiche Beispiel der Volkswagen AG wurde gerne zitiert. Aus diesem Grunde weilte im Juli 1999 eine Delegation von Abgeordneten der französischen Opposition sowie Journalisten zu einem Informationsbesuch in Baden-Württemberg. In Gesprächen mit Vertretern der Industrie, der Gewerkschaften ein und Unternehmerverbände sowie der Regierung informierte man über die Erfahrung mit der Reduzierung der Arbeitszeit in der Metallindustrie. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse wurden von den Abgeordneten in den Debatten der Nationalversammlung verwendet. Die Behauptung, das Beispiel Deutschlands beweise, daß die Reduzierung der Arbeitszeit Arbeitsplätze schaffe, ist seitdem seltener zu hören.