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Länderberichte

Polen und die Europäische Integration

von Dr. Henning Tewes, Roland Freudenstein

1 Jahr nach Aufnahme der Beitrittsverhandlungen

In polnischen Meinungsumfragen hat der Anteil der Befürworter eines EU-Beitritts einen historischen Tiefstand erreicht. Die Probleme, denen sich die polnische Europapolitik in den letzten 2 Jahren gegenübersieht, sind vorrangig politischer, nicht institutioneller Natur. Die Trennlinie zwischen Euroskeptiken und Europabefürwortern läuft quer durch die politischen Parteien. Hinzu kommen Kompetenzfragen von den Institutionen, die hauptsächlich über die polnische Europapolitik entscheiden. Im Gefolge der Gipfelkonferenz in Helsinki werden darüber hinaus zwei weitere Themen (institutionelle Weiterentwicklung der EU. sicherheitspolitische Fragen) die europapolitische Diskussion der kommenden Jahre bestimmen.

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Einführung

Der breite Konsens, der die polnische Europapolitik zu Anfang der 90er Jahre trug, ist unter Druck geraten. Nach einer im November veröffentlichten Umfrage erreichte in Polen die Zahl der Befürworter des EU-Beitritts einen neuen Tiefststand. Mit 48% war diese Zahl nicht nur erstmals unter die psychologisch wichtige 50%-Marke gefallen, sie markierte auch den vorläufigen Abschluss einer kontinuierlichen Verringerung des Anteils der Beitrittsbefürworter, der 1997 noch bei über 80% lag.

Obwohl die Nachricht der sinkenden Unterstützung zum polnischen EU-Beitritt Sorge bei all denen hervorrief, die sich für den Beitritt einsetzen, besteht kein Grund zur Alarmstimmung. Dies hat zwei Gründe: (1) In den neuesten Umfragen (eines anderen Institutes) lag die Zahl der Befürworter bei 59%, was vor allem auf einen nach wie vor bestehenden statistischen Spielraum hinweist; (2) während die Zahl der Beitrittsbefürworter sich stetig verringert hat, ist im Gegenzug nicht die Zahl der Beitrittsgegner, sondern die der Unentschiedenen gewachsen. Das Rennen ist also noch offen. Man sollte aber die Augen nicht davor verschließen, dass die Umfrageergebnisse auf eine komplizierte innenpolitische Gemengelage hindeuten. Die parteipolitische Situation, die institutionelle Organisation und das Auftauchen einiger brisanter Themen erschweren den polnischen EU-Beitritt.

Die parteipolitische Situation

Das polnische Parteienspektrum ist auch 10 Jahre nach der Wende hauptsächlich entlang der Trennlinie Postkommunismus/Antikommunismus geteilt. Dies spiegelt sich in der gegenwärtigen Machtverteilung im Parlament wider: Die postkommunistischen Parteien SLD (Bündnis der Demokratischen Linken) und PSL (Bauernpartei) sind in der Opposition, die antikommunistischen AWS (Wahlaktion Solidarität) und UW (Freiheitsunion) stützen die Regierung Buzek. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird der postkommunistische Teil hierbei als links, der antikommunistische Teil als rechts bezeichnet.

Trotzdem muss man aber immer wieder darauf hinweisen, dass es sich bei der Links/Rechts-Trennlinie in Polen nicht um eine wirtschaftspolitische handelt, sondern um eine rein ideologische, die in der jüngeren polnischen Vergangenheit gründet. Diese vertrackte Situation hat für die polnische Innenpolitik verschiedene Konsequenzen, von denen hier aber nur eine interessieren soll: In der Wirtschaftspolitik verläuft die Trennlinie quer durch die großen Parteien AWS und SLD, während die zentristische UW als einzige Partei ganz für Modernisierung und Marktwirtschaft steht. Die Bauernpartei PSL plädiert eindeutig für Protektionismus, Staatsinterventionismus und ein langsameres Reformtempo.

Diese Aufteilung spiegelt sich auch in der Haltung der Parteien in der Frage des polnischen EU-Beitritts wieder. Die PSL steht der EU sowohl in der Spitze der Partei als auch in ihrer Wählerschaft am kritischsten gegenüber. Die SLD versteht, durch geschicktes Lavieren und sanfte Rhetorik ihrer Führungsspitze den Anschein von Europafreundlichkeit zu wahren. Dies kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine deutlich größere Zahl ihrer Wähler dem polnischen EU-Beitritt skeptisch gegenübersteht, als dies in der AWS der Fall ist.

Innerhalb der AWS besteht ein Riss zwischen offenen Europaskeptikern und überlegteren Europabefürwortern. Dieser Riss verläuft sowohl in der politischen Führung als auch innerhalb der Anhängerschaft. Er tritt aber nicht deutlich zu Tage, da (1) dies den ohnehin schwachen Zusammenhalt der AWS gefährden würde, (2) das Europathema vor allem mit der Modernisierungspartei UW in Verbindung gebracht wird, zu deren Identität es viel eher gehört als selbst zu der kleinsten Gruppierung der AWS.

Dies hat vor allem zwei Konsequenzen. (1) Die Streitlinie über das Europathema verläuft innerhalb der Koalition, die die Regierung von Jerzy Buzek stützt. (2) Die beiden großen Gruppierungen AWS und SLD haben weder die Kraft noch den Willen, das Europathema innenpolitisch offensiv und mutig zu vertreten. Die Folge ist die paradoxe Situation, dass die Regierung Buzek Polen einem schmerzhaften innenpolitischen Reformprozess unterwirft, um es auf die EU-Mitgliedschaft vorzubereiten, gleichzeitig aber die Werbung für ihre Politik sträflich vernachlässigt. Dies wiederum zeigt Auswirkungen auf die institutionelle Organisation der polnischen Europapolitik wie auch auf die Behandlung bestimmter "heißer" Themen.

Die institutionelle Organisation

Die Widersprüchlichkeit der politischen Situation wird durch eine Tatsache besonders treffend veranschaulicht: Seit Dezember 1998 ist die Stelle des Leiters im UKIE (Amt des Ausschusses für Europäische Integration), d. h. die wichtigste europapolitische Funktion in Polen, vakant. Dies ist die Folge eines anscheinend nicht lösbaren Parteienstreits um die Kontrolle des UKIE. Die Regierung Buzek ist in diesem Fall also nicht in der Lage, personalpolitische Fragen den strategischen Interessen des Landes unterzuordnen. Die folgenden drei Institutionen entscheiden hauptsächlich über die polnische Europapolitik

(1) Das Amt des Kabinetsausschusses für Europäische Integration (UKIE)

Das 1996 entstandene UKIE ist ein interministerielles Amt mit etwa 200 Mitarbeitern. Es war ursprünglich als institutionelle Brücke gegründet, die die Überwachung der Implementierung mit der Vorbereitung auf die Verhandlungen verbinden sollte. Es ist die administrative Unterstruktur zum Kabinettsausschuss für Europäische Integration (KIE).

Ursprünglich waren die politischen Verantwortlichkeiten wie folgt verteilt: Dem Kabinettsausschuss (KIE) stand der Premierminister vor, während das Amt UKIE durch einen Beamten mit Rang eines Staatssekretärs geleitet wurde, welcher durch den Premierminister ernannt wurde und diesem unterstand. Wegen der parteipolitischen Besonderheiten der AWS/UW-Koalition wurde nach dem Machtwechsel 1997 entschieden, dass die eher skeptischen Teile der AWS in die Europapolitik unbedingt miteinbezogen werden müßten.

Chef des UKIE wurde daraufhin Ryszard Czarnecki, ein führendes Mitglied der AWS-Mitgliedspartei ZChN, welcher, in einer eigentümlichen Konstruktion, sowohl den Kabinettsausschuss KIE als auch das Amt UKIE leitete und hierbei formell übergeordneten Kollegen (wie Außen- oder Finanzminister) vorsaß. Die politische Krise nach der Verweigerung von 36 Millionen EURO durch die Europäische Kommission im Juni 1998 löste dann eine Umbildung der KIE/UKIE Struktur aus. Ryszard Czarnecki wurde erst von seiner Funktion als Chef des UKIE, dann auch von seiner ministeriellen Verantwortung entbunden. Sein Stellvertreter Piotr Nowina-Konopka (UW), als "Korrektiv" zu Czarnecki vom kleineren Koalitionspartner ins Spiel gebracht, verließ im Februar 1999 die Regierung.

Chef des UKIE wurde als beamtete Staatssekretärin zunächst die Wissenschaftlerin Maria Karasinska-Fendler, die aber im Dezember 1998 zurücktrat. Seitdem ist ihre Stelle vakant, die Funktion wird von ihrem Stellvertreter Pawel Samecki wahrgenommen. Es hat zwar während der verschiedenen Kabinettsreformen der letzten zwölf Monate immer wieder Bestrebungen gegeben, einen politischen Chef des UKIE zu finden, doch sind diese ohne Erfolg geblieben. Ebenso wie die UW das Ressort mit größter Selbstverständlichkeit für sich beansprucht, möchte die AWS (und insbesondere die ZChN) dem Koalitionspartner diesen Erfolg auf keinen Fall gönnen. Als Konsequenz gilt das UKIE inzwischen als Behörde mit hoher personeller Fluktuation, fragwürdiger Effizienz und wenig wirklichem Einfluss.

(2) Das Aussenministerium

Eine der Gründe, die 1996 zur Schaffung des UKIE führten, war die vermutete Schwäche des Außenministeriums in der wirksamen Überwachung der Implementierung des acquis communautaire ("gemeinschaftlicher Besitzstand" ). Obwohl das Außenministerium nach wie vor einige Referate besitzt, die sich mit der Integration beschäftigen, ist es gegenwärtig weniger mit den Verhandlungen selbst als mit der Weiterentwicklung der EU, besonders in der 2. und 3. Säule, befasst. Die politische Verantwortung liegt bei Bronislaw Geremek (UW), dessen fünf Stellvertreter fast alle mit der AWS assoziiert werden. Im September 1999 gab es noch Spekulationen, nach denen das UKIE entweder in das Außenministerium eingegliedert oder mit einem neuen Chef Geremeks politischer Verantwortung unterstellt werden sollte. Dies wäre in vielerlei Hinsicht ein naheliegender Schritt, steht aber bis auf weiteres nicht auf der Tagesordnung.

(3) Die Verhandlungsführung

Seit November 1998 liegen die Verhandlungen bei dem Bevollmächtigten der Regierung Buzek, Jan Kulakowski. Dieser steht zum einen einer Art Staatssekretärsausschuss mit Vertretern aller Ministerien vor und zum anderen einer kleinen Gruppe von Experten, die das eigentliche Verhandlungsteam bilden. Durch die Schwäche des UKIE spielt Kulakowski (zwangsläufig und auf Kosten seiner sonstigen Funktionen) auch in der öffentlichen Vermittlung der Europapolitik eine wichtige Rolle. Er ist außergewöhnlich medienpräsent und sucht auch die Nähe zu gesellschaftlichen Gruppen und Nichtregierungsorganisationen.

Die Ansiedlung des Verhandlungsteams in der Kanzlei des Premierministers weist sowohl auf deren Stärke als auch auf deren Schwäche hin. Auf der einen Seite ist die Kanzlei stark, gerade gegenüber dem Außenministerium. Auf der anderen Seite ist sie schwach, da Premierminister Buzek nicht der starke Mann der Koalition ist. Dies ist dagegen Marian Krzaklewski, welcher in Personalunion Chef der Gewerkschaft "Solidarität", der AWS und der AWS-Fraktion im Sejm ist. Da auch Krzaklewskis Stern in den letzten Monaten gesunken ist, leidet die AWS/UW Koalition unter einem Machtvakuum, was politische Entscheidungen verzögert und personelle Erneuerungen in speziellen Positionen unmöglich macht.

(4) Die Themen

Etwas mehr als ein Jahr nach Beginn der eigentlichen Verhandlungen mit der EU hat Polen zu allen 31 Kapiteln des acquis communautaire sein Positionspapier vorgelegt. 9 Kapitel sind vorläufig abgeschlossen. Im Vorfeld des Gipfels in Helsinki äußerte Außenminister Geremek Kritik am langsamen Fortgang der Verhandlungen. Dies deutet sowohl auf eine leichte Unzufriedenheit mit den Ergebnissen der deutschen und finnischen Präsidentschaften hin, als auch auf die Sorge, dass sich nach Aufnahme von Verhandlungen mit weiteren 6 Kandidaten das Beitrittsdatum für die ersten Kandidaten hinauszögern könne.

Es herrscht in Polen also eine gewisse Ambivalenz: Man möchte auf der einen Seite, dass gerade die baltischen Länder und die Slowakei eine realistische Beitrittsperspektive haben, auf der anderen Seite aber sorgt man sich um das eigene Fortkommen.

Der Fortschrittsreport der Europäischen Kommission, veröffentlicht im November, lobte die wichtigen Strukturreformen, die in Polen 1999 in Kraft traten, mahnt aber auf der anderen Seite eine Beschleunigung des Rechtsangleichungsprozesses an. In Polen sieht man diese Kritik gelassen. Da der Sejm durch die vier großen Reformen in den letzten zwei Jahren beschäftigt gewesen sei, müsse man einige wichtige Gesetze eben in den kommenden zwei Jahren verabschieden. Außerdem weist der Fortschrittsreport der Kommission auch auf die wohl größten Probleme bei der Angleichung an den acquis communaitaire in Polen hin, nämlich auf Landwirtschaft und Umweltschutz. Der freie Erwerb von Grund und Boden, bei dem Polen eine Übergangsfrist von 18 Jahren fordert, ist ein Sonderthema mit besonderer emotionaler Sprengkraft. Es wird hierbei in der erhitzten innenpolitischen Lage vor den Präsidentschaftswahlen (Oktober 2000) und Parlamentswahlen (September 2001) kaum zu Bewegung auf polnischer Seite kommen.

Auch zwei andere Konsequenzen des Gipfels von Helsinki werden in Polen in zunehmender Breite diskutiert. Zum einen ist dies die zukünftige Gestalt der EU, zu der die Regierungskonferenz des Jahres 2000 ja eine vorläufige Antwort geben soll. In vielerlei Hinsicht ist dies in Polen zwar ein neues Thema, welches im Vergleich zum Verlauf des Beitrittsprozesses in der öffentlichen Debatte bis dato eine eher geringe Rolle gespielt hat. Gleichzeitig kann sich Polen aber der Diskussion über die institutionelle Verfassung der EU nicht mehr entziehen. Obwohl es für eine fundierte Einschätzung noch zu früh ist, scheinen sich in der AWS die Stimmen der Intergouvernmentalisten zu sammeln und in der UW die Stimmen derjenigen, die für starke Institutionen plädieren, nicht zuletzt deswegen, weil dies im ureigensten Interesse Polens ist.

Eine weitere Folge von Helsinki, die ambitionierten Pläne für den Ausbau der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungs-Identität (ESDI), werden in Polen eher mit Sorge gesehen, und zwar in der gesamten Breite des politischen Spektrums. Man sorgt sich zum einen, bei den Entscheidungen über die europäische Sicherheit nicht mit am Tisch zu sitzen, zum anderen, daß die USA aus Europa herauskomplimentiert werden könnten. Das Thema "Türkei" hingegen, welches in Deutschland die Gemüter erhitzt und welches im katholischen Polen von besonderer kultureller Bedeutung sein könnte, taucht dagegen kaum in Debatten auf.

Schlußfolgerungen

Die Probleme, denen sich die polnische Europapolitik in den letzten zwei Jahren gegenübersieht, sind letztendlich politischer, nicht institutioneller Natur. Doch könnte eine Neuordnung der Kompetenzen die Vertretung polnischer Interessen vereinfachen. In bezug auf die Themen, die die polnische Europapolitik in den nächsten zwei Jahren dominieren werden, läßt sich gegenwärtig zweierlei feststellen.

(1) Politische Beobachter sind sich weitgehend darin einig, dass die Regierung Buzek ihre politischen Überzeugungen innenpolitisch eindringlicher und professioneller darstellen müsste. Dies gilt für ihre gesellschaftspolitischen Reformprojekte ebenso wie für die Europapolitik. Gelder für eine breit angelegte öffentliche Kampagne stehen aus Brüsseler Töpfen zur Verfügung, müssten aber genutzt werden. Auch brisante Themen - wie der Verkauf von Grund und Boden - dürfen nicht Extremen von Rechts und Links, sondern von den Kräften der politischen Mitte angegangen werden.

(2) Dringender Klärungsbedarf besteht außerdem bezüglich der institutionellen Weiterentwicklung der EU wie auch bezüglich der Entwicklung eines europäischen Pfeilers innerhalb der NATO. Auf welche Art und Weise das NATO-Mitglied Polen hier vor seinem EU-Beitritt eingebunden werden kann, müsste Gegenstand von politischen Gesprächen werden.

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