Knapp eine Woche vor den Wahlen zum Stortinget (norwegische Parlamentswahlen) am 13. September, deuten die meisten Umfragen auf einen politischen Wandel hin. Die Zahlen zeigen eine Präferenz für eine Mitte-Links-Koalition unter der Führung des Sozialdemokraten (Arbeiderpartiet/Ap) Jonas Gahr Støre im Vergleich zu der aktuellen Mitte-Rechts Regierung geführt von konservative Ministerpräsidentin Erna Solberg (Høyre/H).
Tatsächlich ist die derzeitige konservativ (Høyre) geführte Mitte-Rechts-Regierung mit der Liberalen Partei (Venstre/V), der Christdemokraten (Kristeligt Folkparti/KrF) eine Minderheitsregierung. Sie ist dabei auf die parlamentarische Unterstützung der rechtspopulistischen-libertären Fortschrittspartei (Fremskrittpartiet/FrP), die 2020 in die Opposition wechselte, angewiesen. Unterdessen hat die größte Oppositionspartei, die Sozialdemokraten, einige der niedrigsten Umfragewerte in ihrer 100-jahrigen Geschichte. Die zweitgrößte Oppositionspartei, die agrarische Zentrumspartei (Senterpartiet/Sp), hat seit den Wahlen zum Stortinget (Norwegens Parlament) 2017 in den Umfragen gewonnen, und die linksradikale Rote (Røde/R) und Grüne Partei (Miljøpartiet de Grønne/MDG) sind in den Umfragen ebenfalls gestiegen.
Unsicherheitsfaktor Zentrumspartei
Im Laufe des Jahres 2020 hat die Zentrumspartei (Sp) unter der Führung von Trygve Slagsvold Vedum historisch hohe Zustimmungswerte, trotz aktuell leichtem Rückgang, erreicht. Die Sp profitierte dabei von der allgemein vorherrschenden Frustration gegenüber der Solberg-Regierung, die in den letzten Jahren Zentralisierungsreformen bei Polizei, Gemeinden und Regionen (fylken) durchgesetzt hat.
Wo das Wahlergebnis für Sp 2017 noch bei 10,3 Prozent lag, liegen ihre Umfragewerte aktuell (August 2021) bei 14,1 Prozent. Im Hinblick auf die anstehenden Wahlen gilt im Voraus die Wahrscheinlichkeit für eine Mitte-Links Koalition mit Sp, Sozialdemokraten und der sozialistischen Linkspartei (Sosialisisk Venstreparti/SV) nach Vorbild der Regierung 2005-2013 unter Jens Stoltenberg als sehr hoch.
Neben der Kritik an der Zentralisierungspolitik der Regierung Solberg hat Sp auch durch seine EWR- und EU-kritische Rhetorik Aufmerksamkeit erregt und sich auch als Gegner vieler neu vorgeschlagener staatlicher und kommunaler Umweltpolitiken positioniert, wie etwa einer Zuschlagserhöhung auf CO2-Kraftstoff.
Aber auch die traditionell größte Partei Norwegen, die Sozialdemokraten (Ap), unter Støre haben mit historisch schlechten Zustimmungswerten zu kämpfen. Dies veranlasste Slagsvold Vedum von der agrarischen Zentrumspartei sich als Kandidat für das Amt des Premierministers zu positionieren – eine Kandidatur, die bei den Wählern nicht viel Unterstützung findet und in gewisser Weise auch als ein Affront gegenüber der traditionell größeren Ap angesehen wird. Die Weigerung des Sp-Parteichefs, eine von Ap geführte linke Regierung, zusammen mit der sozialistischen SV, eindeutig zu unterzeichnen, hat auch die Frage aufgeworfen, wie Gahr Støre eine Regierung mit einer Mehrheit im Stortinget überhaupt bilden kann.
Um die Sache noch komplizierter zu machen, hat Slagsvold Vedum auch auf eine mögliche Sp-Kooperation mit Høyre hingewiesen. Daraufhin haben einige Stimmen innerhalb der Ap die Verlässlichkeit einer Sp-Beteiligung an einer Ap-geführten Regierung in Frage gestellt.
Slagvold Vedums recht populistische Kritik an den norwegischen „Machteliten“ und Norwegens EWR-Abkommen mit der EU hat auch den bei SciencePo Paris ausgebildeten ehemaligen Außenminister Gahr Støre verärgert, der als Politikberater aktiv am EWR-Beitrittsabkommen in den 1990er Jahren mitgewirkt hat. Darüber hinaus unterstützte Gahr Støre in den 1990ern auch persönlich die norwegische Vollmittgliedschaft in der EU.
Keine stabile bürgerliche Mehrheit
Rechts von der Mitte der norwegischen Politik sind sowohl Høyre als auch die Fremskrittpartiet/FrP in den Umfragen gestolpert. Zudem ist offen, ob die Koalitionspartner Venstre/V und die Kristeligt Folkparti/KrF die 4%-Hürde für den Einzug is Stortinget überhaupt erreichen. Die Aussichten auf eine Vorsetzung einer Mitte-Rechts regierten Koalition scheinen daher, selbst als Minderheitenregierung, sehr gering.
Zum Vorteil der amtierenden Regierung haben Norwegen und die Solberg-Regierung die Corona-Krise bisher vergleichsweise gut überstanden. Mit einem im Vorfeld erfolgreichen Lockdown und Schließung der Landesgrenzen hatte Norwegen einer der niedrigsten Übersterblichkeitsraten im Jahr 2020 in ganz Europa.
Die Regierung Solberg wurde jedoch für die Reformen der Zentralisierung der Polizei und des Gesundheitswesens kritisiert. Regionalistische Kritik wiederum verringert die Chancen auf eine Weiterführung der Solberg-Regierung überproportional, da Norwegens Regionen einen überproportional großen Einfluss bei Stortinget-Wahlen ausüben, da die Mandatsverteilung sowohl als Faktor der Bevölkerungs- als auch der Landfläche beider Wahlkreise berechnet wird. Gleichzeitig bleibt Erna Solberg als Kandidatin für das Amt des Premierministers trotz Kritik an ihrer Regierung recht beliebt. In den jüngsten Meinungsumfragen zu den Kandidaten für das Amt des Premierministers unterlag Solberg mit 36,8% ihrem sozialdemokratischen Konkurrenten Gahr Støre mit 41%[ii]. Zum Nachteil der Konservativen löste die Verletzung der Coronavirus-Beschränkungen durch die Familie Solberg bei der Feier ihres 60. Geburtstag Empörung in der Bevölkerung aus.
Zentrale Wahlthemen
Laut Umfragen sind die wichtigsten politischen Fragen für die norwegischen Wähler soziale Ungleichheiten (28%), Umweltfragen (26%), Gesundheitspolitik (25%), Steuern und Abgaben (24%) und Arbeitsmarktfragen (17%)[iii].
Nach einem Sommer mit zunehmend besorgniserregenden klimabezogenen Schlagzeilen und der Veröffentlichung des neuesten IPCC-Berichts sind Umweltfragen seit der letzten Umfrage im März 2021 in der norwegischen Wählerliste um 6,4% gestiegen. Angesichts dieser zunehmenden Besorgnis planen die Stadträte von Oslo und Bergen, in denen die Grünen vertreten sind, nicht emissionsfreie Fahrzeuge aus ihren Innenstädten zu verbannen, was in Norwegen, einem Land, das weitgehend vom norwegischen Öl- und Gassektor abhängig ist, zu vielen Debatten führt.
Mit anderen vorgeschlagenen Reformen, die die CO2-Treibstoffzuschläge erhöhen, die langfristigen finanziellen Garantien des Staates für neue Ölexplorationen begrenzen und die schon länger kritisierten Erhöhungen der Mautgebühren, droht in der norwegischen Politik eine ökologische Spaltung. Populistische Parteien wie die Sp und und FrP setzen auf diese Kritik einer, in ihrer Sicht, „interventionistischen Klimapolitik“ und hoffen daraus im Wahlkampf Kapital schlagen zu können.
[i] Poll of Polls, 2021-09-03, ”Gjennomsnitt av nasjonale meningsmålinger om stortingsvalg”.
[ii] TV2, 2021-08-15, ” TV 2s statsministermåling: Bare 1 av 7 vil ha Trygve”.
[iii] Aftenposten, 2021-08-19, ” Norske velgere har endret mening. To saker er blitt mye viktigere i løpet av sommeren”.