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Das Erbe des Widerstands in der CDU
Politische Kontinuitätslinien und Erinnerungskultur
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Die Gründung der Bundesrepublik Deutschland war kein Ergebnis des Widerstands gegen den Nationalsozialismus, sondern eine Folge der vollständigen Niederlage des Deutschen Reiches im Zweiten Weltkrieg, der alliierten Besatzungspolitik und der beginnenden Blockkonfrontation zwischen Ost- und West. Nach dem Ende des Krieges mussten die Deutschen nicht nur den Verlust der politischen Souveränität sowie die von Lebensmittelknappheit und Wohnungsnot geprägten Lebensumstände gegenwärtigen, sondern auch den beispiellosen moralischen Autoritätsverlust von Volk und Nation infolge der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und des Völkermords an den europäischen Juden. Die Gründungsdokumente der christlich-demokratischen Gruppierungen, die sich zunächst regional und schließlich auf Länderebene in den Besatzungszonen in Ost- und Westdeutschland zusammenschlossen, reflektieren diese Situation, aus ihnen spricht das Ringen mit dem moralischen Erbe der vorangegangenen Jahre der Diktatur. Ein besonders eindrucksvolles Zeugnis aus dieser Zeit ist der Aufruf „Deutsches Volk“ des Berliner Gründerkreises der CDU, in dem ein „Trümmerhaufen sittlicher und materieller Werte“ beklagt wird.
Welche geistigen und sittlichen Quellen standen überhaupt zur Verfügung, aus denen die Männer und Frauen schöpfen konnten, die sich der schwierigen Aufgabe des politischen Neuanfangs stellten? Es waren die Rückbesinnung auf die Werte des Christentums, die vielfach in den ersten Programmschriften der CDU beschworen wurden, sowie die Erinnerung an den Widerstand gegen die Tyrannei der Nationalsozialisten. Viele derjenigen, die sich in den Monaten nach Kriegsende zu christlich-demokratischen Gruppierungen zusammenschlossen, hatten selbst Widerstand geleistet oder im Kontakt mit Widerstandskreisen gestanden. Nur mit Glück hatten sie die Verhaftungswelle nach dem 20. Juli 1944 und die Mordaktionen der letzten Kriegsmonate überlebt. Zahlreiche Quellen aus der Gründungszeit der CDU veranschaulichen, dass die Erinnerung an die Zeit der Verfolgung die Überlebenden zusammenband und wesentlich dazu beitrug, die Identität der neuen Partei zu formen.
Gründungsphase der CDU
Einer der Köpfe des Widerstands, der eine wichtige Rolle bei der Gründung der CDU spielte, war der ehemalige Zentrumspolitiker Andreas Hermes. Hermes, in der Weimarer Republik unter anderem Reichsminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten beziehungsweise Reichsminister der Finanzen, stand während des Zweiten Weltkriegs in Kontakt mit Carl Goerdeler, dem führenden Vertreter des konservativen Widerstands. Für den Fall des Erfolgs eines Attentats auf Hitler war er von Goerdeler als zukünftiger Reichsminister für Landwirtschaft vorgesehen. Am 20. Juli 1944 wurde Hermes verhaftet und am 11. Januar 1945 vom Volksgerichtshof unter Roland Freisler zum Tode verurteilt. Der Einmarsch der Roten Armee in Berlin am 24. April 1945 beendete seine Gefangenschaft. Bereits im Mai 1945 beriet Hermes in Berlin mit Jakob Kaiser über die Gründung einer neuen Partei, die ein „Sammelbecken aller christlichen, demokratischen und sozialen Kräfte der Mitte“ sein sollte. Auch Jakob Kaiser, ein führender Vertreter der christlichen Gewerkschaftsbewegung in der Weimarer Republik, war in die Nachkriegsplanungen verschiedener Widerstandsgruppen eingebunden gewesen, er stand in Kontakt mit Goerdeler wie mit Vertretern des militärischen Widerstands. Nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944 gelang es ihm unterzutauchen. Das Kriegsende erlebte er in einem Kellerversteck in Babelsberg.
Auch Paulus van Husen gehörte zu den Mitgründern der CDU in Berlin. Im Kreisauer Kreis um Helmuth James Graf von Moltke und Peter Graf Yorck von Wartenburg hatte sich van Husen um Kontakte zu katholischen Kirchenkreisen gekümmert, er war nach einem erfolgreichen Umsturz als Staatssekretär im Innenministerium vorgesehen. Am 19. April 1945 vom Volksgerichtshof zu einer dreijährigen Zuchthausstrafe verurteilt, befreiten ihn am 25. April 1945 sowjetische Truppen aus dem Gefängnis in Berlin-Plötzensee. Ein weiterer Angehöriger des Kreisauer Kreises war Otto Heinrich von der Gablentz, ein engagierter evangelischer Christ, der großen Einfluss auf die Programmatik des Kreises besaß. Nach dem 20. Juli 1944 entging er den Ermittlern und konnte so das Kriegsende in Freiheit erleben. Gablentz leitete von 1945 bis 1947 den Wirtschaftspolitischen Ausschusses der CDU in Berlin, von 1948 bis 1950 war er auch Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates bei der Verwaltung für Wirtschaft (Bizone) bzw. beim Bundesministerium für Wirtschaft. Von 1959 bis 1966 wirkte er als Professor für Politische Wissenschaft an der Freien Universität Berlin.
Zu den Gründern der CDU in Köln gehörte Leo Schwering, auch er ein früheres Mitglied des Zentrums und während des Zweiten Weltkriegs Beteiligter einer Gesprächsgruppe von katholischen NS-Gegnern, die regelmäßig im Kölner Kolpinghaus tagte. Schwering wurde nach dem 20. Juli 1944 verhaftet, obwohl die Mitglieder der Kolpinghausgruppe keinen Kontakt zum militärischen Widerstand gehabt hatten. Am 2. September 1945 wurde er zum ersten Vorsitzenden der CDU im Rheinland gewählt. Johannes Albers, auch er ein Mitgründer der CDU in Köln, hatte dem sogenannten Kölner Kreis im Ketteler-Haus angehört. Der Kölner Kreis, eine der wichtigsten Gruppen, die im Rheinland in Gegnerschaft zur NS-Diktatur standen, stand in der Tradition der katholischen Arbeiterbewegung. Beim Aufbau der CDU im Rheinland kam den Netzwerken, die sich aus ehemaligen Zentrumspolitikern und christlichen Gewerkschaftern rekrutierten, eine wichtige Rolle zu. Geschätzt engagierten sich etwa zwei Drittel Katholiken und ein Drittel Protestanten in der Gründungsphase der CDU im Rheinland. Ein Protestant war etwa der frühere Düsseldorfer Oberbürgermeister Robert Lehr, er hatte vor 1933 der DNVP angehört. Lehr begründete mit anderen die CDU in Düsseldorf, er war stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion im Parlamentarischen Rat und von 1950 bis 1953 Bundesminister des Innern. Während des Krieges hatte sich in seinem Haus in Düsseldorf Regimegegner beider Konfessionen zusammengefunden, darunter auch Karl Arnold, der erste Vorsitzende der CDU in Düsseldorf und von 1947 bis 1956 Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen.
In Hessen zählten Werner Hilpert und Eugen Kogon zu den Mitgründern der CDU, beide waren Überlebende des Konzentrationslagers Buchenwald, wo sie als politische Gegner des NS-Regimes jahrelang in Haft gewesen waren. Der frühere Zentrumspolitiker Hilpert war von 1945 bis 1952 Vorsitzender des CDU-Landesverbands Hessen und von 1947 bis 1951 Hessischer Finanzminister im Kabinett Stock (SPD).
Von großer Bedeutung, vor allem für die programmatische Entwicklung der CDU, war auch der akademische Widerstand der „Freiburger Kreise“, die seit den 1930er Jahren die Grundgedanken der Sozialen Marktwirtschaft erarbeiteten. Ein Vertreter der Freiburger Kreise in der CDU war etwa Franz Böhm, der von November 1945 bis Februar 1946 als Groß-Hessischer Minister für Kultus und Unterricht amtierte und 1953 bis 1965 auch dem Deutschen Bundestag angehörte. Erst in jüngerer Zeit hat die Forschung herausgearbeitet, dass zwischen den Freiburger Professoren um Constantin von Dietze, Walter Eucken, Adolf Lampe oder etwa Böhm und Carl Friedrich Goerdeler und dem Kreisauer Kreis während des Zweiten Weltkriegs zahlreiche Kontakte bestanden und dass die Freiburger sogar die wirtschaftspolitischen Planungen des 20. Juli mitbeeinflusst hatten.
Für die 1950er Jahre und 1960er Jahre hat die Forschung zur Geschichte der CDU von einer „eindrucksvollen Liste“ ehemaliger Kräfte des Widerstands gesprochen (Tilman Mayer). Vornehmlich waren es ehemalige Mitglieder und Amtsträger des Zentrums, Vertreter der christlichen Gewerkschaftsbewegung, Mitglieder des Kreisauer Kreises, Angehörige der Bekennenden Kirche und Personen mit Bezug zum konservativen und militärischen Widerstand, die nach 1945 den Weg in die CDU fanden. Der prominenteste Vertreter dieser letzten Gruppe war sicherlich der spätere Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier, auch er ein „Kreisauer“. Gerstenmaier hielt sich in der Nacht vom 20. zum 21. Juli 1944 im Bendlerblock auf, um die Verschwörer um Claus Schenk Graf von Stauffenberg zu unterstützen. Er wurde verhaftet und vor dem Volksgerichtshof angeklagt, aufgrund seiner geschickten Verteidigung jedoch „nur“ zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt. Das Kriegsende erlebte er in einer Haftanstalt in Bayreuth, wo er von den Amerikanern befreit wurde.
Politischer Einfluss der Widerständler in der CDU
Trotz der großen Zahl von überlebenden Angehörigen des Widerstands, die 1945 den Weg in die CDU fanden, wird das Bild, das die Geschichtsschreibung zeichnet, von dem Eindruck bestimmt, dass der politische Einfluss dieses Personenkreises gering war. Viele ehemalige NS-Gegner selbst beklagten schon bald, dass die Pläne, die für die Zeit nach dem Ende der Diktatur entwickelt worden waren, nunmehr kaum eine Rolle spielten. Zum Teil herrschte Enttäuschung unter den Überlebenden vor, wobei diese mitunter auch biografisch bedingt gewesen sein mag, wenn es zum Beispiel nicht gelang, Ämter und Positionen zu erlangen. Bezeichnend sind etwa Äußerungen von Theodor Steltzer, der 1964 bei einer Rede zur Erinnerung an das Attentat vom 20. Juli 1944 in Berlin äußerte, dass sich die Hoffnungen der ehemaligen Kreisauer und der Beteiligten des 20. Juli 1944 nicht erfüllt hätten. Eine „politische und gesellschaftliche Neuordnung“ sowie „die geistigen Wandlungen, die ihr vorausgehen mussten“, sei ausgeblieben. Geschuldet sei dies der Politik Adenauers, denn dessen „stockkonservative Lebensauffassung“ und sein „durch und durch bürgerliches Weltbild“ seien nicht hilfreich gewesen.
Ähnliche Kritik an der Politik Adenauers äußersten weitere ehemalige Gegner und Verfolgte der NS-Diktatur wie Walter Dirks, Mitgründer CDU in Frankfurt am Main. Dirks sprach 1950 in den Frankfurter Heften vom angeblich „restaurativen Charakter der Epoche“. Einige Jahre später äußerte auch Otto Heinrich von der Gablentz in einer Rede vor Studenten in Berlin am 17. Juni 1959 davon, die bundesrepublikanische Gesellschaft sei „restaurativ“.
Die zeithistorische Forschung hat das politisch motivierte Urteil, wonach restaurative Tendenzen den politischen Aufbau der Bundesrepublik bestimmt hatten, mittlerweile ad acta gelegt. Es stimmt jedoch, dass manche Ideen, für die ein Teil der ehemaligen Widerständler eintrat, nicht umgesetzt wurden.
Dies betrifft vor allem Sozialisierungsforderungen, die unmittelbar nach dem Krieg innerhalb der CDU diskutiert wurden. Die Kölner Leitsätze vom 1. Juli 1945 etwa beinhalteten die Forderung nach einem „wahren christlichen Sozialismus“ – eine Formulierung, an der man den Einfluss der christlichen Gewerkschaftler auf die Leitsätze ablesen kann. In Berlin propagierte Jakob Kaiser einen „dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus“. Nach seiner Vorstellung sollte ein blockfreies Deutschland zukünftig eine Brücke zwischen den Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung in Ost und West bilden. Wie unrealistisch dieser Plan war, zeigte sich jedoch recht schnell und schließlich wurde Kaiser wegen der Unvereinbarkeit seiner Ideen mit den politischen Vorgaben der Sowjets und der von Moskau dominierten SED am 20. Dezember 1947 von den CDU-Landesvorsitzenden im östlichen Teil Deutschlands als Zonenvorstand entlassen. Neben Kaiser brachte auch Otto Heinrich von der Gablentz die Vorstellung eines Mittelwegs zwischen Liberalismus und Sozialismus als politisches Konzept in die Berliner CDU ein. Damit knüpfte Gablentz, wie Wilhelm Ernst Winterhager bemerkt hat, direkt an die Ideen des Kreisauer Kreises an.
Die CDU vollzog jedoch spätestens mit der Verabschiedung der Düsseldorfer Leitsätze vom 15. Juli 1949 eine Abkehr von den plan- und gemeinwirtschaftlichen Gedankenspielen der unmittelbaren Nachkriegszeit. Unter der Führung Adenauers entwickelte sich die Partei in wenigen Jahren zu einer liberal-konservativen Kraft, die sozialistischen Tendenzen und der Vorstellung eines „dritten Weges“ zwischen den Systemen eine klare Absage erteilte. Stattdessen etablierte sie den Ordnungsentwurf der „Sozialen Marktwirtschaft“ als wirtschaftspolitisches Leitkonzept. Ludwig Erhard war es, der die politische Umsetzung der Sozialen Marktwirtschaft verantwortete, die theoretischen Vorarbeiten für diesen Kurs hatten jedoch, wie oben bereits angesprochen, die Vertreter der ordoliberalen „Freiburger Schule“ von Juristen und Ökonomen um Constantin von Dietze, Walter Eucken, Adolf Lampe, Franz Böhm und Hans Großmann-Doerth geleistet. Für unseren Zusammenhang ist es wichtig zu sehen, dass die Theoretiker des Ordoliberalismus, überwiegend Protestanten und Angehörige der Bekennenden Kirche, ihre Arbeiten ebenfalls als Gegenentwurf zur NS-Ideologie entwickelt hatten. Wirtschaftliche und politische Freiheit hingen für sie unabdingbar zusammen: „Bemerkenswert ist, dass die Volkswirtschaftler sich nicht durch das verbreitete planwirtschaftliche Ordnungsdenken beeindrucken ließen und selbst dort, wo sie kriegswirtschaftliche Entscheidungsstrukturen hinnahmen, nicht von dem Gedanken abließen, die freie Wettbewerbswirtschaft sei Grundlage politischer Freiheit. Machtbeschränkung - dieses Ziel wurde zur verbindenden Idee und zur verpflichtenden Zukunftsvision.“ (Peter Steinbach) Angesicht der herausragenden Bedeutung des Ordoliberalismus für die Politik der CDU muss die oftmals vorgetragene Behauptung, die in Opposition zur NS-Diktatur entwickelten Pläne hätten nach 1945 keine Rolle mehr gespielt, eindeutig relativiert werden.
Überdies waren längst nicht alle, die am Widerstand beteiligt und in der Bundesrepublik politisch tätig waren, der Ansicht, dass das Erbe der NS-Gegner nach 1945 zu wenig Beachtung gefunden hatte. Im Gegenteil: Eugen Gerstenmaier etwa, der Präsident des Deutschen Bundestags von 1954 bis 1969, war ein entschiedener Befürworter von Adenauers Politik. Er äußerte sich in zahlreichen Reden und Schriften zu der Frage, in welcher Form das Erbe des Widerstands in der Bundesrepublik eine Rolle spielte. Zwei Aspekte hob er dabei besonders hervor: Zum einen hat er mehrfach betont, dass „die Überwindung des übersteigerten Nationalismus“ und „die Schaffung einer deutschen Verfassung im Rahmen eines europäischen Bundespakts“ ein Vermächtnis der Ideen des Kreisauer Kreises war. Damit ist nicht gesagt, dass Konrad Adenauers Politik der europäischen Integration direkt auf den Plänen des Widerstands aufbaute – tatsächlich ist überhaupt nicht bekannt, ob Adenauer unmittelbar nach dem Krieg überhaupt Kenntnis von den Europaplänen hatte, die in den Widerstandsbewegungen während des Zweiten Weltkriegs in Deutschland aber auch in zahlreichen Ländern im europäischen Ausland von verschiedenen politischen Gruppierungen entwickelt worden waren. Es kann jedoch kein Zweifel daran bestehen, dass die Pläne zur wirtschaftlichen und politischen Verflechtung der Bundesrepublik, die Adenauer zusammen mit seinen Partnern aus Frankreich und Italien Robert Schuman und Alcide De Gasperi realisierte, mit der grundsätzlichen Zielsetzung vieler Gegner des NS-Regimes übereinstimmte. Daneben war, wenn es um das Erbe des Widerstands ging, für Gerstenmaier ein weiterer Aspekt essenziell: „Die Wiederherstellung des freiheitlichen Rechtsstaates und seiner entschlossenen Verteidigung gegen seine inneren und äußeren Feinde“ sei das Vermächtnis des 20. Juli 1944. Dies äußerte er beispielsweise bei seiner Rede zum 40. Jahrestag des Attentats in der Berliner Kongresshalle im Juli 1979. „Der deutsche Widerstand hat von Anfang bis zu Ende immer nur an das ganze Deutschland gedacht. Deshalb gehört zu seinem Vermächtnis auch die uneingeschränkte Pflicht, den einen freiheitlichen Rechtsstaat für alle Deutschen zu verfechten.“ Hierin liege auch „der Sinnzusammenhang zwischen dem 20. Juli und dem 17. Juni“, also dem Tag des Volksaufstands gegen Bevormundung und Repression in der DDR. Auch diese gedankliche Brücke, die Gerstenmaier errichtete, entsprach unbedingt den Grundsätzen von Adenauers Politik und der Politik der CDU bis zur Beendigung der deutschen Teilung 1990, denn sie zielte stets auf den Erhalt und die Erlangung von Freiheitsrechten für alle Deutschen.
Die Erinnerung an den Widerstand und die Traditionsbildung der CDU
„Wenn man die kurze Zeit nimmt, seit der die Union besteht, so ist es geradezu ein Wunder, wie wir auf einmal da sind, groß und mächtig geworden sind, um eine neue große Partei ins Leben zu rufen. In letzter Linie ist diese Partei in den Konzentrationslagern geboren worden. Dort hat man erkannt, wie nahe wir menschlich oft beieinander stehen und wie nur durch falsche politische Orientierung eine richtige politische Zusammenarbeit sich seither nicht hat erledigen lassen. (Josef Andre bei der ersten Parteitagung der CDU der sowjetisch besetzten Zone und Berlins am 16. Juni 1946 (ACDP, 07-011-2177, S. 12).
Schon in den ersten Ansätzen einer Erzählung über die CDU, bzw. dann in der parteinahen Geschichtsschreibung spielte die Erinnerung an die gemeinsame Erfahrung der Gegnerschaft gegenüber der Tyrannei des Nationalsozialismus eine bedeutsame Rolle. Die CDU verdanke „ihren Ursprung echter politischer Neubesinnung, geboren im Schmelztiegel der Katastrophe von 1945“, verlautete der Berliner Politiker Robert Tillmanns beim 2. CDU-Bundesparteitag im Oktober 1951 in Karlsruhe. Vereint werde die Partei von dem Willen „einen neuen geistigen Wurzelgrund unseres gesellschaftlichen Lebens und seines Ordnungsgefüges zu finden.“ Damit trete die CDU das „Erbe des Widerstandes“ an und verwalte „das Erbe der Männer des 20. Juli 1944, die ja doch aus christlicher Gewissenspflicht, durch die dämonischen Mächte des Staates in einen furchtbaren Konflikt getrieben, gehandelt haben.“ Leo Schwering, während des Krieges selbst Mitglied des oppositionellen Gesprächskreises im Kölner Kolpinghaus, sprach in seiner Darstellung der Parteigeschichte (erschienen 1946 bzw. 1952) vom „Katakombengeist“ unter den CDU-Gründern, der sich in „den Kreisen und KZs“ geformt hatte und nun alles „überspannte und umklammerte“. Seine Gedanken bezogen sich vor allem auf die politische Zusammenarbeit evangelischer und katholischer Christen, die vor 1933 in dieser Form nicht zustande gekommen war. Die CDU-Politiker der „ersten Stunde“ sahen dies als eine der Ursachen für das Scheitern der Weimarer Republik an.
Spätere Generationen von CDU-Politikern, aber auch die parteinahe Geschichtsschreibung knüpften stets an solche Erzählungen aus der Gründungszeit der CDU an, z.B. Heinrich Krone beim Bundesparteitag im Mai 1957 in Hamburg oder Josef-Hermann Dufhues beim Bundesparteitag im März 1964 in Hannover. Dufhues Rede in Hannover widmete sich im Kern der Frage des Wertefundaments der CDU angesichts der damals aktuellen politischen Probleme. Dabei wurde auch deutlich, dass die Erinnerung an den Geist der unmittelbaren Nachkriegszeit dazu diente, dieses Fundament neu zu bekräftigen: „Politik muß auch in unserer Zeit verpflichtende Grundsätze, eine geistige und sittliche Mitte haben. Dazu stehen wir heute, dazu morgen wie seit 1945. Und in diesem Geiste wollen wir auch weiterhin unsere Arbeit tun.“ Noch beim Vereinigungsparteitag der CDU in Ost und West vom 1. bis 2. Oktober 1990 in Leipzig erinnerte der Parteivorsitzende Helmut Kohl an Andreas Hermes und Jakob Kaiser und deren Beitrag zur Gründung der CDU in Berlin 1945. „Die CDU ist ein Symbol deutschen Neuanfangs nach 1945. Sie ist aber auch und nicht zuletzt eine Partei, deren Wurzeln tief in den deutschen Widerstand gegen die totalitäre Nazi-Barbarei hineinreichen. Sie ist auch aus dem Kreis des Widerstands gegen Unterdrückung und Unfreiheit eines verbrecherischen Regimes geboren. Sie wurde von dem festen Willen beseelt, nie wieder in Deutschland Diktatur oder Krieg zuzulassen.“ Damit spann auch Kohl, wie vor ihm schon Eugen Gerstenmaier, den Bogen zwischen dem Zeitpunkt der deutschen Teilung und der Wiedererlangung der staatlichen Einheit. Für den damit benannten Zeitraum, also die Jahre von 1945 bis 1990, hatte die Erinnerung an den Widerstand der Jahre 1933 bis 1945 in der CDU stets eine Komponente, die über eine rein historisierende Betrachtung deutlich hinausgeht, da sie ein unmittelbares Miterleben bzw. -gestalten der deutschen Geschichte einschließt. Ob dies in der Generation, die auf Kohl und seine Mitstreiter folgte, nach wie vor der Fall war, ist eine offene Frage.
Quellen und Literatur:
- Brockhausen, Martin: „Geboren im Widerstand“. Zur Erinnerung an den Nationalsozialismus in der CDU 1950–1990, in: Andreas Holzem/Christoph Holzapfel (Hg.): Zwischen Kriegs- und Diktaturerfahrung. Katholizismus und Protestantismus in der Nachkriegszeit. Stuttgart 2005, S. 203–235.
- Buchstab, Günter/ Kaff, Brigitte/ Kleinmann, Hans-Otto: Christliche Demokraten im Widerstand gegen Hitler. Aus Verfolgung und Widerstand gegen Hitler. Aus Verfolgung und Widerstand zur Union. Freiburg im Breisgau 2004.
- Europa-Föderationspläne der Widerstandsbewegungen 1940–1945. Eine Dokumentation. Gesammelt und eingeleitet von Walter Lipgens. München 1968.
- Gerstenmaier, Eugen: Das Vermächtnis des 20. Juli ist der Rechtsstaat, in: Die Welt, Nr. 165, 19. Juli 1977.
- Maier, Hans (Hg.): Die Freiburger Kreise. Akademischer Widerstand und Soziale Marktwirtschaft. Paderborn 2014.
- Mayer, Tilman: Christliche Demokraten aus dem Widerstand in der Politik der Bundesrepublik, in: Scholtyseck, Joachim/ Schröder, Stephen (Hg.), Die Überlebenden des deutschen Widerstands und ihre Bedeutung für Nachkriegsdeutschland. Münster 2005, S. 33–39.
- Michel, Judith: Berlin, Zellengefängnis Lehrter Straße, in: Michael Borchard/ Judith Michel (Hg.), Erinnerungsorte der Christlichen Demokratie in Deutschland. Berlin 2020, S. 36–43.
- Scholtyseck, Joachim, Schröder, Stephen (Hg.): Die Überlebenden des deutschen Widerstands und ihre Bedeutung für Nachkriegsdeutschland. Münster 2005.
- Schwarz, Hans-Peter: Adenauer und Europa, in: VfZ, Jahrgang 27 (1979), Heft 4, S. 471–523.
- Schwering, Leo: Vorgeschichte und Entstehung der CDU. Köln 1952.
- Steinbach, Peter/ Tuchel, Johannes (Hg.): Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur 1933–1945. Berlin 2004.
- Steltzer, Theodor: Reden, Ansprachen, Gedanken 1945-1947. Neumünster 1986.
- Tischner, Wolfgang: Das Erbe von Zentrum und Widerstand, in: Norbert Lammert (Hg.), Handbuch zur Geschichte der CDU. Grundlagen, Entwicklungen, Positionen. Darmstadt 2022, S. 39–57.
- Von Voss, Rüdiger: Der deutsche Widerstand und die CDU. Reden, Stellungnahmen, Erklärungen (1954-1978). Bonn 1979.
- Winterhager, Ernst: Enttäuschte Hoffnungen: Zum Anteil der Überlebenden des 20. Juli 1944 am politischen Neuaufbau in Westdeutschland nach 1945, in: Gerd R. Ueberschär (Hrsg.), Der 20. Juli 1944. Bewertung und Rezeption des deutschen Widerstands gegen das NS-Regime. Köln 1994, S. 250–262.