Die Übertreibungen und Provokationen, die mühelos aus dem Mund von Präsident Trump fließen, können leicht ansteckend wirken. Diejenigen, an die sie gerichtet sind, übertreiben ihrerseits gern die Radikalität der von ihm ins Werk gesetzten Veränderungen. Bevor wir uns über die Umkehrung der Allianzen („renversement des alliances“) äußern, die diplomatische Gespräche zwischen Russen und Amerikanern nach sich zögen, sollten wir uns daran erinnern, dass Amerika sich schon seit langer Zeit von Europa entfernt.
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Die Hinwendung nach Asien, die Forderung nach einer massiven Erhöhung der europäischen Militärausgaben, selbst das Streben nach einem „Reset” mit Russland – das alles steht schon seit vielen Jahren auf der Tagesordnung. Und was den Stil anbetrifft, so haben wir offensichtlich vergessen, wie einige europäische Länder – vor allem Frankreich – vor zwanzig Jahren von den amerikanischen Neokonservativen behandelt wurden. Der beste Weg, sich nicht mit Trump gemein zu machen, ist es, sich zunächst einmal in Nüchternheit zu üben.
Eine Revolte der Nation
Die Vereinigten Staaten von Amerika wurden von Europäern gegründet, die aus Europa flohen, um ihren religiösen Glauben frei ausüben zu können und um ihre Fähigkeiten zu entfalten und ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Das Selbstbewusstsein der Amerikaner fußt auf der Überzeugung, den Europäern moralisch überlegen zu sein – eine Überlegenheit, die sich in ihrem überragenden Wohlstand und der beispiellosen Stärke der Vereinigten Staaten manifestiert. Diese kulturelle Tatsache wurde jedoch durch die geschichtliche Entwicklung abgeschwächt oder teilweise korrigiert, vor allem durch die entscheidende Beteiligung der Amerikaner an den beiden Weltkriegen auf europäischem Boden. Diese Kriege besiegelten einerseits die amerikanische Vorherrschaft, hatten aber andererseits zur Folge, dass Amerikaner und Europäer – letztere in wechselnder Besetzung – ein Jahrhundert lang „die Alliierten” waren. Der Tonfall der Rede von JD Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz am 14. Februar 2025 , wie auch immer man deren Inhalt bewerten mag, zeigte aber, dass dieses Bündnisgefühl völlig aus dem Bewusstsein dieser jüngeren amerikanischen Generation verschwunden ist.
Man kann die trumpistische Bewegung als eine Revolte der amerikanischen Nation gegen das amerikanische Imperium verstehen. Ganze Teile dieser Nation verarmten durch die Deindustrialisierung, wurden durch die Geißel der Opioide und die allgemeine Verschlechterung der öffentlichen Gesundheit beschädigt. Die Nation wurde von einem aggressiven Progressismus tief gespalten, der die gesamte amerikanische Geschichte ablehnt. Trotz dieser Schwächung sollte sie ihren imperialen Verpflichtungen nachkommen. Diese aber sind kostspielig, denn sie umfassen heute auch humanitäre Aufgaben. Die Aufspaltung von Nation und Imperium bildet die Grundlage von Donald Trumps These: die „Welt”, Freund wie Feind, lebt auf Kosten der Vereinigten Staaten. Die Zahlen, die er der Welt entgegenschleudert, sind aus der Luft gegriffene Symbole, die die Diagnose untermauern sollen, Amerika verfüge nicht mehr über die Mittel, um ständig Kriege zu führen oder ganz einfach sein Imperium zu erhalten.
Ein dringliches Motiv
Wie also den Rückzug, ja die Schrumpfung des Landes, das die Weltgeschichte seit mehr als einem Jahrhundert dominiert hat, führen? Jede Handlung, selbst die schäbigste, soll noch als eine Art Sieg wahrgenommen werden, oder zumindest als ein Beweis der Stärke oder ein vorteilhafter Deal. Die politische Frage par excellence: Wer ist mein Freund, wer mein Feind? verschwimmt, denn es ist natürlich einfacher, die Last des Rückzugs dem Freund aufzubürden als dem Feind. Zwar besteht das amerikanische Engagement in Europa am längsten und ist am breitesten aufgestellt, aber – ich erwähnte es bereits – schon seit dreißig Jahren wird es nicht mehr als sinnvolles Engagement, sondern eher als Bürde empfunden. Der Krieg in der Ukraine, nachdem er zunächst ein abermaliges Engagement der Amerikaner erzwungen hatte, das aber bei aller Kostenintensität zurückhaltend blieb, verwandelt sich in ein dringliches Motiv und eine willkommene Gelegenheit zum Ausstieg. Die Bürde möchte man loswerden, also muss man auf die eine oder andere Weise den Sieg erklären, oder jedenfalls so agieren, dass Sieg oder Niederlage, Freund oder Feind im Gewirr der undurchdringlichen Deals nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind.
Es geht mir nicht darum, Donald Trumps Politik zu rechtfertigen, wie sich im Folgenden zeigen wird, sondern die Rationalität herauszuarbeiten, die ihr teilweise zugrunde liegt. Wir wissen nicht, was der amerikanische Präsident morgen oder übermorgen sagen wird, aber es ist kaum vorstellbar, wie ein amerikanisches Imperium – selbst ein reduziertes – eine tatsächliche Umkehrung der Allianzen überleben würde. Eines steht jedenfalls fest: Wir können nicht mehr auf den amerikanischen Schutz zählen, zu einer Zeit, in der die russische Aggression diesen erst recht erforderlich macht. Und was heißt „wir”? Wir Europäer natürlich, aber was bedeutet das?
Einige fühlen sich durch Russland nicht bedroht. Auf der anderen Seite gibt es aber die, die sich extrem bedroht fühlen und die Hand von Uncle Sam nicht loslassen wollen, auch wenn er sich neuerdings in Onkel Dagobert verwandelt hat. Die russische Bedrohung schweißt uns zusammen, aber sie spaltet uns auch.
Die Invasion der Ukraine war eine brutale und massive Aggression, von langer Hand geplant (tatsächlich schon 2014 begonnen), kaltblütig durchgezogen und seit drei Jahren mit allen Mitteln (Atomwaffen ausgenommen) geführt. Selbst wenn niemand von sich behaupten kann, die endgültigen Ziele des russischen Präsidenten zu kennen, scheint es doch in jedem Fall klar, dass er vorhat, die Ukraine als real existierende Nation auszulöschen. Russische Politiker sprechen verächtlich von der „sogenannten Ukraine” und stellen heuchlerisch die Frage, ob es irgendwann „ein Land namens Ukraine noch geben wird”. Drei Jahre Krieg haben auf der einen Seite den Mut, die Standhaftigkeit und die Kompetenz der Ukrainer zu Tage gefördert, auf der anderen Seite hingegen die Schwächen der für ihre Neigung zur Grausamkeit bekannten russischen Armee, die trotz ihrer zahlenmäßigen und materialbedingten Überlegenheit nur geringfügig und um den Preis enormer Verluste vorankommt.
Russlands Schwäche
Diese relative Schwäche Russlands scheint mir der bedeutendste strategische Faktor zu sein, aufgrund dessen wir ohne Panik der bevorstehenden Entkoppelung Amerikas von den europäischen Ländern ins Auge sehen können. Welche Kriegsziele sollten die Ukraine und ihre Verbündeten heute verfolgen? Es kann nicht darum gehen, die russischen Stellungen in Grund und Boden zu rammen und mit Gewalt die besetzten Gebiete zurückzuerobern, sondern der russischen Aggression eine deutliche Niederlage beizubringen. Wenn wir durch unsere Hilfe den Ukrainern ermöglichen, die Frontlinie so lange wie nötig zu verteidigen, so ist das gleichbedeutend mit einem Sieg; angesichts des Mitteleinsatzes und der erlittenen Verluste würde die Unfähigkeit, voranzukommen, für Russland schon eine schwere Niederlage bedeuten.
Tatsächlich würde das russische Regime wohl nur schwer ein Scheitern seines existentiell wichtigen Plans überleben, den es seit so vielen Jahren verfolgt und für den es alle Kräfte des Landes mobilisiert. Zumindest sähe es sich gezwungen, seine Ziele und Mittel vollständig zu überdenken. Sollte demnächst ein Waffenstillstand in Kraft treten, so würde dieser die ukrainische Gesellschaft tief spalten; mit Sicherheit entstünde eine „Friedenspartei”, die Wladimir Putin jene „Neutralisierung” der Ukraine anböte, die er noch nicht mit Waffengewalt erreicht hat. Es bedarf keiner großen Vorstellungskraft, um sich auszumalen, welche Folgen eine verstümmelte, gespaltene Ukraine, die den weltlichen und geistigen „Diensten” Russlands ausgeliefert würde, für Europa hätte.
Die wichtigste Erkenntnis für die Bürger und Regierungen Europas scheint mir, und deswegen wiederhole ich es, dass und wie sehr die Ereignisse der vergangenen drei Jahre Russlands Schwäche beweisen – und nicht seine Stärke. Es ist heute schwächer als vor dem 24. Februar 2022. Zwar besetzt es 20 Prozent des ukrainischen Territoriums, aber Finnland und Schweden sind der NATO beigetreten, Polen sowie die baltischen und skandinavischen Länder stehen Gewehr bei Fuß, Frankreich und Großbritannien bauen ihre historische Allianz wieder auf, und selbst Deutschland scheint willens zu sein, die Notwendigkeit einer europäischen Verteidigung ins Auge zu fassen. Wir können die erforderlichen Mittel herstellen, um den Ukrainern zu einem siegreichen Widerstand zu verhelfen, wenn wir uns nicht durch die Kehrtwende unserer amerikanischen Verbündeten entmutigen lassen. Im Übrigen werden Letztere sicher nicht den europäischen Ländern, die seit langem in das militärische System der Vereinigten Staaten eingebunden sind, die versprochenen Waffen verweigern. Kurz gesagt, die Unterstützung der Ukraine verlangt zwar beträchtliche materielle und moralische Anstrengungen, aber als Bündnis können unsere Nationen sie tragen, unter der Bedingung natürlich, dass wir alle unsere materiellen und geistigen Ressourcen mobilisieren.
Moralische Kohärenz
Die Europäische Union wurde unter der Annahme aufgebaut, es gebe einen endgültigen Frieden, der nicht verteidigt werden müsse. In einer ersten Phase verließ man sich auf die amerikanische Garantie. Später dann, und in immer stärkerem Maße, fand man zusammen unter der grandiosen Idee eines Imperiums des Rechts, das sich durch seine Ausstrahlung selbst unendlich ausdehnen und so Europa von jenem alten barbarischen Relikt der Nation befreien sollte. Das zu lieben und zu verteidigen, was einem gehört, vor allem wenn es das „eigene Land” ist, wird von der herrschenden Meinung als Quelle aller Ungerechtigkeit angesehen. Diese Ideologisierung Europas ruft aber bei einem großen Teil der europäischen Bevölkerung tiefes Unbehagen hervor, was wiederum zur Folge hat, dass einige Europäer eine unangemessene Sympathie für das Regime Wladimir Putins hegen.
Die Widersprüchlichkeiten in der öffentlichen Meinung verdichten sich bisweilen zu einem deprimierenden Schauspiel. In Frankreich gibt es einerseits unter den leidenschaftlichen Unterstützern der ukrainischen Unabhängigkeit so manche, die an die Unabhängigkeit Frankreichs keinen Gedanken verschwenden. Andererseits findet eine nicht geringe Anzahl derer, die Ruhm und Herrlichkeit Frankreichs besingen, auch Gründe, ein russisches Regime zu bewundern, das Angst und Schrecken verbreitet und das vor keiner Grausamkeit und keiner Lüge zurückschreckt. Europa muss seine moralische Kohärenz wiederfinden, nicht, indem es von „europäischen Streitkräften” träumt, sondern indem es die nationale und die europäische Zugehörigkeit miteinander wieder verknüpft.
Es gibt keine funktionsfähige menschliche Ordnung, wenn man Gerechtigkeit und Macht nicht zusammenbringen kann. Nun fand diese Verknüpfung in Europa im nationalen Rahmen statt, je nach Jahrhundert und Regierungsform in unterschiedlicher Weise. Hierin liegt die Ironie der europäischen Einigung. Aus der Sicht der Hellsichtigsten war diese Integration dazu gedacht, die Schwäche der Nationen in einer Zeit zu überwinden, die Raymond Aron als „Zeitalter der Imperien” bezeichnete. Tatsächlich stellte sich aber heraus, dass das Gebilde Europa in seinem innersten und stärksten Trieb auf dem Postulat beruhte, es sei möglich und wünschenswert, ausschließlich nach den Regeln der Gerechtigkeit zu leben, ohne Macht damit zu verbinden. Die Verknüpfung von Macht und Gerechtigkeit war in Europa vorher immer durch die Form der Nation sichergestellt worden. Folglich glaubte man, die Auslöschung der Nation führe zur reinen Gerechtigkeit, das heißt, zu einer von keiner Grenze geteilten Menschheit, die nur den Menschen an sich kenne.
Anstatt weiterhin ein Konzert der Nationen zu sein, sollte Europa am Ende zum Land des Menschen an sich werden, in dem es zur Regelung des menschlichen Zusammenlebens genügte, die Flüsse von Menschen, Waren und Ideen zu verwalten. Seltsamerweise entstand dieser Traum von einer Welt ohne Grenzen in Ländern, die – wie Frankreich – ihre kollektive Form größtenteils der Art und Weise verdanken, wie sie ihre Grenzen festgelegt und wie sie innerhalb dieser Grenzen gelebt hatten. Wie auch immer, die Form des gemeinschaftlichen, geistigen und materiellen Lebens muss ständig neu produziert und verteidigt werden, manchmal auch unter Notfallbedingungen. Der Krieg in der Ukraine verdeutlicht uns diese Notwendigkeit und sollte somit unseren müßigen Streitereien ein Ende setzen.
Die Frage: Was ist Europa? zwingt uns in der Gegenwart zu der ebenso praktischen wie politischen Antwort: Europa ist das, was wir verteidigen, indem wir die Ukraine verteidigen. Wenn es uns gelingt, der Ukraine zu helfen und Russland eine demütigende Niederlage beizubringen, tragen wir dazu bei, die Unabhängigkeit einer gleichzeitig jungen und alten europäischen Nation zu festigen, sowie auch unsere eigene. Gleichzeitig werden wir Russland einen großen Dienst erwiesen haben, indem wir es zwingen, auf ein sinnloses, für seine Nachbarn zerstörerisches und für sich selbst aufreibendes und unwürdiges Abenteuer zu verzichten.
Pierre Manent ist Philosoph und emeritierter Directeur d'études am Centre d'études sociologiques et politiques Raymond Aron der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris.
Der Artikel erschien zuerst am 3. März 2025 in Le Figaro. Wir bedanken uns bei der Redaktion für die freundliche Genehmigung zur Publikation der deutschen Fassung auf kas.de.
Übersetzung: Brigitte Graf-Bunz
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