Asset-Herausgeber

ETH-Bibliothek Zürich, Thomas-Mann-Archiv / Fotograf: Unbekannt / TMA_005
Essay

Poeta politicus: Thomas Mann zum 150. Geburtstag

von Prof. Dr. Dr. h.c. Dieter Borchmeyer

Idee und Kunst des Konservativismus

Dieter Borchmeyer, der ehemalige Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, legt den Konservativismus in Thomas Manns Essay „Betrachtungen eines Unpolitischen“ frei. Er zeigt, dass Thomas Manns Demokratieverständnis nicht vom Standpunkt eines Ideologen zu begreifen ist. Ironie und Skepsis, argumentiert er, sind für den Schriftsteller entscheidende Merkmale kluger Literatur und Politik.

Asset-Herausgeber

Thomas Mann, ca. 1910 in München. ETH-Bibliothek Zürich, Thomas-Mann-Archiv / Fotograf: Unbekannt / TMA_005
Thomas Mann, ca. 1910 in München.

Kein Hauptwerk von Thomas Mann, dessen 150. Geburtstag die literarische Welt am 6. Juni 2025 feiert, ist so ungelesen und doch so umstritten wie sein monumentaler Essay Betrachtungen eines Unpolitischen (1918). Über keines seiner Werke sind so viele Klischees, Vorurteile und Missverständnisse im Umlauf. Der Grundirrtum leider der meisten (Nicht-) Leser des Essays besteht darin, einzelne Zitate aus ihrem argumentativen Zusammenhang herauszulösen und auf die Gesamtintention hochzurechnen. Da wird dann Thomas Mann zum rückschrittlichen Verteidiger des Wilhelminismus, zum Nationalisten und Antidemokraten, der freilich aufgrund der Nachkriegserfahrungen eine demokratische Wende in seinem politischen Denken vollzogen habe.

 

Interessiert an Neuerscheinungen zu historischen Ereignissen und Entwicklungen, die auf  unserem Public-History-Portal GESCHICHTSBEWUSST erscheinen? Hier können Sie sich für unseren E-Mail-Verteiler anmelden.

 

Man kann für die negative Etikettierung des Verfassers der Betrachtungen leicht Belege finden, ebenso leicht jedoch solche, die sie widerlegen. Nationalist? Wie vereinbart sich das mit Thomas Manns Feststellung, der „Friede Europas“ könne nur von einem „übernationalen Volk“ wie dem deutschen ausgehen, „das die höchsten universalistischen Überlieferungen, die reichste kosmopolitische Begabung, das tiefste Gefühl europäischer Verantwortlichkeit sein Eigen nennt“ (so im Kapitel „Gegen Recht und Wahrheit“). Oder: „Wir sind und bleiben ein weltbürgerliches, welthistorisches Volk im bevorzugten Sinne und können um deswillen kein dummstolzes, tierisch zusammengeschartes und verklettetes Volk sein“ (so im Kapitel „Politik“). Kann man sich antinationalistischer ausdrücken? Und damit nicht genug. Im Kapitel „Von der Tugend“ fragt Thomas Mann gar: „Und die nationale Idee? Wer wollte mit ganz fester Stimme der Behauptung widersprechen, daß sie in diesem Kriege verbrennt“.

 

Ein literarisches Werk

Gewiss, wer mit bösem Blick die Betrachtungen durchsucht, wird auch anders klingende Äußerungen finden. Wie ist das möglich? Man wird dem Essay niemals gerecht werden, wenn man nicht beachtet, dass er nach den Worten Thomas Manns in der ‚Vorrede‘ der Betrachtungen ein ‚Künstlerwerk‘ und nicht der Traktat eines Politologen oder Kulturtheoretikers ist, wenn man also nicht ihre spezifisch literarische Argumentationsstruktur be­rücksichtigt und die Tatsache außer Acht lässt, dass sie ein work in progress sind, dessen Perspektiven sich in ihrer dreijährigen Entstehungszeit nicht unwesentlich verändert haben. Die Betrachtungen sind am Ende nicht dieselben wie am Anfang, sperren sich gegen eine gewissermaßen simultan erfassbare systematische Ordnung, müssen vielmehr sukzessiv wahrgenommen werden.

Thomas Mann hat auf die literarische Argumenta­tionsstruktur seines Essays innerhalb desselben wiederholt hingewiesen, den Leser geradezu davor gewarnt, jedes Argument, dessen er sich bedient, für bare Münze zu nehmen, vielmehr die durchgespielten Positio­nen so aufzu­nehmen wie die Äußerungen verschiedener fik­tiver Perso­nen, aus deren Kontrapunktik erst die Intention des Ganzen zu erschließen ist. „Als Dichter hast du ein Recht“, zitiert er im Kapitel ‚Politik‘ seiner Betrachtungen August Strindberg, „mit Gedanken zu spie­len, mit Standpunkten Versuche anzustellen, aber ohne dich an etwas zu binden“. Der Dichter darf nach Strindberg „stereoskopisch sehen“, muss immer verschiedene Standpunkte gelten las­sen. Tho­mas Mann be­ruft sich auf Arthur Schopenhauer, demzufolge in den Werken Shake­spea­res oder Goethes „jede Person, und wäre sie der Teufel selbst, wäh­rend sie da­steht und redet, recht behält; weil sie so objektiv aufgefasst ist, daß wir in ihr Interesse gezogen und zur Teil­nahme an ihr gezwungen werden“. Auch wenn sich der Dichter auf das Feld der nicht-fik­tiven Meinungsäuße­rung begibt, kann er das stereoskopische Sehen nicht lassen, wie Thomas Mann in Bezug auf seine eigene politi­sche Essayistik bekennt: der Künstler ist nun einmal „nicht gewohnt […], di­rekt und auf eigene Verantwortung zu reden“, son­dern „die Menschen, die Dinge reden zu lassen, […] Dia­lektik zu treiben, den, der gerade spricht, immer recht haben zu lassen […].“

 

Das Konservative trägt seinen Gegensatz in sich

Auf diese Warnung bezieht sich Thomas Mann noch einmal in der ‚Vorrede‘, die entstehungsgeschichtlich eine Nachrede ist: „Es redet hier einer, der, wie es im Texte heißt, nicht gewohnt ist, zu reden, sondern reden zu lassen, Menschen und Dinge, und der also reden, läßt‘ auch da noch, wo er unmittelbar selber zu reden scheint und meint.“ Diese Meinung ist also sehr wohl von wahrer Intention zu unterscheiden, erweist sich nicht selten als Stellungnahme eines „unzuverlässigen Erzählers“. Immer wieder verwendet Thomas Mann in diesem Zusammenhang den Begriff „Dialektik“. Für diese aber scheint den meisten Kritikern der Betrachtungen der – poetologische – Sensus entschieden zu fehlen. Was Thomas Mann Dialektik nennt, ist im ursprünglichen Sinne des Wortes dialogisches Spiel mit unterschiedlichen, ja gegensätzli­chen Positionen. Vom „Selbstwiderspruch dieses Buches“ redet er ausdrücklich im Kapitel ‚Politik‘. Das „Ja-und-doch-Nein ist mein Fall“ – der Fall der „Ironie“, die ein „Weder noch und Sowohl-als-Auch“ ist. Dass er damit „Verwir­rung“ stiftet, ist ihm klar: „Ich fürch­te, der freundwillige Leser weiß nicht mehr, wo ihm der Kopf steht“. Das Ja-und-doch-Nein ist auch die Signatur von Thomas Manns Kon­ser­vativis­mus, der immer wieder sein Gegen­teil miteinschließt. Im letz­ten Kapitel der Betrachtungen behauptet er gar – nachdem er selbst sich zuvor zahllose Male als konservativ bezeichnet hat: „Kon­servativ? Natür­lich bin ich es nicht; denn wollte ich es meinungsweise sein, so wäre ich es immer noch nicht meiner Natur nach, die schließlich das ist, was wirkt.“ Was Nietz­sche in Ecce homo über sich als Dé­ca­dent gesagt hat, hät­te Thomas Mann über sich als Kon­servativen schreiben können: „Abge­rech­net nämlich, daß ich ein Kon­servati­ver bin, bin ich auch dessen Gegensatz.“ Das ist deut­lich die Tendenz des Schlusses der Vorrede der Betrachtun­gen, wenn er sich fragt: „sollte ich Elemente, die dem ,Fortschritt‘ Deutsch­lands Vorschub leisten, in meinem eigenen konservativen Innern hegen? Wäre es so, daß mein Sein und – soweit davon die Rede sein kann – auch mein Wirken durchaus nicht genau meinem Denken und Meinen ent­spricht, und daß ich selbst mit einem Teil meines Wesens den Fortschritt Deutschlands zu dem, was in diesen Blät­tern mit einem recht uneigentlichen Namen ,Demokratie‘ genannt wird [...], zu fördern bestimmt war und bin?“

Thomas Mann (sitzend) und sein Bruder Heinrich Mann in München, ca. 1900. ETH-Bibliothek Zürich, Thomas-Mann-Archiv / Fotograf: Atelier Elvira / TMA_0017
Thomas Mann (sitzend) und sein Bruder Heinrich Mann in München, ca. 1900.

Polemik gegen den „Zivilisationsliteraten“

Thomas Mann weiß ganz genau, dass alle Kunst, die noch zählt, „dem allgemeinen Prozeß demokratischer Internationalisierung unter­liegt. Handgreiflich nationale Kunst, patriotische Kunst, soge­nannte Heimatkunst will als höhere Kunst nicht recht in Betracht kommen.“ Sein ganzes Buch ist eine Polemik gegen den demokratisie­renden ‚Zivilisationsliteraten‘ alias Heinrich Mann, doch die Literatur als solche, die auch sein Geschäft ist, „ist demokratisch und zivilisato­risch von Grund aus; richtiger noch: sie ist dasselbe wie Demo­kratie und Zivili­sation. Und mein Schriftstellertum also wäre es, was mich den ,Fortschritt‘ Deutschlands an meinem Teile – noch för­dern ließe, indem ich ihn konservativ bekämpfe?“ Seine Conclusio: „Ja, wir werden sie haben, die Demokratie, den Staat für Romanschriftsteller.“ Was aber ist Thomas Mann anderes als ein Roman­schriftsteller? Die Demokratie ist also sein Staat. Oder eine andere Passage: „die Tatsache besteht, daß mein eigenes Sein und Wesen sich zu dem Zivilisationsliteraten viel weniger fremd und ent­gegengesetzt hält, als die kalt objektive Kritik, die ich dem seinen zuteil werden ließ, glauben machen könnte. [...] Er will und betreibt eine Entwicklung, – die ich für not­wendig, das heißt: für unvermeidlich halte, an der auch ich meiner Natur nach unwillkürlich in gewissem Grade teilha­be; der zuzujauchzen ich aber gleichwohl keinen Grund sehe. Er fördert mit Peitsche und Sporn einen Fortschritt, – der mir, nicht selten wenigstens, als unaufhaltsam und schick­salsgegeben erscheint und den an meinem bescheidenen Teile zu fördern mein eigenes Schicksal ist; dem ich aber trotz­dem aus dunklen Gründen eine gewisse konservative Opposi­tion bereite.“

 

Ein Rückzugsgefecht großen Stils

Thomas Manns ‚erhaltender Gegenwille‘ begehrt noch einmal gegen den Fort­schritt auf – wie Richard Wagners Wotan, wenn er Siegfried seinen Speer entgegenhält, obwohl er weiß, dass dieser ihn zerschlagen wird und nach Wotans eigenem tieferen Willen ja auch zerschlagen soll. „Der erhaltende Gegenwille“, so Thomas Mann am Ende des Kapitels ‚Der Zivilisationsliterat‘, „befindet sich in der Verteidigung, und zwar in einer, wie er genau weiß, aussichtslosen Verteidigung“. Ein „Rückzugsgefecht großen Stils“ hat er die Betrachtungen eines Unpolitischen 1928 in seiner Rede Kultur und Sozialismus zutreffend genannt. Die Para­doxie, dass Thomas Mann als Schriftsteller eben das fördert, was er bekämpft („Und an all die­sem Unfug sollte ich teilhaben? [...] Doch, auch ich habe teil daran [...].“), ist cha­rakteristisch für die Argu­men­tation des ganzen Essays, und ihre Artikulation kehrt leitmoti­visch in ihm wie­der. Daher ist Thomas Manns spätere Konver­sion zu der Demo­kratie, die er in den Betrachtungen noch auf der Ober­fläche seiner Argu­mentation – aber nicht auf dem Grun­de ihrer dialekti­schen Bre­chungen – zu be­kämpfen scheint, eine durchaus kon­sequente Ent­wick­lung und alles andere als opportunisti­sche Anpas­sung an den neuen Zeit­geist, die ihm seine Gegner spä­ter vor­gehalten haben. Mit Thomas Manns ei­ge­nen Wor­ten ließe sich sagen: sein Eintreten für die Weimarer Repu­blik be­deu­tet, dass sein Denken und Meinen nun mit sei­nem Sein und Wirken konvergiert.

„Ich weiß von keiner Sinnesände­rung. Ich habe vielleicht meine Gedanken geändert – nicht meinen Sinn.“ So betont er im Vorwort zu seiner Rede Von deut­scher Republik (1922) im Hinblick auf die Stimmen, die ihn der „Über­läufere­rei“, des „Umfalles“, des „Bruches“ jedenfalls „mit mei­ner geis­tig-politischen Vergangenheit“ bezichtigt haben. „Wenn der Verfasser also auf diesen Blättern teilweise andere Gedanken verficht als in dem Buche des ,Unpolitischen‘, so liegt darin eben nur ein Widerspruch von Gedanken unterein­ander, nicht ein solcher des Verfassers gegen sich selbst. Die­ser ist derselbe geblieben, einig in seinem Wesen und Sinn“, und so setzt auch der „republikanische Zuspruch“ nach seinen Worten „die Linie der ,Betrachtungen‘ genau und ohne Bruch ins Heutige fort“. Tat­sächlich lassen sich aus ihnen Passagen her­aus­lösen, die ein Be­kenntnis zur Demo­kra­tie, ja sogar zur So­zialdemokratie impli­zieren. Kurz und gut: die Be­trachtungen eines Unpolitischen müssen stän­dig gegen den Strich gelesen werden. Das ist nicht die Meinung eines den Text hinter­fragenden Interpreten, sondern schon die mehr oder weniger ver­steckte Leseanweisung des Autors selbst.

 

Ein Konservativer im Gewand des späten 18. Jahrhunderts

Der sich selbst widerstreitende Kon­serva­tivismus bleibt frei­lich Konservativismus – ja man darf behaup­ten, dass Thomas Mann stets ein ,Konservativer‘ geblieben ist, wie er selbst nach sei­ner demokratischen Wende in der Rede Von deut­scher Repu­blik ausdrücklich bekannt hat: „daß meine natürliche Aufgabe in die­ser Welt allerdings nicht revolutionärer, sondern erhaltender Art ist.“ Während aber der Konservativismus nach Thomas Mann seinen Gegensatz in sich selbst aufnimmt, kennt sein Ge­gen­prin­zip: der sich selbst ver­absolu­tie­rende ,Fortschritt‘ in seinen Augen keine Dialektik – und vor allem keine sich selbst relati­vierende Iro­nie –, er überschreitet sich also nicht eben­so auf den Konser­vativismus hin wie dieser sich auf den Fort­schritt hin überschreitet.

Der Selbstwiderspruch in Thomas Manns Konservativismus ge­mahnt in mancher Hinsicht an den Typus des von Klaus Ep­stein in seinem monumentalen Opus The Genesis of German Conser­vatism (1966) so bezeichneten Reformkon­servativen (den er in die ideal­typische Mitte zwischen dem Sta­tus-quo-Konservativen und dem Reaktionär setzt). Dieser Idealtypus wird von Epstein freilich in der Epo­che der Abenddämmerung des Ancien Régime und der Ära der Franzö­sischen Revolution angesiedelt, aus welcher die kon­servative Bewegung hervorgegangen ist. Thomas Mann ist gewissermaßen ein Kon­serva­tiver, der sich ins Gewand des spä­ten 18. Jahr­hunderts kleidet. Tatsächlich spielt sich die Fehde gegen den „Zivilisa­tions­lite­raten“ in den Ku­lissen der Franzö­sischen Revolu­tion ab. „Wir wissen längst, daß er geistig in einer hun­dert­dreißig Jahre zurücklie­genden Epoche, der Französischen Revolu­tion, lebt und webt; die Folge ist, daß er auf eine voll­kommen verspielte Weise die Ver­hältnisse von damals in das gegenwärtige Deutschland hinein­trägt, hineinphan­tasiert.“ Was Thomas Mann hier über den Zivilisati­onsliteraten sagt, gilt im Grunde auch für ihn selbst. Da sein Bruder die Kulissen von 1789 aufzieht, sich der Argumentationsschemata der Revolutionsapologeten bedient, kleidet sich Thomas Mann selbst ins historische Kostüm und begibt sich ins gegenrevolutionäre Weimar. Be­zeichnenderweise beschließt er den ganzen Essay mit Zitaten aus Christoph Martin Wielands Aufsät­zen über die Franzö­sische Revolution, die zwischen 1789 und 1793 entstanden. Vor allem aber spiegelt er seine poli­tische Haltung in derjeni­gen Goethes: dessen „gemäßigtem Liberalismus“ und seiner Ver­werfung der Staats­umwälzung in Frank­reich.

Thomas Mann und eine unbekannte Dame bei der Paneuropa-Kundgebung in der Singakademie in Berlin am 17. Mai 1930. ETH-Bibliothek Zürich, Thomas-Mann-Archiv / Fotograf: Atlantic-Photo / TMA_0182
Thomas Mann und eine unbekannte Dame bei der Paneuropa-Kundgebung in der Singakademie in Berlin am 17. Mai 1930.

Geometrische und politische Einsichten

Thomas Mann bedient sich typischer Argumen­tationstopoi der Revolu­tionskri­tik, wie sie am prominentesten in Edmund Burkes Reflec­tions on the Revolution in France (1790), dem klassischen Trak­tat des Konser­va­tivismus der Achsenzeit um 1800, artikuliert worden sind. Nicht zuletzt hat dieser durch die ebenso klas­sische Überset­zung von Friedrich von Gentz (1793/94) bedeutenden Einfluss auf den Kon­servativismus im Umkreis der Spätaufklärung und Roman­tik sowie auf die preußi­sche Reform­bewegung gewonnen. Der Name Burke kommt bei Tho­mas Mann frei­lich nicht vor, seinen Traktat hat er zum Zeitpunkt der Abfassung seiner Betrachtungen eines Unpolitischen gewiss nicht ge­kannt. Offenbar ist er aber nach ihrem Erscheinen bald auf Burke aufmerksam gemacht worden, denn im Mai 1920 liest er, wie die Tagebücher ausweisen, die Betrachtungen über die Französische Revolution in der Überset­zung von Gentz. 1952 hat er in seinem Aufsatz Das Künstlertum und die Gesellschaft behauptet, schon bei der Niederschrift seiner Betrachtungen Burkes Meisterwerk gekannt und „mit Begei­sterung daraus zitiert“ zu haben – was freilich nicht den Tatsachen ent­spricht. Doch auf Burkes Übersetzer und Fortsetzer Gentz, über den sein Sohn Golo Mann 1947 seine große Mono­graphie veröffentlichen wird, und vor allem auf einen der be­deu­tend­sten romantischen Burke-Schü­ler: auf Adam Müller und seine Elemente der Staats­kunst (1809), beruft er sich wie­derholt. Auf dem Umweg, zumal über die roman­tische Burke-Re­zep­tion, sind also manche Argumenta­tions­li­nien der Re­flections on the Revolu­tion in France in die Be­trach­tungen eines Unpoliti­schen gelangt.

Burkes Haupteinwand gegen die Französische Revolution sind ihre abstrakt-theoretischen Prämissen: die Um­setzung der carte­sianisch-apriorischen Philosophie in die Poli­tik. Gegen sie erhebt er im Namen der spezifisch englischen Tradi­tion der empi­rischen Philosophie und praktischen Politik mit der ganzen Ge­walt seiner im britischen Parla­ment geübten Beredsamkeit Protest. Immer wieder redet Burke von der „geometrischen Basis“ des französischen Staatsexperiments und betont demgegenüber, „daß in der Politik mit nichts schlechter auszukommen ist als mit geome­trischen Demonstrationen“. Diese Unterscheidung der politischen und der geometrischen Einsicht geht bis auf Aristoteles zurück. Dieser hat in Opposition gegen Platon die Eigenständigkeit der moralischen und politischen gegenüber der metaphysi­schen Vernunft begründet. Nach der aristotelischen Tradition kann die ethisch-politische Praxis nicht ,Anwendung‘ einer vor­gängig entworfenen Theorie sein. Das praktische Wissen, das Aristoteles als Klugheit (phrónesis) bestimmt, bezieht sich dem sechsten Buch der Nikomachischen Ethik zufolge auf das Einzelne, das erst durch Erfahrung gegeben wird; seine Leistung besteht darin, in der konkreten Situation, der veränderlichen partikulä­ren Lage, das Rechte zu treffen. Demgegenüber ist das theoreti­sche Wissen (epistéme), dessen Modell die Mathematik bildet, ein solches vom Allgemeinen, immer und notwen­dig so Seienden. Dieses Wissen kann aber im Bereich politischen Handelns nicht maßgebend sein.

 

Klugheit versus Ideologie

Auch für Burke ist die Klugheit die oberste aller politi­schen Tugenden. In diesem Punkt steht er ganz in der ari­stoteli­schen Tradition. Metaphysik und Politik bleiben für ihn streng getrennt. Eben das ist es, was Thomas Mann in der Tat mit ihm verbindet. Auch er polemisiert gegen die „axio­mati­sche Einfach­heit“ der auf dem blan­ken Reiß­brett ent­worfe­nen poli­ti­schen „Lehre“ des Zivili­sations­lite­raten, gegen die Suada der trotz ihres Gehalts aggressiv ein­gesetzten ideologischen Ab­strakta („die“ Gerechtig­keit, „die“ Frei­heit, „die“ Menschlichkeit usw.), gegen die „Humanitätsprinzipienrei­ter mit Vor­liebe fürs Blutge­rüst“ und so fort. Ja, er behauptet, dass eine von derartigen Abstrakta bestimmte Ideologie – man darf sagen: durchaus im Sinne der aristotelischen Bestimmung poli­tischen Handelns – gar keine Poli­tik ist. „Es wäre ein Miß­ver­ständnis“, mit diesen Worten beruft er sich im Kapitel ‚Von der Tugend‘ auf Adam Müller, „zu glau­ben, daß es unserem Politiker auf Poli­tik, das heißt: auf Re­form, Kompromiß, Anpassung, Verständigung zwi­schen der Wirk­lich­keit und dem Geist, oder, mit dem alten Adam Müller zu re­den, zwischen dem ,Recht‘ und der ,Klugheit‘ überhaupt ankomme.“

Klugheit auf einmal erscheint das ari­stotelische Prinzip ethisch-poli­tischen Handelns auch bei Thomas Mann, und im Gegen­satz zu früheren Äußerungen in seinem Essay hält er nun die von Klugheit bestimm­te Politik, der seine ganze Sympathie gehört, für die wahre, die von abstrakten Prin­zipien ausgehende litera­rische Politik hingegen für überhaupt keine Politik. Da Politik die Sphäre der „Kompromisse“ ist, „so wird das eigent­lich ver­nünftige Verhalten hier immer ein mäßig-mittleres, [...] eine Politik der mittleren Linie sein. Radika­lismus sei statt­haft oder notwendig, wo man will, in der Moral, in der Kunst; in der Politik ist er ein Unfug.“ Der Zivilisationsliterat, so lautet eine paradoxe Fest­stel­lung Tho­mas Manns, „ist ein Politi­ker, ja; aber er ist ein Politiker gegen den Staat“, also ein Widerspruch in sich. Die Posi­tionen ver­kehren sich auf einmal: nun ist der Zivili­sa­tionslite­rat der „Unpoliti­sche“ und Thomas Mann der Apologet der wahren, eben klugen Poli­tik. Deren Elemente aber sind „Reform, Kompro­miß, Anpassung Verständigung zwischen der Wirklichkeit und dem Geist“ und nicht aprioristi­sche Bevormundung der Wirklich­keit durch den Geist. Die für das praktische Handeln zuständige Klug­heit rich­tet sich ja nach Aristoteles im Gegensatz zum theo­reti­schen Wissen der Metaphysik auf das be­ständiger Veränderung unterlie­gende Ein­zelne, sie ist eine Tugend der Zeitanpassung. Ein Konservati­ver, der starr am Bestehenden fest­hält, dieses gewissermaßen verewigt, würde also ebenso die Ei­genart des poli­tischen Han­delns verfeh­len wie der­jenige, der, auf apriorischen Prinzipien beharrend, Politik mit Metaphysik ver­wechselt. Thomas Mann versteht seinen Konservativismus mithin in einem durchaus reformistischen Sinne. „Konser­vativ sein heißt nicht, alles Bestehende erhal­ten wol­len“, schreibt er im Kapitel ‚Politik‘ nein: „die Konservativen be­teuern ihre Be­reitwilligkeit zu Re­formen.“

Europareise. Katia Mann und Thomas Mann auf dem Flughafen Kloten bei Zürich, vor dem Abflug nach London. Aufnahme vom 17. August 1950. ETH-Bibliothek Zürich, Thomas-Mann-Archiv / Fotograf: Unbekannt / TMA_5439
Europareise. Katia Mann und Thomas Mann auf dem Flughafen Kloten bei Zürich, vor dem Abflug nach London. Aufnahme vom 17. August 1950.

Demokratie ist keine Tugendphilosophie

Thomas Manns Reformkonservativismus schließt auch den allmäh­lichen Sieg der Demokratie ein. Freilich: „Jene Demokratie, die unser Libera­lismus [!] bejaht, ist keine Dok­trin und keine rhetorische Tugend­philoso­phie aus dem acht­zehn­ten Jahrhundert.“ Sogar zu einem Plädoyer für die Sozialdemokratie lässt er sich hinreißen – im Gegensatz zum „Zivilisationsliteraten“: „Beim Himmel, nein, der Geistespolitiker ist nicht Sozialdemokrat. Er wäre es allenfalls, wenn man unse­re Anarcho-Sozialisten und internationalen Revolutionäre äußerster Observanz, denen er geistig, wenn auch nicht in formaler Hinsicht, nahesteht, zum linken Flügel der Partei rechnen wollte, – was, meine ich, fehlerhaft wäre, da diese Herren als reine Genies, kaum als Parteipolitiker zu bewer­ten sind.“ Hier zeichnet sich sehr deutlich die politische Nachkriegshaltung Thomas Manns ab: Ablehnung der Literatenpolitik der Münchener Räterepublik, aber Sympathie mit der prakti­schen Vernunft der Sozial­demokratie. „Vater Ebert“ (Von deut­scher Republik) ist ihm die positive Gegen­figur zu dem „Litera­ten-Staats­mann“ Kurt Eisner (Zu Fried­rich Eberts Tod).

Zu den wichtigsten, nach wie vor gültigen Ein­sichten der Betrachtungen eines Unpolitischen gehört der von Thomas Mann hergestell­te Zusammenhang von abstrakt-literari­scher Gesinnungs­ethik und politischem Terrorismus. Die Unterscheidung von „Ge­sinnungsethik“ und „Verantwortungsethik“ stammt bekannt­lich aus Max Webers Rede Politik als Beruf, die er im Revolu­tionswinter 1918/19 in München gehalten hat. Während der Ver­antwortungsethi­ker von der Maxime ausgeht, „daß man für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen hat“, diese also seinem Tun zurechnet, fühlt sich der Gesinnungsethiker nach Max Weber nur dafür ,verantwortlich‘, dass die „Flamme der reinen Gesinnung“, zum Beispiel die Flamme des Protestes gegen die soziale Ungerechtigkeit schlechthin nicht erlischt, welche realen Folgen dieser Protest auch immer haben mag. Obwohl Thomas Manns Be­trachtungen das Begriffspaar Gesinnungsethik/Verantwortungsethik noch nicht verwenden, nehmen sie doch die spätere Webersche Typologie exakt vorweg, wenn es um den Gegensatz von „per­sön­licher Ethik“ und „Sozial-Philan­thropie“, von „Lie­besfähigkeit im ,Engen“ und “allgemei­ner Liebe“ geht, das heißt um die Kritik an einer Ethik, die nichts kostet.

 

Ironie als Prinzip des Konservatismus

Im letzten Kapitel sei­nes Großessays ‚Ironie und Radikalismus‘ setzt Thomas Mann der aus „Reinheits­fanatis­mus“ gebo­re­nen „sterilen Utopie des absolu­ten Geistes“ seine eigene gegenüber, eine kon­servative, wie er sie nennt. Das Prin­zip des Kon­servativismus aber ist für ihn die Ironie. In ihrem Geiste werden Politik und Lite­ratur eins. Am Ende sei­nes Rie­senessays nimmt er des­sen Titel Betrach­tungen eines Unpo­liti­schen indirekt, aber un­ver­kennbar zurück, indem er seine Sym­pathie mit dem bekundet, was „der Sinn und Geist der Politik eigentlich ist“: Kunst der Vermitt­lung. Die „Ähnlich­keit der Kunst mit der Politik“ besteht für Thomas Mann in der „Mittlerstellung zwischen dem reinen Geist und dem Leben“. Poli­tik „verdient ihren Namen nicht, wenn sie nichts als konser­vie­rend oder radikal-destruktiv ist!“ Die Vermitt­lung zwischen Geist und Leben ist die spezifi­sche Leistung der Ironie. „Iro­nie aber ist immer Ironie nach beiden Seiten hin; sie richtet sich gegen das Leben sowohl wie gegen den Geist, und dies nimmt ihr die große Gebärde, dies gibt ihr Melancholie und Bescheiden­heit.“ Wenn jedoch Ironie und Skepsis, Melan­cholie und Bescheidenheit das Prinzip der Po­li­tik sind, wenn diese sich dergestalt vor der conditio humana beugt – vor der Bedingtheit und Hinfälligkeit des Menschen, die alle optimistischen politischen Lösungsmo­delle zerschellen lässt – dann kann sie nicht anders als human sein. Inhumane Politik hingegen kommt immer aus der – keine Kritik und Skepsis sich selbst gegenüber kennenden –, großen Gebärde‘, wie Thomas Mann am Beispiel des von ihm verabscheuten „Dich­ter-Politikers und Kriegsrufers“ Gabriele D’Annunzio demonstriert, der seinen Ruhm missbrauchte, „um Millionen Menschen in eine Bluthölle zu hetzen und dann ,aus dem Himmel des Vaterlandes‘ (o Schmach der Schön­redne­rei!) seine Brokatprosa auf sie hinabzu­werfen.“

Wahre Politik, so die Überzeugung Tho­mas Manns, ist „über­haupt und immer ironischen Wesens“, ihrer Natur nach kann sie niemals „radikal“ sein, denn sie ist „Klugheit“ und daher „not­wendig der Wille zur Vermittlung“. Hier verbindet sich auf sehr persönliche Weise die aristotelische Tradition politi­schen Denkens mit einem modernen literarischen Prinzip, das ihr durchaus gerecht wird. Die Betrachtungen eines Unpolitischen sind sehr politische Betrachtungen, freilich solche, die sich gegen jegliche ideologische Vereinnahmung sperren, denn welcher Ideo­loge möchte schon etwas von Ironie wissen, die doch ständig an dem Ast sägt, auf dem er sitzt. Diejenigen „auto­ri­täts­gläubi­gen“ Konservativen, von denen sich Thomas Mann sel­ber als „iro­nischer Konservativer“ abgegrenzt hat, haben sich zu Unrecht auf die Betrachtungen eines Unpolitischen beru­fen (und sie tun es im rechtskonservativen Umfeld noch heute) – ohne berücksichtigen zu wollen, dass die „deutsche Repu­blik“, zu der er sich 1922 ausdrücklich bekannt hat, schon das heimliche Ideal der vermeintlich so antidemokratischen Bekenntnisschrift ist. Nicht weniger aber sind diejenigen im Unrecht, die jene Schrift in eine ideologi­sche Nachbarschaft gerückt haben, welche den Boden für den Faschismus bereitet habe. Bei allen Irrtümern und befremdlichen Details sind die sehr politischen Betrachtungen eines Unpoliti­schen eine überaus hellsichtige Schrift, welche die Weisheit einer langen Tradition politischen Den­kens: „die Klugheit als praktische Ver­nunft“ gegen die Hybris des reinen Geistes ver­teidigt.

 

Wende zur politisch eingreifenden Rede

Man darf festhalten, dass es zwischen den Betrachtungen und der späteren politischen Essayistik Thomas Manns keinen Bruch gibt, sondern allenfalls eine Tendenzverschiebung – sowie die Wendung von der reinen ,Betrachtung‘ zur politisch eingreifenden Rede von der Ansprache Von deutscher Republik (1922) bis zur skandalumwitterten Deutschen Ansprache (1930) oder seinen Vortragsreisen als „Wanderprediger der Demokratie“ kreuz und quer durch Amerika. Thomas Mann hat freilich schon kurz nach dem Erscheinen der Betrachtungen zugestanden, dass „vieles Periphere daran höchst angreifbar, überholt, von der Stunde bestimmt“ ist (an Martha Steinitz, 25. Oktober 1920), und als Schattenseite des Buchs hat er es später empfunden, dass er mit ihm – vermeintlich – dem „Irrtum deutscher Bürgerlichkeit“ Vorschub geleistet hat, „zu glauben, man könne ein unpolitischer Kulturmensch sein“. Dem stellt er 1940 in On Myself die Überzeugung gegenüber, „daß Geist und Politik nicht reinlich zu trennen sind“. In seinem Brief an den italienischen Verleger Giulio Einaudi vom 28. Juni 1953 bekennt er schließlich, dass er nach Abschluss der Betrachtungen „nicht aufgehört“ habe, „den apolitischen Kulturbegriff meiner Landsleute, der Deutschen, die Totalität des Menschlichen, der Humanität, entgegenzuhalten, die notwendig das Politische einschließt.“

Vor dem Hintergrund der faschistischen Gewalt – erschüttert zumal durch das traumatische Erlebnis der Ermordung Rathenaus 1922 – wird es Thomas Mann immer deutlicher, dass es ein Fehler war, seinem umfangreichsten Essay den Titel Betrachtungen eines Unpolitischen zu geben. In seiner Rathenau-Gedenkrede plädiert er nun für die „Einheit von Staat und Kultur“, die identisch mit der Idee der Republik, ja geradezu deren „Definition“ sei. „Der tiefste Widerstand […], dem der republikanische Gedanke in Deutschland begegnet, beruht darauf, daß der deutsche Bürger und Mensch das politische Element niemals in seinen Bildungsbegriff aufgenommen hat, daß es tatsächlich bis jetzt völlig darin fehlte.“

 

Kritik am Kulturbegriff des deutschen Bürgertums

In seiner Rede zur Gründung der Sektion für Dichtkunst der preußischen Akademie der Künste (1926) bekennt sich Thomas Mann nachdrücklich zur sozialen und politischen Verantwortung des Künstlers. Die Zeit der „Einsamkeit und Beziehungslosigkeit“ des Dichters sei vorbei – sie war eine „Täuschung […], eine romantische Täuschung, wenn Sie wollen“. In seinem Essay Kultur und Politik (1939) wird er die Trennung zwischen Kultur und Politik, zwischen Kunst und Gesellschaft, noch einmal in aller Form zurücknehmen. Es sei „ein Irrtum deutscher Bürgerlichkeit gewesen [...] zu glauben, man könne ein unpolitischer Kulturmensch sein“, ja die Kultur selber gerate in „schwerste Gefahr“, wenn es ihr am „politischen Instinkt und Willen“ mangle. Thomas Mann lässt keinen Zweifel daran, dass „die Kulturkatastrophe des Nationalsozialismus mit der Politiklosigkeit des bürgerlichen Geistes in Deutschland zusammenhängt, seinem gegen-demokratischen Herabblicken auf die politische und soziale Sphäre von der Höhe des Spirituellen und der ‚Bildung‘“.

Wer im Namen des Geistes der Politik zu entgehen sucht, gerät nach Thomas Mann nur auf deren falsche Seite. Die „politische Willenlosigkeit des deutschen Kulturbegriffs“, das „politische Vakuum des Geistes in Deutschland“ habe sich „fürchterlich gerächt“; es habe „den deutschen Geist zum Opfer einer Staatstotalität gemacht, die ihn der sittlichen Freiheit zugleich mit der bürgerlichen beraubt“ habe. Die „angeborene Politiklosigkeit“ des deutschen Bürgers sei „schauerlich“ umgeschlagen in die „totale Politik“, wird es im Essay Dieser Krieg (1940) heißen. In seiner Deutschen Ansprache von 1930, die sich im Untertitel Ein Appell an die Vernunft nennt, oder seinen letzten politischen Konfessionen vor dem Exil: der Rede vor Arbeitern in Wien (1932) und dem Bekenntnis zum Sozialismus (1933) hat Thomas Mann am Vorabend des „Dritten Reichs“ mahnend auf die beiden spezifischen Gefahren des deutschen Geistes hingewiesen: einmal die „falsche und lebenswidrige Haltung, auf die soziale, die politisch-gesellschaftliche Sphäre hochmütig herabzublicken und sie als zweiten Ranges zu bezeichnen im Verhältnis zur Welt der Innerlichkeit, der Metaphysik, des Religiösen und so weiter“. Das ändert freilich nichts an der Tatsache, dass Metaphysik und Politik zwei verschiedene Welten sind, wie die Betrachtungen eines Unpolitischen im Sinne einer langen Tradition politischen Denkens gelehrt haben.

 

Rückkehr zur Ironie

In eben diesem Sinne wird man den Verfasser der Betrachtungen gegen sich selbst verteidigen dürfen, wenn er sich verschiedentlich von ihnen, zumal aufgrund ihres Titels, distanzieren zu müssen glaubt – eines Titels, der ja doch im letzten Teil des Essays indirekt zurückgenommen wird. In seinen letzten Lebensjahren hat Thomas Mann freilich geäußert, lieber seine „Rolle“ als „demokratischer Wanderredner“ in den zurückliegenden Jahrzehnten zu ironisieren – die ihn nötigte, immer wieder eben jene gesinnungsethischen Vokabeln im Munde zu führen, gegen die er einst in den Betrachtungen eines Unpolitischen aufbegehrt hatte – als sich von den letzteren entschieden loszusagen. „Ich fühlte immer, daß ich zur Zeit meines reaktionären Trotzes in den Betrachtungen viel interessanter und der Platitüde ferner gewesen war.“ So in einem Brief an Ferdinand Lion vom 13. März 1953. Deshalb hat es ihm in seinen letzten Lebensjahren überaus wohlgetan, dass politisch unverdächtige Autoren wie Max Rychner, Alfred Kantorowicz oder Alfred Andersch eine umsichtige Verteidigung seines essayistischen Schmerzenskindes versuchten. „Es lohnt, alt zu werden, um solche Lösungen und Klärungen noch zu erleben“, schreibt er am 23. März 1955 an Andersch. Und es lohnt, anlässlich von Thomas Manns 150. Geburtstag, zu solchen Lösungen und Klärungen noch einmal beizutragen.

 

Dieter Borchmeyer ist Präsident a. D. der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und Professor emeritus für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Heidelberg.

Asset-Herausgeber

Essay
SZ Photo/Süddeutsche Zeitung Photo
16. April 2025
Jetzt lesen
Essay
ullstein Bild - dpa
9. Januar 2025
Jetzt lesen
Essay
23. Juni 2022
Jetzt lesen

comment-portlet

Asset-Herausgeber