Die Ereignisse seit dem 7. Oktober 2023 zeigen, dass Erinnerungsgemeinschaften in Deutschland in Konflikt stehen, insbesondere in Bezug auf Israelis und Palästinenser, was Israelis und Palästinenser in Deutschland, aber auch Juden und Muslime, in besonderer Weise impliziert. Antisemitismus nahm bereits unmittelbar nach diesem Datum drastisch zu, noch vor Beginn der israelischen Militäroperationen im Gazastreifen. Der tief verwurzelte Antijudaismus und Antisemitismus in Deutschland findet seinen Ausdruck im israelbezogenen Antisemitismus, was man unter dem Sammelbegriff Judäophobie fassen kann. Diese findet sich sowohl in rechten als auch in linken Kreisen sowie in der gesellschaftlichen Mitte und damit in alle politischen Spektren, religiösen Gruppen und sozialen Klassen sowie Bildungsschichten. Häufig bestimmt Ideologie die Parteinahme für Israel oder Palästina, wobei das ohne fundierte Kenntnisse geschieht und zwei monolithische Blöcke konstruiert werden. Diese Dynamik muss vor dem Hintergrund der deutschen Vergangenheit betrachtet werden.
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Spezifische Interpretationen postkolonialer Theorien bieten einen intellektuellen Rahmen für diejenigen, die versuchen, die historische Schuld für den Holocaust abzulegen und sich in einer Post-Schuld-Gesellschaft zu verorten. Dabei ignorieren sie familiäre Verstrickungen in die NS-Zeit sowie reale Verbindungen zu Juden, Israelis, Muslimen und Palästinensern. Um die Situation zu entschärfen, muss das agnotologische (Ver-)Schweigen, das durch binäre postkoloniale Blaupausen verstärkt wird, durch reflexives Wissen ersetzt werden. Dies erfordert empirische Forschung, wissenschaftliche Begleitung und die Akzeptanz unangenehmer Fakten und familiärer Verstrickungen aus der Vergangenheit.
Die Langzeitfolgen der NS-Zeit, das (Ver-)Schweigen über Geschehnisse in Europa, dem Nahen Osten und Nordafrika in den 1930er- und 1940er-Jahren sowie die Weigerung, Erinnerungen Anderer in die offizielle deutsche Geschichtsschreibung einzubeziehen, bilden die Grundlage einer historischen Agnotologie. Agnotologie bezeichnet kulturell stabilisierende Ignoranz, die brisante Themen systematisch ausblendet. Dieses (Ver-)Schweigen erstreckt sich auch auf die Wissenschaft. So ist die sozialwissenschaftliche Forschung zur jüdischen Bevölkerung nach 1945 spärlich gesät, ebenso wie Analysen zu den Beziehungen von Juden oder Muslimen in Deutschland zum Thema Israel/Palästina. Gerade diese Gruppen sind jedoch zentral für die deutsche Erinnerungspolitik und Identitätsbildung.
Erinnerungspolitik und Erinnerungskulturen nach 1945
Deutsche Erinnerungskulturen und -politik haben nationale und internationale Aufmerksamkeit erregt. Die Debatten um Israel/Palästina, postkoloniale Theorien und multidirektionale Erinnerung sind Teil anhaltender Auseinandersetzungen. Diese stehen im Kontext einer unvollständigen Debatte über die NS-Vergangenheit. Die erste ethnografische Untersuchung zu Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg durch den Anthropologen Harry Robert Lowie (1954) zeigte, dass viele wussten, was geschehen war, aber nicht darüber sprechen wollten. Die Tagebücher des Justizinspektors Friedrich Kellner (1885–1970) dokumentieren diese Verleugnung schon zur Zeit des Nationalsozialismus, bewusstes Übersehen, das in Agnotologie überführt wurde, die sich ab 1945 manifestierte. Der Historikerstreit der 1980er-Jahre drehte sich um die Frage, ob der Holocaust von einer kleinen Nazi-Elite oder mit breiter Unterstützung der Bevölkerung begangen wurde. Hätte man Lowies und Kellners Erkenntnisse sowie Raul Hilbergs Opus Magnum (The Destruction of the European Jews, 1961) früher berücksichtigt, wäre dieser Streit vermeidbar gewesen. Strukturelle Widerstände und Verweigerungshaltungen auch innerhalb der Geschichtswissenschaften verstärkten jedoch das (Ver-)Schweigen.
Die Agnotologie manifestierte ab 1945 mit Vehemenz. Persönliche Erinnerungen und ihre intergenerative Tradierung konnten jedoch weder durch (Ver-)Schweigen noch durch offizielle Geschichtsschreibung negiert werden. So fand die Ethnologin Susanne Spülbeck in einem ostdeutschen Dorf in den 1990er-Jahren ein dichtes Netz des Schweigens über verschiedene historische Perioden hinweg, dessen Verschweigensinhalte sich stark von der offiziellen ostdeutschen Geschichtsschreibung unterschieden: Erinnerungskonstellationen unter Deutschen, ob Ost- oder Westdeutsche – ohne Migrationshintergrund –, waren vielfältig. Während ehemalige Nazis den Untergang bedauerten, begrüßten Nazigegner ihn, Opportunisten machten einfach weiter, Städter bauten zerstörte Städte wieder auf, Trümmerfrauen spielten dabei eine Schlüsselrolle, ethnische Deutsche flohen vor der Roten Armee, Juden kamen aus ihren Verstecken und Sinti wurden weiter diskriminiert – und all diese Menschen tradierten persönliche und kollektive Erinnerungen. Diese Heterogenität von deutschen Bevölkerungsgruppen, man könnte sagen native Germans, wird oft nicht reflektiert und die Diversität von Erinnerungsgemeinschaften werden Migration zugerechnet. Zweifelsohne bringen Migranten ihre eigenen Erinnerungen mit: Diversität auf sie zuzuspitzen, greift allerdings viel zu kurz.
Ist die Erinnerung an den Holocaust und die Unterstützung Israels wirklich der „deutsche Katechismus”, wie der Historiker A. Dirk Moses argumentiert? Oder handelt es sich für manche um ein Lippenbekenntnis und für andere um eine tief emotionale Investition? Wie fügen sich Migranten nach 1945 in diese Struktur ein? Der Historiker Philipp Lenhard argumentiert, dass sich die derzeitige Debatte des Erinnerungsausschlusses insbesondere um den Ausschluss palästinensischer Erinnerungen dreht, andere ausgeschlossene Gruppen finden weniger Gehör – oder Einschluss. Die Historiker Joël Glasman und Marcia Schenck sowie Gesine Krüger kritisieren den eurozentrischen Fokus der deutschen Geschichtswissenschaft und fordern eine stärkere Einbeziehung nicht-europäischer Geschichte, was den Einschluss anderer Erinnerungslandschaften impliziert und diese anderen zu offiziellen Teilhabern am deutschen Erinnerungsdiskurs macht. Dieser Ausschluss gilt, zweifelsohne, auch in Teilen immer noch für Juden, die vor 1933 in Deutschland lebten und die posthum entweder zu Trägern einer verlorenen Hochkultur oder als anonyme Opfer reduziert wurden, wodurch ihre realen, facettenreichen Lebenswelten und kulturellen Erben unsichtbar blieben: Erinnerte jüdische Binnenperspektiven der gegenwärtigen Juden werden allzu oft auf die Shoah und Traumata verkürzt. Dieser Ausschluss gilt ebenso für Muslime und Palästinenser, über deren Geschichte und Lebenswelten wenig bekannt ist – wobei muslimische Erfahrungen heterogen sind und nicht auf die palästinensische Erfahrung verkürzt werden dürfen. Postkoloniale Studien haben einige Lücken ideologisch gefüllt, doch bleibt die Frage, inwiefern sie dazu beitragen können, die komplexen Erinnerungskonflikte in Deutschland zu lösen, wenn über die Menschen und Kollektive, die verschiedene Erinnerungen tragen, empirisch viel zu wenig bekannt ist und nicht nur migrantische Erinnerungen, sondern auch herkunftsdeutsche unter dem Siegel der Agnotologie verschwiegen werden.
Juden und Israelis im Verhältnis zu Muslimen und Palästinensern im neuen Deutschland
Nach der Gründung der Bundesrepublik 1949 wurde den verbliebenen Juden im Austausch für ihre Präsenz in der öffentlichen Arena etwas symbolische Macht zugestanden: relevante politische Macht hatten und haben sie nicht, die jüdische Bevölkerung ist hierfür viel zu klein. Die scheinbare Integration von Juden geschah im Rahmen eines Kompromisses mit den USA, die Westdeutschlands Umgang mit den verbliebenen Juden und seine Beziehung zu Israel als entscheidend für die Wiederaufnahme in die zivilisierte Staatengemeinschaft betrachteten. Vor diesem Hintergrund erscheint die These eines deutschen Holocaust- und Israel verehrenden Katechismus nicht stichhaltig. Bereits 1961 identifizierte der Soziologe Peter Schönbach den sekundären Antisemitismus als wesentlich für die antisemitische Welle 1959/60. Dieser basiert auf Schuldabwehrmechanismen und einer Täter-Opfer-Umkehr. Der Jurist Ronen Steinke beschreibt die Kontinuität von Gewalt gegen Juden nach 1945, die sowohl strukturelle Gewalt als auch tödliche Dimensionen umfasste, anhand mannigfaltiger Beispiele. Oberflächlich betrachtet dienten Philosemitismus und Philozionismus als politische Normen für innen- und außenpolitische Beziehungen, waren jedoch nicht immer von Herzen kommend. Zudem zeigen empirische Studien eine stabile Zustimmung zu antisemitischen Einstellungen und eine wachsende Unbeliebtheit Israels in Deutschland sowie israelbezogenen Antisemitismus als die tragende Variante des Antisemitismus der Gegenwart in der Gesamtgesellschaft.
Über die lebenden Juden ist indes weniger bekannt als über die imaginierten, denen Judenfantasien zu Grunde liegen. Erst nach der Wiedervereinigung suchte Deutschland nach seinen „verlorenen“ Juden, doch nur bestimmte imaginierte Juden waren gefragt, die der Stetelromantik oder der deutsch-jüdischen Bourgeoisie vor 1933 entsprachen. Die Mehrheit der in Westdeutschland lebenden Juden waren Nachkommen osteuropäischer displaced persons, während ostdeutsche Juden meist deutsche Familienbiografien aus der Zeit vor 1945 hatten. Es waren etwa 30.000 Juden Mitglieder in den Westgemeinden und weniger als 400 in den Ostgemeinden im Jahr der Wiedervereinigung: Juden nach 1945 stellten eine Kleinstgruppe dar. Das deutsche Judentum von vor 1933 war unwiederbringlich zerstört worden. Die lebenden Juden entsprachen nicht dem erhofften Bild des versöhnenden Juden à la Nathan der Weise und sie forderten Begegnungen auf Augenhöhe sowie die Integration ihrer – meist nicht deutsch-jüdischen – Erinnerungen in die Geschichtsschreibung.
Die jüdische Community wurde noch migrantischer, da zwischen 1990 und 2004 219.604 Personen aus der ehemaligen Sowjetunion als Kontingentflüchtlinge nach Deutschland migrierten. Die Kategorie Kontingentflüchtling wurde geschaffen, um Juden und ihre Familien aufzunehmen. Israelische Juden kamen ab den 2000er-Jahren in signifikanter Zahl nach Deutschland und hinterfragten etablierte deutsche und jüdische Erinnerungskulturen auch öffentlich: Auseinandersetzungen mit anderen Juden scheuten sie nicht. Der Terrorakt vom 7. Oktober 2023 war für Israelis ein mehrfacher Schock: Sie wurden nicht nur als Israelis, sondern als Juden angegriffen und in Deutschland mit israelbezogenem Antisemitismus konfrontiert. Dennoch blieben ihre israelischen Erinnerungsnarrative oft unvereinbar mit denen der deutschen Mehrheitsgesellschaft und auch anders als die der diasporischen Juden.
Zu Palästinensern in Deutschland gibt es noch weniger empirische Forschung. Schätzungen variieren zwischen 70.000 und 200.000 Palästinensern, die in Deutschland leben. Ein Überblick der Politikwissenschaftlerinnen Katharina Koch und Nora Ragab zeigt, dass auch soziodemografische Merkmale dieser Gruppe kaum erhoben wurden und die Gruppe divers ist. Dass Palästina als souveräner Staat nicht existiert, trägt zur numerischen Unsicherheit bei und schichtet die vorhandene Agnotologie weiter auf, da die deutsche Mehrheitsbevölkerung eine weitere Facette der Langzeitfolgen des nationalsozialistischen Deutschlands übersehen konnte, zumal es ohne die Naziherrschaft zu keinem Genozid an Juden gekommen wäre und mitnichten so viele Juden in den Nahen Osten migriert wären – wobei dieses nicht darüber hinwegtäuschen soll, dass der Angriff der arabischen Allianz auf den neugegründeten Staat Israel und die bis heute andauernde regionale Nichtintegration von Palästinensern irrelevant für den andauernden Konflikt sind. Palästinenser, die 1948 flüchteten oder vertrieben wurden, konnten nicht in das entstandene israelische Hoheitsgebiet zurückkehren und erinnern diese Ereignisse als al-Nakba (Katastrophe). Der Sechstagekrieg 1967 führte zu weiterer Flucht und Vertreibung (al-Naksa, Rückschlag). Die Integration von Palästinensern in Aufnahmeländer im Nahen Osten blieb auch nach 1967 unzureichend, da dies als Anerkennung der Nakba und Naksa und der dauerhaften Existenz Israels interpretiert worden wäre. Viele palästinensische Siedlungen wurden zu dauerhaften Flüchtlingslagern, die Zugang zu UNRWA-Hilfen gewähren.
Diese kurze Bestandsaufnahme unterstreicht die Heterogenität von Erinnerungsgemeinschaften, jedoch blieben weder deutsche Erinnerungslandschaften noch die offizielle Geschichtsschreibung von israelischen und palästinensischen Narrativen unberührt und es kam in Deutschland an, dass die Erfahrungen der Shoah und der Nakba für Israelis und Palästinenser, für Juden und auch einen Teil der Muslime in Deutschland prägend sind. Grundlegende Unterschiede zwischen diesen Erinnerungsgemeinschaften und ihren Geschichtsschreibungen bestehen und natürlich migrieren diese Erinnerungen mit Israelis und Palästinensern mit. Vor Ort in Deutschland treffen diese Erinnerungen aufeinander – und kollidieren unvermeidlich mit den Erinnerungen der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Mehr noch, sie fordern die Agnotologie heraus, die die Geschichtsschreibung umgibt und für die Erinnerungen – jeglicher Couleur – eine Herausforderung darstellen.
Die postkoloniale Bewusstwerdung in Deutschland
Die postkoloniale Theorie gewann in der englischsprachigen Wissenschaft ab den 1980er-Jahren an Bedeutung. Wissenschaftler mit postkolonialen Familienbiografien erreichten zunehmend Machtpositionen und konnten nicht länger ignoriert werden. Werke wie There Ain’t No Black in the Union Jack (1987) und The Empire Writes Back (1989) prägten den britischen postkolonialen Diskurs. Ein zentraler Text ist Orientalismus von Edward Said (1978), der die Projektionen des Okzidents auf den Orient analysiert und den Orient als Produkt des Okzidents konzeptualisiert, jedoch die Gegenprojektion ausspart. Said stammt aus Jerusalem: Ihn interessierte der Orient, andere Theoretiker der postkolonialen Studien hingegen nicht, sie stellten „ihre“ Region in den Vordergrund, was bedeutet, dass postkoloniale Studien sich nicht per Diktum mit Israel/Palästina befassten, und unterstreicht, dass viel postkoloniale Theorie auf Israel/Palästina nicht anwendbar ist.
Zudem zog postkoloniales Denken in Deutschland mit Verzögerung ein. Der Hauptgrund: Andere gesellschaftliche Themen dominierten. Nach dem frühen Verlust der Kolonien lag der Fokus auf der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit. In den 1980er-Jahren fiel der Aufstieg der postkolonialen Theorie in Großbritannien mit dem Historikerstreit in Deutschland zusammen – ein Indikator für divergierende gesellschaftliche Schwerpunkte.
Mit der Etablierung postkolonialer Theorie in Deutschland entfaltete sie erhebliche Wirkung, was auch mit lokaler Agnotologie zusammenhängt. 2020 geriet sie besonders ins öffentliche Bewusstsein, als der kamerunische Philosoph Achille Mbembe von der Ruhrtriennale ausgeladen wurde. Anlass war der Vorwurf des Antisemitismus, den Mbembe bestritt. Der Kern des Streits betraf seine Haltung zu Israel und die vermeintliche Unvereinbarkeit mit der BDS-Resolution des Bundestages (2019). Befürworter der Ausladung sahen in Mbembes Position eine Grenzüberschreitung, während Gegner argumentierten, er repräsentiere eine legitime Perspektive des „globalen Südens”. Die Debatte spiegelt wesentliche Argumentationslinien von Moses‘ Katechismus der Deutschen wider: die Einzigartigkeit des Holocausts, die besondere Verantwortung Deutschlands gegenüber Juden und Israel sowie die Verbindung von Antizionismus als eine spezifische Form von Antisemitismus, die im Übrigen in der sozialwissenschaftlichen Antisemitismusforschung durchaus etabliert ist. Die intergenerationale Weitergabe verdrängter Schuld trug zu anhaltendem Unbehagen in der deutschen Gesellschaft bei, dass sich in der Mbembe-Debatte manifestierte und das seitdem zu einer immer stärkeren Polarisierung führt, in der postkoloniale Theorien gegen Israel angewandt werden. Bemerkenswert ist, dass vor allem die britischen postkolonialen Studien ursprünglich gar kein Interesse an Israel hatten, sie bezogen sich auf Afrika oder die Karibik: Das Wort Israel kommt genau null mal in There Ain’t No Black in the Union Jack und The Empire Writes Back vor, was bedeutet, dass so manche der ursprünglichen Ideen schablonenhaft und unpassend auf Israel – und Israel/Palästina – angewendet werden und das per se ein neues Vokabular und neue Konzepte geschaffen werden müssten, um der Besonderheit der Situation gerecht zu werden.
Postkoloniales Denken, der 7. Oktober 2023 und seine Nachwirkungen
Nach 1945 akzeptierten nur kleine Teile der (west-)deutschen Gesellschaft die von den Alliierten ausgesprochene Kollektivschuld, was zu kollektivem (Ver-)Schweigen führte. Daraus entwickelte sich die Vorstellung kollektiver Unschuld, gestützt durch familiäres (Ver-)Schweigen über NS-Verstrickungen. Dieses Muster erleichterte eine unbewusste Distanzierung von ererbter Schuld, die als Post-Schuld konzipiert werden kann. Sie reflektiert den Wunsch, sich von einer nicht selbst verschuldeten, aber unauflöslichen historischen Schuld – und Last – zu befreien.
Die Reaktionen auf das öffentliche Auftreten von Palästinensern in Deutschland sind eng mit dieser historischen Dimension verknüpft. Der Psychoanalytiker Kurt Grünberg weist darauf hin, dass Parolen wie „Free Palestine from German Guilt” als Versuch der Befreiung von deutscher Schuld gegenüber Juden und Israel gelesen werden können. Die Logik gilt ebenso für Forderungen wie „End Israel”, die das Ende deutscher Schuld durch das Verschwinden des jüdischen Anderen implizieren würde. Es stellt sich die Frage, ob die Trauer um palästinensische Opfer eine unbewusste Übertragung auf die unbetrauerten – oder unbetrauerbaren – deutschen Opfer des Zweiten Weltkriegs darstellt. Während die extreme Rechte dies explizit gleichsetzt, ist eine solche Dynamik auch in linksliberalen Kreisen möglich, zumal sich nichtverbalisierte Erinnerungen in allen Familien, egal welcher politischen Ausrichtung sie sind, weitergetragen haben. Unbewusste intergenerative Schuld wird tradiert. Das bedeutet wiederum, dass (ver-)schwiegenes Wissen existierte und ein Unbehagen bleibt, das nach dem 7. Oktober 2023 die Oberfläche durchbrach. Unbewusste emotionale Verstrickungen und verkörperte Erinnerungen sind wirkmächtig in persönlichen Positionierungen in den deutschen Israel/Palästina-Debatten.
Diese Zusammenhänge prägen auch den lokalen postkolonialen Diskurs. Postkoloniale Theorie dient in Deutschland mitunter als intellektuelles Werkzeug zur Abwehr von Schuld und der Überleitung in Post-Schuld – ein Phänomen, das auf die Annahme kollektiver Unschuld folgt. Aus dieser Melange ergibt sich eine Übertragung postkolonialer Theorie und lokalspezifischer Deutungsmuster auf Israel/Palästina – oft ohne fundiertes Wissen über die Region, ihre Menschen, Geschichte(n) oder der inhärenten Diversität postkolonialer Theorien. Die schon starke ideologische Polarisierung verhindert zudem produktive Diskussionen über den Nahostkonflikt und verstärkt weiter Polarisierungen in Deutschland: Es ist nunmehr an der Zeit, dass sozialwissenschaftliche, empirische Forschungen faktenbasiertes Wissen schaffen und meinungs- sowie gefühlsgetriebene Ideologie ersetzen – es ist Zeit, sich unbequemen Erbschaften und verschwiegenen Vergangenheiten zu stellen, was mit Theoriegebäuden und dekontextualisierten postkolonialen Deutungsmustern nicht geschehen wird.
Prof. Dr. Dani Kranz ist Anthropologin und seit 2023 Inhaberin des „Wilhelm und Alexander von Humboldt"-Lehrstuhls des DAAD in Mexiko-Stadt.
Eine ausführliche Liste verwendeter und weiterführender Literatur können Sie hier als PDF herunterladen.