Ideologiefreie Innenpolitik: Starmers Sprung über Labours Schatten
Kaum ein Politikfeld symbolisiert den neuen Kurs der Labour-Regierung unter Keir Starmer so deutlich wie die Migrationspolitik. Mit dem Satz “We risk becoming an island of strangers,“ sorgte der PM für Aufsehen – nicht nur innerhalb eigener Reihen. Wer erwartet hatte, dass Labour, nach mehreren gescheiterten Anläufen seitens der Tories die Migration einzudämmen, einen typisch linken Ansatz des Laissez-faire verfolgen würde, sieht sich getäuscht. Starmer verschärft sogar den migrationskritischen Kurs der Vorgängerregierungen. Zwar ließ er das international kritisierte Ruanda-Abschiebeprogramm der Tories für irreguläre Migranten stoppen, doch in der Sache bleibt der Fokus klar: Kontrolle, Abschreckung und eine Rückbesinnung auf staatliche Autorität, auch in der legalen Migration. Die Anforderungen für Arbeitsvisa sollen verschärft werden. Selbst in der Pflege, wo ein hoher Fachkräftemangel herrscht, soll das bisherige Sondervisum abgeschafft werden, um Einreisen zu erschweren. Gleichzeitig sollen Asylverfahren beschleunigt und Hürden für Abschiebungen gesenkt werden – unter anderem durch eine nur noch eingeschränkte Anwendung bestimmter Teile der Europäischen Menschenrechtskonvention. Starmer gibt in der Migrationspolitik also dem Druck der öffentlichen Meinung und dem politischen Druck von rechts nach.
Ähnlich ideologiefrei zeigt sich der PM in der Auseinandersetzung um „Net Zero“ und den Klimawandel und verfolgt einen durchaus pragmatischen Ansatz. Labour bekennt sich zwar weiterhin zum Ziel der Klimaneutralität bis 2050, setzt aber wie die konservativen Vorgängerregierungen auf Investitionen und Innovation statt auf staatliche Regulierung. Das Kalkül dahinter dürfte sein, dass Labour in einer „cost of living crisis“ mit schwächelnder Wirtschaft unter Druck steht, wirksame Maßnahmen zu ergreifen, ohne zusätzliche Belastungen für das Land zu erzeugen. Tatsächlich wird in manchen Bereichen der Industrie sogar dereguliert und neue Verträge zur Gewinnung fossiler Brennstoffe in der Nordsee vergeben, um Kosten für Industrie und Verbraucher zu drücken und Abhängigkeiten vom Ausland zu verringern.
Im Bereich der Sozialpolitik verfolgt die Labour-Regierung einen Kurs, der sich von klassischen Vorstellungen sozialdemokratischer Umverteilung absetzt. Angesichts stark steigender Sozialausgaben seit der Pandemie, hat sich die Regierung entschlossen diese Entwicklung durch gezielte Einsparungen einzudämmen. So sollten etwa durch Kürzungen bei einer Heizkostenbeihilfe für Rentner – einer der ersten Gesetzesinitiativen der neuen Regierung, die jedoch nach heftigem Protest wieder zurückgenommen werden musste – sowie durch Leistungskürzungen für Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen und Behinderungen jährlich rund 6,5 Milliarden Pfund eingespart werden. Diese milliardenschweren Einschnitte hätten die größten Kürzungen seit zehn Jahren bedeutet und erinnern damit stark an Cameron‘sche Austerität. Anders als die konservativen Regierungen, die in der Vergangenheit Kürzungen meist mit der eigenen Parteiideologie vereinbaren konnten, steht Starmer zwischen dem Anspruch finanzpolitisch glaubwürdig zu bleiben und dem ideologischen Druck einer Labour Partei, die traditionell für hohe Sozialausgaben eintritt. Bei Labour regte daher sich starker innerparteilicher Widerstand gegen diese Kürzungen, sodass Starmer seine Maßnahmen abschwächen musste. Das teilweise Zurückrudern bei den sozialen Kürzungen steht exemplarisch für die zentrale Herausforderung seiner Amtszeit: Starmer verfolgt eine ergebnisorientierte, pragmatische Politik, bricht dabei jedoch in Teilen mit dem traditionellen Labour-Kurs und setzt seine Partei erheblichen innerparteilichen Spannungen aus.
„Global Britain“ unter Labour
„Global Britain“ war die zentrale außenpolitische Vision der konservativen Regierungen nach dem Brexit. Eine neue Generation von Freihandelsabkommen mit Partnern in aller Welt sollte den wirtschaftlichen Aderlass durch den EU-Austritt kompensieren. Vor allem Verträge mit den USA, Indien und weiteren asiatischen Staaten sollten unter Beweis stellen, dass Großbritannien auch im 21. Jahrhundert ein flexibler und global handlungsfähiger Akteur bleibt. Doch die Bilanz unter den Tories fiel ernüchternd aus: Abgesehen vom angestoßenen Beitritt zum CPTPP (Comprehensive and Progressive Agreement for Trans-Pacific Partnership) – zweifelsohne ein diplomatischer Erfolg – blieb vieles Stückwerk.
Premierminister Starmer hat diesen außenpolitischen Bereich nicht spektakulär neu definiert, aber er hat geliefert. Unter seiner Führung konnte ein Freihandelsabkommen mit den USA abgeschlossen werden – ein Meilenstein, an dem seine konservativen Vorgänger gescheitert waren. Als erstes Land schloss Großbritannien unter Starmers Regierung ein Handelsabkommen mit der Trump-Administration ab. Auch die Verhandlungen mit Indien wurden unter seiner Führung deutlich beschleunigt, sodass bereits wenige Monate nach Amtsantritt ein sektorales, aber umfassendes Abkommen unterzeichnet werden konnte.
Auch in der Verteidigungspolitik setzt Labour die Linie der konservativen Vorgänger konsequent fort. Seit den Tagen Boris Johnsons steht Großbritannien fest an der Seite der Ukraine und bleibt ein verlässlicher NATO-Partner. Starmer übernahm die Verantwortung zu einem kritischen Zeitpunkt: Als die USA ihre militärische Unterstützung für Kiew zwischenzeitlich infrage stellten, hielt London Kurs und führte die sogenannte „Koalition der Willigen“ entschlossen weiter. Wie ihre konservativen Vorgänger operiert jedoch auch die Labour-Regierung unter klaren finanziellen Zwängen. Für ein Sondervermögen nach deutschem Vorbild fehlt der fiskalische Spielraum. Stattdessen kündigte Starmer an, das Verteidigungsbudget bis 2035 schrittweise auf 3,5 % des BIP zu erhöhen – und schloss Steuererhöhungen zur Finanzierung dieses Ziels ausdrücklich nicht aus. Ein pragmatischer, aber politisch riskanter Schritt. Dass Großbritannien damit hinter den zeitlichen Ambitionen Deutschlands und Frankreichs zurückbleibt, unterstreicht die strukturellen Beschränkungen, denen auch die neue Regierung unterliegt. Gerade vor diesem Hintergrund gewinnt das transatlantische Verhältnis weiter an Bedeutung.
Die Special Relationship mit den USA bleibt eine zentrale außenpolitische Priorität. Mit Peter Mandelson entsandte Starmer einen der erfahrensten Architekten von Tony Blairs „New Labour“ als Botschafter nach Washington – ein klares Zeichen außenpolitischer Kontinuität und ein bewusst gesetztes Signal transatlantischer Verlässlichkeit. Diese jedoch besteht in einem Kontext von dynamischen Initiativen Richtung Paris und Berlin.
Rückkehr nach Europa
Am 17. Juli werden Bundeskanzler Friedrich Merz und Premiermister Keir Starmer einen völkerrechtlich bindenden bilateralen Vertrag unterzeichnen. Das vor gut einem Jahr von Starmer initiierte Abkommen markiert einen neuen Aufbruch in den deutsch-britischen Beziehungen. Insgesamt soll der Vertrag die strategische Partnerschaft beider Länder, insbesondere in den Bereichen Verteidigung, Wirtschaft, Migration und Kultur, substanziell vertiefen. Die vereinbarten Grundsätze sollen durch jährlich zu vereinbarende Aktionspläne mit konkreten Maßnahmen untermauert werden. Von besonderer Symbolkraft soll eine Beistandsklausel nach dem Vorbild von Artikel 5 des NATO-Vertrags sein.
Die Annäherung an die europäischen Nachbarn aber auch an die EU als Institution war von Beginn seiner Amtszeit eine Priorität Starmers. Damit hebt sich der Premier in dieser Frage deutlich von den Conservatives ab. In den Verhandlungen mit Brüssel hat Labour eine Reihe von Zugeständnissen gemacht, die einem konservativen Premierminister wohl das politische Genick gebrochen hätten. Während die Opposition ihm vorwarf, britische Interessen preisgegeben zu haben, kalkulierte Starmer, dass die wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Konsequenzen einer Annäherung an die EU den innenpolitischen Preis wert seien. Im Mai 2025 präsentierte er dann auch konkrete Ergebnisse: die EU und das Vereinigte Königreich unterzeichneten eine „Gemeinsame Erklärung“, eine „Sicherheits- und Verteidigungspartnerschaft“ sowie eine „Absichtserklärung zu einer erneuerten Agenda für das Vereinigte Königreich und die EU“. Tatsächlich ist der Umfang der Einigung beachtlich. Die Tiefe der erzielten Vereinbarungen ist derzeit Gegenstand von Debatten in politischen und wirtschaftlichen Zirkeln. Für die einen geht die Kooperation zu weit, für die anderen sind die Ergebnisse zu oberflächlich. Für Premierminister Starmer ist das Ergebnis eindeutig: ein „Win-Win“, das Großbritannien zurück auf die Weltbühne bringt.
Die Vereinbarung beinhaltet zwar verschiedene Bereiche – von Energie bis Migration –, doch das Kernstück bildet die Sicherheitspartnerschaft. PM Starmer vollendet damit eine Rückbesinnung auf den europäischen Pfeiler britischer Sicherheit. Die 2021 veröffentlichte Integrated Review zeichnete noch das Leitbild eines Landes, das seinen Blick Richtung Indopazifik wandte. Das aktuelle Strategic Defence Review 2025 dokumentiert jedoch eine klare Neuorientierung: London hat erkannt, dass die Sicherheit Europas das unmittelbare nationale Interesse bleibt. Auch wenn der britischen Industrie durch die Sicherheitspartnerschaft mit der EU der Zugang zum 150 Milliarden Euro schweren Europäischen Verteidigungsfonds geebnet wird, wäre es für viele konservative Brexit-Befürworter wohl kaum vermittelbar gewesen, dass Großbritannien nun enger an die EU rückt. Starmer hingegen ließ der Erkenntnis, dass mittlerweile kein Weg an der EU vorbeiführt, konkrete Handlungen folgen – und nahm damit in Kauf, in den ehemaligen Labour-Hochburgen der Red Wall politischen Kredit verspielt zu haben.
Starmers Dilemma
Möglicherweise wird Starmer als der Premierminister in die Geschichte eingehen, der innerhalb des ersten Regierungsjahres die größte Zahl an Strategie- und Reformpapieren vorgelegt hat. Zu den wichtigsten gehören etwa die Verteidigungsstrategie, die Nationale Sicherheitsstrategie, die China-Strategie, die Migrationsstrategie sowie umfassende Strategiepapiere zu Gesundheit, Industrie und KI. Diese lassen sich jedoch nicht zu einer Vision, zu einer großen Gesamterzählung über die Zukunft des Landes zusammenfügen. Labour unterliegt finanzpolitisch denselben Zwängen, wie die konservative Vorgängerregierungen. Der Premierminister ist daher gezwungen innen- wie auch außenpolitisch Prioritäten zu setzen, und schmerzhaften Entscheidungen nicht aus dem Weg zu gehen. In seiner Politik scheut sich Keir Starmer nicht, den Eindruck überraschender Kontinuitäten zu den Tories entstehen zu lassen. Was manche als Rückgratlosigkeit interpretieren, verschafft ihm einen größeren pragmatischen Spielraum. Doch birgt dieser Kurs auch Gefahren: Labours linke Flanke bleibt offen. Gleichzeitig kann sich Labour nicht auf einen rhetorischen Schlagabtausch mit Nigel Farages Partei Reform UK einlassen, ohne das eigene Profil weiter zu verwässern. Starmer läuft Gefahr, dass Labour mittelfristig seine inhaltliche Verankerung verliert und der innerparteiliche Zusammenhalt weiter erodiert.
Darüber hinaus sind die Popularitätswerte von Starmer überraschend niedrig. Er ist der unbeliebteste Premierminister nach so kurzer Amtszeit – und das liegt nicht nur an seiner Person. Starmers Agenda findet in der Bevölkerung weit weniger Zustimmung, als seine komfortable parlamentarische Mehrheit vermuten ließe. Das kurzfristige Ergebnis seiner bisherigen Politik ist ein schmerzhaftes Tief in den Umfragen: mit 23% liegt Labour zwar noch vor den Tories (17%) aber dennoch weit abgeschlagen hinter Reform UK mit 29%. Obwohl die Tories offiziell die Opposition im Parlament anführen, drängt sich Reform UK als Spitzenreiter in den Umfragen und als klarer Gewinner der kürzlich abgehaltenen Kommunalwahlen als neuer Hauptkonkurrent der Regierung auf. Zwischen dem Druck von rechts durch Tories und Reform und wachsender Unzufriedenheit im eigenen linken Lager muss Starmer seinen politischen Kurs behaupten, wenn er diese Amtsperiode überstehen und auch die nächste Wahl gewinnen möchte. Entscheidend wird sein, ob Starmers Pragmatismus bei den drei drängendsten Themen der Bevölkerung – Migration, Gesundheitspolitik und Lebenshaltungskosten – zu sichtbaren Erfolgen führt.
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