Country reports
Die Minderheitsregierung Buzek
Der erste Monat der Minderheitsregierung Buzek brachte gegenüber den hektischen Vorgängen um das Auseinanderbrechen der Koalition aus Wahlaktion Solidarnosc (AWS) und Freiheitsunion (UW) Ende Mai/Anfang Juni eine deutliche Beruhigung. Die Ernennung der Nachfolger für die 5 ausgeschiedenen Minister und für andere Spitzenpolitiker der UW in Regierungsämtern vollzog sich erstaunlich reibungslos, vielleicht auch weil die AWS in den Tagen nach dem 6. Juni von einer durch Schock bewirkten Einigkeit geprägt war.
In einer Trotzreaktion ging es den AWS-Politikern auch darum, sich selbst, Polen und dem Rest der Welt zu beweisen, wie schnell man nach dem Austritt der UW aus der Koalition zur Tagesordnung übergehen und verantwortliche Politik machen könne.
Dementsprechend schnell wurden die Nachfolger für die abgetretenen UW-Minister ernannt: Auf Hanna Suchocka im Justizressort folgte Lech Kaczynski (parteilos, AWS-nah), Tadeusz Syryjczyk wurde im Transportministerium durch den bisherigen Chef der Kanzlei des Premierministers Jerzy Widzyk (Gesellschaftliche Bewegung-AWS) ersetzt, der sich nun mit den schier unlösbaren Problemen der Modernisierung der staatlichen Eisenbahn und dem Vorantreiben des Autobahnbaus herumschlagen darf.
Jaroslaw Bauc (RS-AWS) ersetzt Leszek Balcerowicz im Amt des Finanzministers; er gilt als liberaler Wirtschaftsexperte, der zumindest versuchen wird, die im Westen hoch angesehene restriktive Haushaltspolitik seines Vorgängers fortzuführen. Außerdem entstand mit dem neu geschaffenen Ministerium für Regionalentwicklung ein potenziell mächtiges Instrument zur Verteilung der EU-Strukturhilfen nach dem Beitritt, das mit Jerzy Kropiwnicki (Christlich-Nationale Union ZChN) besetzt wurde.
Kropiwnicki hatte sich immer als "rechte", d.h. in Polen keynesianisch/ gewerkschaftsfreundliche, Alternative zum neoliberalen Balcerowicz profiliert, wurde aber vielleicht gerade deswegen, mit Blick auf die internationale Glaubwürdigkeit Polens, nicht dessen Nachfolger. Nach wenigen Wochen stand auch der Nachfolger des bei der Streitkräftereform nicht vollständig erfolgreichen Janusz Onyszkiewicz im Verteidigungsressort fest: Bronislaw Komorowski (Konservative Volkspartei SKL), bisher Vorsitzender des Verteidigungsausschusses im Sejm.
Ende Juni schließlich nahm auch der international ausgesprochen hoch angesehene Bronislaw Geremek, der noch bis zum Abschluss der internationalen Konferenz "Community of Democracies" im Amt verblieben war, seinen Abschied und wurde ersetzt durch den parteilosen Wladyslaw Bartoszewski, der bisher Vorsitzender des Senatsausschusses für Auswärtiges und 1994/95 schon Außenminister gewesen war. Bartoszewski wird es - unbeschadet seiner Beliebtheit in Deutschland - nicht leicht haben, dem international anerkannten Format und umfassenden Wissen seines Vorgängers nachzufolgen.
Zumindest für die nächste Zukunft hat Premier Buzek seine Stellung im Kabinett stark gefestigt: Er hat sich durch seine Standfestigkeit in der Krise Respekt erworben, vor allem aber kann er nun viel effektiver als vorher die AWS-Fraktion, die ja ganz oder teilweise immer öfter gegen die eigene Regierung gestimmt hatte (was der wichtigste Grund für den Ausstieg der UW wurde) disziplinieren, indem er mit Rücktritt droht. Dies hätte nämlich höchstwahrscheinlich die Parlamentsauflösung zur Folge.
Abgesehen von dieser Möglichkeit sind aber die Chancen des Präsidenten, den Sejm aufzulösen, laut Verfassung darauf begrenzt, dass der von der Regierung vorgelegte Haushalt 2001 bis zum 31. Januar 2001 keine Mehrheit findet. In diesem Fall gäbe es Wahlen im März oder April.
Der neue Finanzminister Bauc bemüht sich allerdings, einen Haushalt vorzulegen, der zum größten Teil die Balcerowicz-Politik weiterverfolgt und daher auch die Zustimmung eines Teils der UW-Fraktion findet - wenn er denn von der AWS-Rechten akzeptiert wird. Außerdem werden die in den letzten Tagen entdeckten Haushaltslöcher es ihm sehr schwer machen, das zunächst angestrebte Ziel einer Staatsverschuldung von höchstens 1,6 % BIP einzuhalten.
Im übrigen wird sich die Regierung auf die Exekutive, z.B. Verbrechensbekämpfung kon-zentrieren. Bei der Rechtsangleichung an die EU baut sie ohnehin auf einen überparteilichen Kompromiss (s.u.). Ob sich die bisher gezeigte Geschlossenheit und Vernunft der AWS nach der Sommerpause fortsetzt, ist möglich, aber nicht sicher angesichts eines bereits passierten Ausrutschers beim Reprivatisierungsgesetz, das in seiner gegenwärtigen Form den Haushalt 2001 sprengen würde. Entscheidenden Einfluss wird hier die Präsidentenwahl haben.
Präsidentenwahl und Parteienlandschaft
Marian Krzaklewski und die Wahl
Die für den 8. Oktober 2000 angesetzte Direktwahl des Staatspräsidenten wird entscheidenden Einfluss auf den Rest der Amtszeit der Minderheitsregierung Buzek, wie auch auf die Entwicklung der polnischen Parteienlandschaft, besonders auf die Zukunft der AWS, haben. Im Grunde konzentriert sich alles auf das Abschneiden Marian Krzaklewskis.
Dass er praktisch keine Chance hat, gegen den postkommunistischen Amtsinhaber Aleksander Kwasniewski zu gewinnen, wissen alle Beteiligten. Als Erfolg gälte aber schon, wenn es ihm gelänge, mit dem zweitbesten Ergebnis nach Kwasniewski eine Stichwahl zu erzwingen. Dazu muss natürlich eine absolute Mehrheit Kwasniewskis in der 1. Runde verhindert werden. 1990 und 1995 kam es zu solchen zweiten Runden, jeweils 14 Tage nach dem ersten Wahlgang. Doch nun ist fraglich, ob Kwasniewski nicht schon in der ersten Runde 50 % erreicht.
Die Wahlaktion "Solidarnosc (AWS)
Der Präsidentschaftswahlkampf der AWS dient, neben dem Überleben Krzaklewskis als AWS-Vorsitzender, noch zwei anderen Zielen, die natürlich eng mit der Stellung Krzaklewskis in seiner eigenen Formation zusammenhängen: nämlich der Eliminierung konkurrierender Parteien und Politiker auf der extremen Rechten, und die schnellstmögliche Umgestaltung der AWS in eine echte politische Partei.
Das erste Ziel wurde am 9. Juli auf der großen Auftaktveranstaltung zu Krzaklewskis Wahlkampf deutlich: Sowohl bezüglich der europäischen Integration, als auch bei Fragen der Beurteilung der Vergangenheit bediente er vor allem die nationalklerikale Klientel. Damit versucht Krzaklewski, den konkurrierenden Kandidaten Jan Lopuszanski (unterstützt von Radio Maria) und Lech Walesa den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Das zweite Ziel ist die Ausnutzung des Mobilisierungseffekts im Wahlkampf, um in der AWS auch institutionell größere Geschlossenheit zu erreichen. Im Moment ist geplant, Anfang bis Mitte September den Versuch einer echten Parteigründung zu unternehmen.
Bisher ist die Wahlaktion Solidarnosc lediglich eine Listenverbindung und eine Fraktionsgemeinschaft; sie hat zwar auch eine gemeinsame Institution, den Rat, und einen Vorstand (Krzaklewski ist Vorsitzender), aber keine eigene Infrastruktur; die vier politischen Parteien (RS-AWS, ZChN, SKL, PPChD) und die Gewerkschaft "Solidarnosc", sowie eine kleine Zahl von Mini-Organisationen, bilden als formell unabhängige Subjekte das Rückgrat der AWS.
Die Fraktion im Sejm, die auch (entsprechend den Einzelparteien) informell in "Kreise" aufgespalten ist, stellt die einzige operative gemeinsame Institution dar. All das soll sich ändern. Dabei konkurrieren zwei Modelle miteinander: Die gemäßigte Lösung sieht eine Parteienföderation vor, in der zwar stärkere gemeinsame Institutionen geschaffen werden und die Stimmengewichtung im Rat überarbeitet wird, aber die Parteien noch als Organisationen erhalten bleiben. Die radikalere Lösung, der Krzaklewski selbst zuneigt, geht von der Auflösung der bisherigen Parteien und der Gründung einer neuen aus. Geplant ist, diesen Schritt ca. zwei Wochen vor dem Wahltermin (8.10.) zu vollziehen, um der Kampagne einen positiven Impetus zu geben - aber nur, wenn sie bis dahin Wirkung gezeigt hat und Krzaklewski in den Umfragen zumindest nach dem Amtsinhaber an zweiter Stelle liegt.
Bis zur nächsten Sejm-Wahl im Frühjahr 2001 wird die AWS höchstwahrscheinlich zusammenhalten. Ein Wahlsieg ist allerdings kaum zu erwarten, da der Stimmungsvorsprung der postkommunistischen SLD von derzeit ca. 20 Prozentpunkten bei der Sonntagsfrage kaum noch aufholbar erscheint. Sollte die AWS dann eine vernichtende Niederlage erleben, wäre ihr Zusammenhalt - und damit ihre Zukunft - stark in Frage gestellt. Aber wie venichtend die Niederlage ausfällt, darüber entscheidet wiederum auch die Präsidentenwahl.
Die Freiheitsunion (UW)
Die UW steht, nach ihrer doppelten Abmeldung aus der aktiven Politik (Verlassen der Koalition, Nichtnominierung eines Präsidentschaftskandidaten) kaum besser da als die AWS. Zwar sind ihre Umfragewerte relativ stabil (um 10 %). Sie hat aber im Moment nicht einmal ein konkretes Zieldatum, auf das sie hinarbeiten könnte (wie den 8. Oktober), noch die mit einem Wahlkampf einhergehenden Effekte der erhöhten Medienpräsenz oder der Mitgliedermobilisierung.
Am schwersten aber wiegt, dass sie derzeit auch keine mittel- oder langfristige Strategie vorweisen kann: Mit dieser AWS (d.h. unter Krzaklewski und mit starkem Gewerkschaftseinfluss) wird sie nie wieder koalieren. Eine andere AWS wird es in dieser Breite aber kaum geben. Und von einem Konsens über eine mögliche zukünftige Koalition mit der postkommunistischen SLD ist die UW noch sehr weit entfernt.
Darüber hinaus hat sie keine Wachstumsstrategie, wie sie je aus dem Ghetto von 10-14 % der Stimmen und ca. 60 von 460 Sejmmandaten herauswachsen könnte. Das alles hat zur Folge, dass der Widerstand gegen den Parteivorsitzenden, Prof. Leszek Balcerowicz, stärker ist als je zuvor in dessen bisher sechsjährigen Amtszeit. Schon seit den unbefriedigend ausgegangenen Kommunal- und Woiwodschaftswahlen im November 1998 war in der Sejm-Fraktion der Widerspruch gegen ihn gewachsen. Nun gewinnt er auch unter den Regionalführern der Partei stark an Boden. Manche Beobachter sehen Bronislaw Geremek als potenziellen Nachfolger Balcerowicz'.
Aber noch ist nichts entschieden: Leszek Balcerowicz zeigt in den letzten Wochen neuen innerparteilichen Kampfesmut, schon allein deswegen, weil der selbstauferlegte Stress der letzten Jahre sich gemildert hat, seit er nicht mehr Finanzminister, sondern nur noch Parteivorsitzender ist.
Außerdem ist eins wichtig zu betonen: Die UW hat schon viele Krisen durchgemacht, in denen sie in den Abgrund blickte, und immer wieder überlebt. Ihre größte Schwäche, also die begrenzte Stammwählerschaft in Intelligenz und Mittelschicht, ist gleichzeitig ihre größte Stärke. Anders ausgedrückt, was sie daran hindert, über 15 % hinauszukommen, ist auch das, was sie davor bewahrt, wesentlich unter 10 % zu sinken: ihre elitär-moderne Verortung im Parteienspektrum, die bei Jungen und Gebildeten immer noch überdurchschnittlich gut ankommt. Die CDU wäre schlecht beraten, die UW fallen zu lassen, zumal eine sichere Alternative weder im Hinblick auf Dauerhaftigkeit noch auf programmatische Kompatibilität in Sicht ist.
Europapolitik
Die Regierung Buzek ist sich der Tatsache voll bewusst, dass sie in der Rechtsangleichung an die EU große Rückstände aufzuholen hat. Gerade nach der Bildung der Minderheitsregierung sieht man die Notwendigkeit, die EU zu überzeugen, dass Polen die Beitrittsfähigkeit am 1.1. 2003 herstellen kann. Deswegen wurde im Sejm am 21. Juli, mit den Stimmen von AWS, UW und SLD, ein "Sonderausschuss Europarecht" geschaffen, der die Rechtsangleichung beschleunigen soll: Er muss helfen, in den nächsten beiden Jahren noch über 100 Gesetze auf den Weg zu bringen.
Dabei bleibt der jetzige Ausschuss für Europaangelegenheiten, der sich in Zukunft mit Fragen der Verhandlungsstrategie und -taktik und der Informationspolitik der Regierung beschäftigen soll, bestehen. Es gelang am 21. Juli aber nicht, einen Vorsitzenden für den neuen Ausschuss zu wählen. Der bisherige Favorit, Bronislaw Geremek, erhielt nicht die nötige Zustimmung von AWS und SLD, die jeweils eigene Kandidaten vorschlugen. Die Wahl wurde vertagt.
Parallel zur Schaffung des Ausschusses gibt es auch eine schriftliche Einigung zwischen Minderheitsregierung und den nun drei wichtigen Oppositionsparteien (SLD, UW, PSL) über größtmöglichen Konsens in Fragen der Vorbereitung auf die EU-Mitgliedschaft. Im Gegenzug können diese Parteien Beobachter in das Komitee für Europäische Integration (KIE), einen Kabinettsausschuss, entsenden und werden über den Fortgang der Verhandlungen mit Brüssel unmittelbar informiert.
Gleichzeitig hat Marian Krzaklewski zum Auftakt seines Präsidentschaftswahlkampfes am 9. Juli die Europapolitik als Feld zur Polarisierung gegenüber der Linken allen anderen Themen vorangestellt. Den Postkommunisten und dem "linken Flügel" in der UW - ein unsinniges Etikett, denn in der Europapolitik gibt es keine Flügel in der UW - warf Krzaklewski vor, aus der Schaffung einer neuen europäischen Identität eine Ideologie zu machen, und die praktischen Interessen Polens (wirtschaftliche Modernisierung, Lösung sozialer Probleme, Landwirtschaft) zu vernachlässigen.
Den Postkommunisten warf er vor, heute nach Brüssel zu pilgern wie früher nach Moskau. Am Schluss plädierte er für "ein Europa der Vaterländer, ein Europa Johannes Pauls II, und nicht ein Europa linker Utopien".
Außerhalb der AWS wurden diese Worte ausgesprochen kritisch aufgenommen, aus zwei Gründen:
- Mit der Polarisierung und der Verteufelung der Opposition als "Vaterlandsverräter" konterkariert er Premier Buzeks Bemühungen um einen parteiübergreifenden Konsens in der Europapolitik im Sejm.
- Er macht es der AWS damit ausgesprochen schwer, einem in Zukunft wahrscheinlich von einer SLD-geführten Koalition unterzeichneten Beitrittsabkommen Polens zur EU zuzustimmen. Vielleicht bereitet er sogar schon eine Nein-Position der AWS in einem zukünftigen EU-Referendum vor.