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Country Reports

Nach Sharm El-Sheik: Kein Ende der Gewalt

by Gregor B. M. Meiering
Die politischen Problemlagen im Nahen Osten erschöpfen sich nicht in den Wandlungen des Friedensprozesses zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn. Dennoch hat die Palästinafrage in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wie kein anderes Thema die verschiedensten Konflikte in der Region strukturiert. Während die Existenz Israels in den Grenzen von 1948 faktisch von keinem arabischen Staat – und rhetorisch nur bisweilen von einigen – infrage gestellt wird, bedroht die seit 1967 andauernde Besetzung arabischer Gebiete dauerhaft die politische Stabilität und das wirtschaftliche Entwicklungspotential der gesamten Südflanke der Europäischen Union.

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Der Friedensprozess von Oslo

In dieser Perspektive erfolgte die internationale Unterstützung des Verhandlungsprozesses, der nach dem Krieg um Kuwait 1990 in die gesamtregionale Friedenskonferenz von Madrid 1991 mündete. Als im September 1993 nach geheimen Konsultationen in Norwegen die PLO und Israel einander anerkannten, wurde der Weg für den Friedensprozess zwischen den beiden Hauptantagonisten des Konflikts frei. Aus gutem Grund sind daher die verschiedenen Verhandlungsetappen zwischen Palästinensern und Israelis als Friedensprozess von Oslo bezeichnet worden.

Am 4. Mai 1994 wurde in Kairo das Gaza-Jericho Abkommen geschlossen, das auf der Basis einer zunächst begrenzten, später erweiterten, territorialen Autonomie die Palästinensische Autonomiebehörde (Palestine National Authority, PNA) ins Leben rief, mit dem Ziel, in den 1967 besetzten Gebieten des Westjordanlandes einschließlich Ost-Jerusalems und des Gaza-Streifens den Staat Palästina aufzubauen.

Kernprobleme wie die Lösung der Flüchtlingsfrage, die Staatsgrenzen, der Status Jerusalems, die jüdischen Siedlungskolonien, die Sicherheit und die auswärtigen Beziehungen sollten als Endstatusfragen nach Ablauf von fünf Jahren geregelt werden.

Im Mai 1999 verstrich dieser Termin allerdings, ohne dass diese besonders schwierigen Punkte gemäss dem Wye River Memorandum vom 23. Oktober 1998 einer Lösung nähergebracht worden wären. Im Abkommen von Sharm El-Sheik vom 4. September 1999 wurde diese Verzögerung des Zeitplanes vom neuen israelischen Ministerpräsidenten Barak und vom Präsidenten der PNA, Arafat, dahingehend anerkannt, dass zum 13. September 1999 die Endstatusverhandlungen beginnen und binnen eines Jahres beendet werden sollten.

Der versuchte Endspurt: Camp David II

Als sich im Sommer des Jahres 2000 abzeichnete, dass es ohne eine intensive Vermittlung nicht zu einer entscheidenden Behandlung der Endstatusfragen kommen würde, lud der amerikanische Präsident Clinton die Parteien zu Klausurgesprächen nach Camp David ein. Am 26. August 2000 endeten zwei Wochen Verhandlungen, ohne dass ein Durchbruch erzielt worden wäre.

Aufgrund seiner aus israelischer Sicht im ganzen zuverlässigen Amtsführung als Präsident der Autonomiebehörde erhoffte Arafat akzeptable Vorschläge für die territoriale Gestalt des Westjordanlandes und des Gaza-Streifens sowie kreative Ideen in Bezug auf die Lösung des Flüchtlingsproblems und der Zukunft der Siedlungskolonien.

Bei der zentralen Frage nach dem Status Jerusalems ging Arafat davon aus, dass allein die USA in der Lage seien, eine Lösung herbeizuführen, die für die palästinensische Seite annehmbar sein würde. Er setzte auf die Möglichkeit, dass Clinton in Camp David auf Israel Druck würde ausüben können, so wie Präsident Carter bei den israelisch-ägyptischen Friedensverhandlungen mehr als 20 Jahre zuvor die Räumung des gesamten israelisch besetzten Sinai gegen den Widerstand Begins durchgesetzt hatte.

Im Sitzungsmarathon von Camp David wurde deutlich, dass der Friedensfahrplan von Oslo nicht eingehalten werden konnte, weil im Grunde bereits die Weichenstellungen nicht stimmten. Seit 1993 beruhte der Friedensprozess von Oslo auf zwei Säulen. Erstens wurde mit der gegenseitigen Anerkennung der PLO und Israels die völkerrechtlich eindeutige Besatzungssituation in einen politischen Schwebezustand zurücktransformiert.

Damit wurde der diplomatischen Kreativität Vorrang gegenüber dem internationalen Recht eingeräumt. Zweitens sollten die Probleme der israelischen Verwaltung mit der Bändigung des palästinensischen Volksaufstandes, der Intifada, in die Hände der Palästinenser selbst übergehen. Damit wurde aus Yasir Arafat die wichtigste Säule der israelischen Sicherheitsarchitektur.

Arafat war diese Kompromisse eingegangen, in der Hoffnung, durch resolutes Einhalten israelischer Sicherheitsauflagen Vertrauen zu erwerben, für das er belohnt werden würde. Palästinensische Maßnahmen gegen die Opposition, insbesondere auch gegen islamistische Kreise, sollten deutliche Signale an die Israelis senden, dass man ihre Bedenken ernst nehme.

In Camp David zerschlugen sich die Hoffnungen auf eine Beendigung des Konflikts an der Jerusalemfrage. Es wurde deutlich, dass die israelische Seite - gleich ob Netanyahu oder Barak - den Palästinensern in Ost-Jerusalem nicht die gleiche Souveränität zuzugestehen bereit war, die Israel seit 1948 im Westteil der Stadt beansprucht und die es seit 1980 auf ganz Jerusalem übertragen hatte.

Mit der Aufgabe des Gedankens einer Internationalisierung Groß-Jerusalems - wie im UNO Teilungsplan von 1947 vorgesehen - war auf palästinensischer Seite das implizite Einverständnis gegeben, den Westteil der Stadt unter israelischer Souveränität zu belassen und lediglich den 1967 besetzten Ostteil Jerusalems als Hauptstadt Palästinas einzufordern.

Die israelische und die palästinensische Seite verpflichteten sich in Camp David, keine Maßnahmen zu treffen, die einseitig den Verhandlungsstatus ändern würden. Dies bedeutet konkret eine Aussetzung der Proklamation des Staates Palästina, die für den 13. September 2000, den Tag des Ablaufs des modifizierten Interimsabkommens, vorgesehen war. Doch bevor eine neue amerikanische Initiative erfolgen konnte, erlag der Friedensprozess der israelischen Innenpolitik.

Während Ministerpräsident Barak insbesondere aufgrund der Auseinandersetzungen mit der religiösen Schas-Partei mit dem Schrumpfen seiner Regierungsmehrheit in der Knesset konfrontiert war, nutzte Ariel Scharon die Situation, um den oppositionellen Likud als Alternative zu profilieren und gleichzeitig seinen Führungsanspruch in der Partei gegenüber dem ehemaligen Ministerpräsidenten Netanyahu zu bekräftigen, gegen den Ermittlungen des israelischen Generalstaatsanwalts gerade eingestellt worden waren.

Die Außenpolitik der Innenpolitik

Der auch durch die Medien in Szene gesetzte Auftritt Scharons am 28. September 2000 auf dem Tempelberg, der als Al-Haram Al-Scharif unter der Aufsicht der Islamischen Stiftungsverwaltung steht, zeitigte die vom Likud erhofften palästinensischen Proteste. Zum einen sollte die Führung der Autonomiebehörde als friedensunfähig entblößt werden, zum anderen sollte Ministerpräsident Barak als politikunfähig in dem Punkt dargestellt werden, in dem er in Camp David immerhin noch relative Flexibilität gezeigt hatte, nämlich in der Frage nach der Zukunft Ost-Jerusalems.

Barak reagierte auf diese zunächst rein innenpolitische Herausforderung mit einer Demonstration der Stärke gegenüber den Palästinensern, die die Abriegelung der Städte im Westjordanland und des Gaza-Streifens mit einem neuen Aufstand, der Intifada Al-Aqsa, beantworteten. Wie zwischen 1987 und 1993 stehen einander seit drei Wochen die stärkste Armee des Nahen Ostens und vorwiegend jugendliche Steinewerfer gegenüber.

Während in den A-Zonen der Autonomie die Lage ruhig blieb, entzündeten sich Konflikte an den Übergängen zu den Zonen B und C, an denen israelischen Truppen der Befehl erteilt worden war, den Palästinensern die Überlegenheit des Besatzungsregimes zu demonstrieren. Erste palästinensische Todesopfer von gummibeschichteten Stahlgeschossen und später regulärer Munition führten zu einer Ausbreitung der Proteste, auf die die israelische Regierung mit einer Eskalation reagierte.

Die Erschießung des zwölfjährigen Muhammad Durrah durch israelische Truppen vor laufender Fernsehkamera sowie nächtliche Angriffe radikaler jüdischer Siedler auf palästinensische Wohngebiete im Westjordanland und Ost-Jerusalem drehten weiter an der Spirale der Gewalt, die mit Scharons innenpolitischem Schachzug begonnen hatte. Als der UNO Sicherheitsrat in seiner Resolution 1322 am 7. Oktober 2000 den Auftritt Scharons auf dem Tempelberg als Provokation bezeichnete und insbesondere den unverhältnismäßigen Gewalteinsatz gegen Palästinenser verurteilte, machten die USA bezeichnenderweise nicht von ihrem Vetorecht Gebrauch, sondern enthielten sich lediglich der Stimme.

Trauer über bis dahin rund 100 Tote – davon 30 Kinder – und 3000 Verletzte, Hass und tiefe Frustration auf der palästinensischen Seite mündeten am 12. Oktober 2000 in die Morde an zwei gefangengenommenen israelischen Soldaten, die sich israelischen Angaben zufolge in das Autonomiegebiet Ramallah verirrt hatten (was angesichts von mehreren der Stadt vorgelagerten israelischen Kontrollpunkten kaum denkbar ist).

Die von einer aufgebrachten Masse gegen den Widerstand der palästinensischen Polizei geübte brutale Lynchjustiz zog den israelischen Raketenbeschuss auf Sicherheitseinrichtungen der Autonomiebehörde in Al-Bireh, Ramallah, Gaza, Nablus, Jericho und Hebron nach sich und führte – aufgrund seiner Lage im Zentrum der Kampfhandlungen – unter anderem zur Evakuierung des Palästina-Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung. Die Autonomiebehörde reagierte auf die Bombardierung der Polizeistationen mit der teilweisen Freilassung von palästinensischen Inhaftierten, die Arafat im Auftrag der israelischen Seite in den Jahren zuvor festgenommen hatte.

Konferenzmarathon: Sharm El-Sheik

Die amerikanische Diplomatie setzte auf Deeskalation und berief Israelis und Palästinenser zunächst nach Paris, dann am 17. Oktober 2000 nach Sharm El-Sheik zu einer Gipfelkonferenz, die mit einer Erklärung Präsident Clintons endete, in der die Konfliktparteien aufgefordert wurden, öffentlich zu einem Ende der Gewalt aufzurufen. Ferner wurde vereinbart, eine Untersuchungskommission unter Aufsicht des amerikanischen Präsidenten in Abstimmung mit dem UNO Generalsekretär einzusetzen.

Die USA erklärten schließlich, innerhalb der folgenden zwei Wochen mit den Parteien die Bemühungen fortzusetzen, auf der Basis der UNO Resolutionen 242 und 338 die Verhandlungen über ein Endstatusabkommen wiederaufzunehmen. Abgesehen von der Wiedereröffnung des Flughafens Gaza und einer eher symbolischen Lockerung der Abriegelung des Gazastreifens wurde der status quo ante im wesentlichen nicht wiederhergestellt.

Trotz gegenteiliger Ankündigungen und Presseberichte verblieben die israelischen Besatzungstruppen im wesentlichen in unmittelbarer Nähe zu den A-Zonen der palästinensischen Autonomie. Desgleichen blieben palästinensische Zufahrtswege und Militärkontrollpunkte geschlossen, mit Ausnahme von Umgehungsstrassen für jüdische Siedlungskolonien im Westjordanland.

Es scheint, dass Barak sich aus innenpolitischen Gründen als der Situation gewachsen erweisen wollte; israelische Panzer und schweres Gerät verblieben unmittelbar an den Berührungspunkten mit der palästinensischen Autonomie, obwohl deren Abzug kein Sicherheitsrisiko für Israel darstellte. Im Gegenteil, lediglich ihr Verbleib reizte zur Fortführung des ungleichen Kampfes zwischen der stärksten Armee des Nahen Ostens und zumeist jugendlichen Steinewerfern. Nur in der Siedlungskolonie Gilo zwischen Jerusalem und Bethlehem sowie bei Nablus kam es zu Schusswechseln mit palästinensischen paramilitärischen Gruppen.

Konferenzmarathon: Gipfelkonferenz der Arabischen Liga

Während damit die Situation in den palästinensischen Gebieten unverändert blieb und weiterhin Tote und Verletzte zu beklagen waren, bemühte sich die amerikanische Diplomatie, mit dem Treffen von Sharm El-Sheik ein positives Signal zu setzen, das von der Gipfelkonferenz der Arabischen Liga aufgenommen werden sollte.

Das Treffen der Staats- und Regierungschefs vom 21. bis 22. Oktober 2000 in Kairo war überschattet von Massenprotesten in nahezu allen arabischen Ländern gegen die israelische Besatzungspolitik und gegen die im allgemeinen nur rhetorische Unterstützung der arabischen Regierungen für die Palästinenser. Insofern musste die Gipfelkonferenz einen Ton treffen, der einerseits den arabischen Beziehungen zu - und Abhängigkeiten von - den USA Rechnung trug, andererseits der wachsenden Notwendigkeit der Rechtfertigung gegenüber den eigenen Bevölkerungen nachkam.

Dies gilt insbesondere für Ägypten und Jordanien, aber auch für Saudi Arabien, von dem nicht wenige erwarteten, dass es zur Ölwaffe greifen sollte. Bereits am 15. Oktober 2000 hatte Ölminister Ali Na'imi allerdings verkündet, dass Saudi Arabien und die übrigen Golfländer die Energieversorgung der Welt sicherstellen würden.

Gleichzeitig warnte Kronprinz Abdallah Israel jedoch erstmals unverhohlen vor militärischen Angriffen auf Syrien oder den Libanon, was zu einer israelischen Mäßigung bei der Massierung von Truppen an der israelisch-libanesischen Grenze führte.

In ihrem Abschlusskommunique stärkte die Kairoer Gipfelkonferenz die diplomatische Position der Palästinenser, indem sie Israel für die Gewalt seit Scharons Auftritt auf dem Tempelberg verantwortlich machte und die Errichtung eines Kriegsverbrechertribunals sowie die Entsendung internationaler Truppen zum Schutz der palästinensischen Bevölkerung verlangte. Mit dem Beschluss zur Aussetzung der Normalisierung der Beziehungen zu Israel verdeutlichten die arabischen Staats- und Regierungschefs, dass Israel seinen Platz in der Region nur unter Aufgabe der 1967 besetzten Gebiete einschließlich Ost-Jerusalems finden könne.

Um die symbolische Bedeutung der Stadt zu unterstreichen und um die Opfer des dreiwöchigen Aufstands zu würdigen, wurde der saudische Vorschlag angenommen, zwei Fonds mit einem Gesamtvolumen von einer Milliarde Dollar einzurichten, um die Opfer der Auseinandersetzungen zu unterstützen sowie um den arabischen und islamischen Charakter Ost-Jerusalems zu erhalten. Während ansonsten allen Staaten anheim gestellt wurde, angemessen zu reagieren, verfügte das Sultanat Oman die Schließung seines Handels- und Tunesien die seines Verbindungsbüros in Tel Aviv.

Kommentare

Bei palästinensischen Medien und Partnern wird deutlich, dass der Frieden die strategische Wahl bleibt. Dennoch sehen viele Beobachter den Friedensprozess in den Mechanismen von Oslo als gescheitert an, gleich ob man in Zukunft noch Abkommen mit Oslo III oder Oslo IV weiternummerieren wird. Während zu Beginn der 90er Jahre Optimismus herrschte, man könne weitreichende politische Kompromisse an die Stelle der strikten Erfüllung von UNO Resolutionen durch Israel setzen, haben die letzten Wochen klar die völkerrechtliche Dimension akzentuiert. (Dies gilt sowohl für Palästina wie für Syrien, dessen neuer Präsident Bashar Al-Asad in diesem Punkt wie sein Vorgänger an der vollständigen Rückgabe des Golan festhalten wird.)

Ferner wird jeder israelische Ministerpräsident in Zukunft in der Person Arafats nur schwer den besten israelischen Polizisten sehen können, als der P LO-Vorsitzende und nachmalige PNA-Präsident 1993 von Rabin reaktiviert worden ist. Gerade die rasche Aufeinanderfolge von flankierenden Konferenzen ist als Beweis für das Scheitern des Mechanismus von Oslo herangezogen worden.

In der territorialen Substanz der Autonomie ist allen Palästinensern vor Augen geführt worden, dass diese sich auf wenige Quadratkilometer der großen Städte des Westjordanlandes und Gazas beschränkt. Die gesamte Infrastruktur: Strom, Wasser, Telefon, Strassen unterliegt dem israelischen Zugriff. Über die Gewährung von Freizügigkeit an Palästinenser entscheidet Israel allein.

Der fortdauernde Entzug von Identitätspapieren von palästinensischen Einwohnern Jerusalems trägt nur zur stärkeren Symbolträchtigkeit des Ringens um die Stadt bei. Gelingt es der israelischen Gesellschaft nicht, die Besatzermentalität zu überwinden und die Palästinenser zu gleichberechtigten Partnern aufzuwerten, kann im Westjordanland und Gaza eine aus Frustration gespeiste Situation wie die im Südlibanon vor dem Abzug der israelischen Besatzungstruppen entstehen. Palästinensische und israelische Medien und Partner zeigen in diesen Tagen im wesentlichen die folgenden Problemkreise auf:

Erstens: Wird Arafat weiter Palästina regieren können?

Die in den internationalen Medien in den letzten Wochen geführte Debatte, ob Arafat die Vorgänge auf der Strasse kontrollieren könne, wird in Palästina in dieser Form nicht geteilt. Die Reaktionen auf den Auftritt Scharons bedurften keiner Orchestrierung; weder zum Auftakt, noch zum Schlussakkord. Gegenüber einzelnen Prätendenten, die dem alternden Palästinenserpräsidenten nachfolgen wollen, wird Arafat in unmittelbarer Zukunft sicherlich noch Machtentscheidungen durchsetzen können. Auch die israelische Seite wird trotz gegenteiliger Beteuerungen der letzten Tage im Zweifelsfall für jeden Kompromiss Arafat als Gewährsmann haben wollen.

Quer durch die palästinensischen Medien sowie bei den meisten Organisationen herrscht der Konsens, dass allein Arafat - in Abwesenheit staatlicher Legitimität im engeren Sinne - die notwendige Autorität hat, bindende Entscheidungen zu fällen. Anders als Syriens verstorbener Präsident Hafiz Al-Asad, der sich in maximalistischen Forderungen ohne den Ansatz zu Teillösungen verstieg, hat Arafat vom Zeitpunkt seiner Rückkehr nach Palästina in den Augen der meisten Beobachter immerhin Teilerfolge verbuchen können. Paradoxerweise werden vermutlich nicht wenige Israelis die hohe Bindewirkung Arafats nach seiner Ablehnung eines Kompromisses über Ost-Jerusalem sogar neu würdigen.

Zweitens: Wer wird in Israel regieren können?

Barak hat keine parlamentarische Mehrheit mehr. Die Direktwahl des Ministerpräsidenten in Israel mag dem Amtsinhaber eine breite Unterstützung im Volk verleihen, nicht aber unbedingt eine Mehrheit im Parlament. Barak ist gegenwärtig in einer Situation, in der er Scharon ein ernsthaftes Angebot zu einer Regierung der nationalen Einheit machen oder aber fürchten muss, von diesem noch innerhalb der nächsten Woche über ein Misstrauensvotum gestürzt zu werden.

Die Folge wären - es gibt in Israel nicht das Instrument des konstruktiven Misstrauensvotums - Neuwahlen, die Barak nicht würde gewinnen können. Andererseits wird Scharon nach Meinung palästinensischer Partner einer Regierung der nationalen Einheit nur beitreten, wenn Barak sein bestehendes Angebot an Kabinettsposten von drei bis vier auf mindestens zehn heraufsetzen wird. Fraglich ist dann, welche Chancen man dem Friedensprozess dann noch wird geben können.

Scharon hat nicht nur die jüngsten Unruhen ausgelöst; er stand hinter den Massakern, die die mit Israel verbündeten christlichen Milizen im Südlibanon 1982 in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Schatila durchgeführt haben. Einige palästinensische Partner erwarten ein comeback von Netanyahu, vorausgesetzt es kommt nicht zu früh zu Neuwahlen; dies wiederum würde ein ausgedehntes Interim Barak-Scharon implizieren.

Drittens: Wohin steuern die USA im Nahen Osten?

Die Position der israelischen Regierung wird insbesondere in der palästinensischen Presse, den internationalen arabischen Satellitenstationen und bei diversen Partnern stark in Abhängigkeit von den amerikanischen Präsidentschaftswahlen im November gesehen. Weder der demokratische noch der republikanische Kandidat wird seine Absichten zur Nahostpolitik in den nächsten Wochen offen legen, es sei denn, äußere Umstände wie etwa eine gravierende Veränderung der Sicherheitslage in der Region würden ihn dazu zwingen.

Gore würde nach Auffassung palästinensischer Partner tendenziell eher dem sogenannten "jewish vote" folgen, Bush und Cheney verfügen bekanntermaßen über ausgedehnte arabische Kontakte, vor allem in die Ölwirtschaft.

Dieser Aspekt amerikanischer Geopolitik ist aber weder unter demokratischen noch unter republikanischen Prämissen zu unterschätzen. Politische Öffnungsbewegungen gerade in den Medien, in Berufsverbänden und in Regierungsstilen der arabischen Halbinsel deuten darauf hin, dass die Ölmonarchien - trotz seit geraumer Zeit steigender Einnahmen - auf die politische Öffentlichkeit in ihren Ländern achten. Würde die Staatsraison in einem ölproduzierenden Land eine aktive Solidarisierung in der Palästinafrage erfordern, würden sich die USA nach allgemeiner Auffassung dem nicht entziehen können.

Viertens: Welche Zukunft haben die israelisch-arabischen Beziehungen?

Es kann kein Zweifel bestehen, dass die in der Friedenskonferenz von Madrid begonnene Normalisierung der Beziehungen einiger arabischer Staaten zu Israel letztlich vom Friedensprozess von Oslo zwischen Israelis und Palästinensern ihre Legitimation erhalten hat. Diese Bindekraft ist nicht mehr gegeben.

Nach entsprechenden Maßnahmen des Sultanats Oman und Tunesiens prüfen derzeit auch das Emirat Qatar und Mauretanien, ob die Beziehungen zu Tel Aviv abgebrochen werden sollen. Mit der Ausnahme Jordaniens und Ägyptens, die sich beide aufgrund der bestehenden Friedensverträge zur Aufrechterhaltung diplomatischer Beziehungen mit Israel verpflichtet sehen, wird auf absehbare Zeit kein Land die bestehende anormale Situation "normalisieren" können, es sei denn, die Situation ändere sich im Umgang der israelischen Seite mit den Palästinensern.

Umgekehrt wird man die gegenwärtige Situation nicht als Verweigerung des Existenzrechts Israels interpretieren dürfen. Als normal muss zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Koexistenz auf niedrigster Stufe betrachtet werden.

Fünftens: Bleiben Ägypten und Jordanien stabil?

Ironischerweise werden die zwei Staaten, die bereits Friedensverträge mit Israel geschlossen haben, in Zukunft vermutlich eine deutlich unsichere Rolle in der Region spielen. Während Syrien und der Libanon sich ihren internen Problemen zuwenden können, ohne auf ihre Positionen im sensiblen Friedensprozess eingehen zu müssen, bergen Ägypten und Jordanien Unruhepotential.

In beiden Ländern können innenpolitische Auseinandersetzungen leicht eine außenpolitische Zuspitzung mit dem Verweis auf den ungelösten Palästinakonflikt erfahren, aus dem Ägypten und Jordanien separat ausgeschieden sind, ohne jemals den offenen Versuch zu unternehmen, die Zustimmung - und sei es die nachträgliche - des Volkes zu gewinnen. Optimistische Beobachter sehen in einer echten Pluralisierung der politischen Kultur der beiden Länder den überzeugendsten Weg, langfristig politische Stabilität und wirtschaftliche Innovation und Entwicklung zu gewährleisten.

Ansätze für die Fortführung der Arbeit im Nahen Osten

Angesichts des innenpolitischen Konfliktpotentials Israels wie auch im Hinblick auf dessen wechselnde Beziehungen zu Staaten in der Region sollte die Konrad-Adenauer-Stiftung Ansätze wählen, die in Zeiten der Krise tragfähig sind. Grundvoraussetzung ist daher, wie bisher hauptsächlich auf der Basis von Länderprogrammen zu arbeiten.

Länderprogramme ermöglichen, in dem relativ geschlossenen Referenzrahmen einer Gesellschaft Maßnahmen der Demokratieförderung und der Unterstützung rechtsstaatlicher Strukturen durchzuführen. Die Stiftung sollte sich nicht dazu verleiten lassen, diese Hauptpfeiler ihrer Arbeit zu relativieren, etwa im Hinblick auf eine ungewohnte Dynamik, die sich aus Demokratisierung und Verrechtlichung in einer Region wie dem Nahen Osten ergeben kann, die traditionell unter dem Primat der kurzfristigen Stabilisierung gesellschaftlicher Zustände gestanden hat.

Regional sollte die Stiftung deshalb nur im Rahmen dessen agieren, was in den Länderprogrammen nach Maßgabe der örtlichen Partner konsensfähig ist. Dies gilt sowohl im Hinblick auf innerarabische Friktionen wie auch in Bezug auf das Verhältnis Israels zu seinen Nachbarn. Statt einer direkten Strategie der Einbindung Israels in regionale Aktivitäten sollte die Stiftung den indirekten Ansatz wählen, die Kooperation erstens innerhalb der arabischen Staaten und zweitens die Zusammenarbeit dieser Länder mit Palästina zu fördern. Dies ist gerade im Hinblick auf die innere Pluralisierung politischer Kulturen in der Region wichtig, weil ein Einschluss Israels in der Regel zum Schulterschluss auf arabischer Seite führt und damit Veränderungen verhindert statt befördert werden.

Ein größeres Interesse muss im Nahen Osten der Medienarbeit entgegengebracht werden. Noch vor zehn Jahren konnten die arabischen Regierungen während des Kuwait-Kriegs weitgehend den Informationsfluss und damit die Meinungsbildung in ihren Ländern bestimmen und manipulieren. Mittlerweile sind diese Möglichkeiten stark beschränkt, so dass in manchen Ländern geradezu dazu übergegangen sind, Transparenz und Pluralismus einzuüben. Bei aller Begrenztheit hat die unter anderem im Fernsehsender Al-Jazeera (Qatar) übertragene Eröffnung des Kairoer Gipfels der Arabischen Liga ein völlig ungewöhnliches Ausmaß an Offenheit erreicht, das ein Gradmesser für noch weiterreichende anstehenden Veränderungen sein kann.

Bezogen auf die Förderung des Friedensprozesses im engeren Sinne wird die Stiftung langfristig dann gute Arbeit leisten können, wenn die Orientierung am internationalen Recht Richtschnur für einzelne Programme ist. Gerade das Vertagen der völkerrechtlich komplexen Fragen auf spätere Zeitpunkte ist dem Friedensprozess von Oslo zum Verhängnis geworden. Die Orientierung am internationalen Recht wird im übrigen auch von Partnern als Ernstnehmen des Prinzips der inneren Rechtsstaatlichkeit verstanden.

Innerhalb des politischen Subsystems Naher Osten wird die Europäische Union in Zukunft eine stärkere Rolle spielen können. Zwar ist es richtig, dass Israel sich in den letzten Jahren ausschließlich auf die USA hin orientiert hat, doch erfolgte dies unter rein sicherheitspolitischen Aspekten. Sobald der Ansatz partnerschaftlicher Beziehungen gewählt wird, sind die europäischen Staaten als Vermittler in einer ungleich besseren Situation. Das allmähliche Umspannen des Mittelmeerraumes mit EU-Assoziationsabkommen deutet auf Möglichkeiten hin, in denen die Stiftung ihre Arbeit im Nahen Osten mit der im Europabüro Brüssel verknüpfen sollte.

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Dr. Alexander Brakel

Alexander.Brakel@kas.de

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