Aus der bulgarischen Parlamentswahl am 11. Juli ist die Partei des Sängers und TV-Moderators Slawi Trifonow ITN („Es gibt so ein Volk“) mit 24,08.% der Stimmen als stärkste Partei hervorgegangen. Die Partei konnte gegenüber der Wahl am 4. April noch einmal 6,38 % zulegen, kam auf ca. 658.000 Stimmen, das sind ca. 92.000 mehr als bei der Wahl am 4. April, bei den Auslandsbulgaren erzielte ITN sogar einen Stimmenanteil von 35,6%. Trifonow hat es damit offenbar nicht geschadet, dass er sich vierzehn Tage nach der Wahl im April in Schweigen hüllte und die Öffentlichkeit im Unklaren über seine Absichten ließ, dass er den Auftrag des Staatspräsidenten, eine Regierung zu bilden, umgehend zurückgab, sich weigerte, während des Wahlkampfs an Debatten teilzunehmen und im Internet vor allem mit widersprüchlichen Versprechungen auftrat. So erklärte er, seine Partei stehe für Rentenerhöhungen, zusätzliche Sozialleistungen und eine umfangreiche Modernisierung der Infrastruktur bei gleichzeitiger Reduzierung des Haushaltsdefizits. Seine Wählerschaft störte es auch nicht, dass er zwar erklärte, selbst nicht Ministerpräsident werden zu wollen, aber auch keinen Kandidaten seiner Partei für dieses Amt präsentierte. Seine populistischen Forderungen wie eine Verkleinerung des Parlaments um 50 % der Sitze, die Kürzung der Wahlkampfkostenentschädigung für Parteien, die Kürzung der Abgeordnetenentschädigung und die Direktwahl des Generalstaatsanwalts reichten offenbar aus, einen nicht unerheblichen Teil der Bulgaren an die Wahlurnen zu bringen und für ihn zu stimmen.
Auf den zweiten Platz kam mit 23,51 % die Partei des früheren Ministerpräsidenten Bojko Borissow GERB (Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens), die in einem Bündnis mit der Union Demokratischer Kräfte SDS antrat. Dieses Ergebnis ist für GERB/SDS zwar nicht zufriedenstellend, das Parteienbündnis verlor gegenüber der Wahl im April fast 200,000 Stimmen und damit 2,69 %, angesichts der Tatsache aber, dass die anderen Parteien und die Interimsregierung während des Wahlkampfes fast täglich schwere Vorwürfe gegenüber der GERB-Vorgängerregierung erhoben hatten, u.a. wegen angeblicher Korruption bei der Vergabe öffentlicher Aufträge, halten sich die Verluste von GERB/SDS in Grenzen.
Die Bulgarische Sozialistische Partei (BSP) hatte im April mit 15 % der Stimmen ein historisch schlechtes Ergebnis erzielt, nun verlor sie weitere ca. 114,000 Stimmen von ca. 480,000 im April erzielten und kam noch auf 13,39 %. Sie hat nur noch Rückendeckung von älteren Wählern im ländlichen Raum mit einfacher Bildung und nostalgischen Erinnerungen an die sozialistische Zeit, auf jüngere, urbane, gebildete Wähler wirkt insbesondere ihre erzkonservative Gesellschaftspolitik (die BSP hatte u.a. die Istanbul-Konvention wütend bekämpft) abstoßend.
Einen Sprung nach vorne machte das Wahlbündnis „Demokratisches Bulgarien“ (DB), bestehend aus der Partei „Ja, Bulgarien“ unter dem Vorsitz des früheren Justizministers Hristo Iwanow, den Demokraten für ein Starkes Bulgarien (EVP-Mitgliedspartei) und den Grünen. Das Bündnis kam auf 12,64 % der Stimmen, ein Plus von 3,14 % gegenüber der letzten Wahl. In Sofia kam das Bündnis erneut auf den ersten Platz, es punktete daneben in anderen größeren Städten bei Wählern mit hohem Bildungsniveau und bei Auslandsbulgaren (18,6 %).
Die inoffizielle Partei der türkischen Minderheit Bewegung für Rechte und Freiheit (DPS) kann sich auf ihre Stammwählerschaft verlassen, mit 10,71 % der Stimmen erzielte sie in etwa das gleiche Ergebnis wie im April (10,5 %).
Auch das Wahlbündnis „Steh auf! Fratzen raus“ unter Führung der früheren Ombudsfrau Maja Manolowa hat sich konsolidiert und kam auf 5,01 % der Stimmen. Innerhalb des Bündnisses, dem auch die EVP-Mitgliedspartei Bulgarien der Bürger (DBG) angehört, war es zwischen den Wahlen zu Spannungen gekommen, die aber rechtzeitig geglättet werden konnten.
Alle anderen Parteien, darunter auch die Nationalisten, blieben unterhalb der 4 % Hürde.
Die Wahlbeteiligung lag nur bei 41 % (50,6 % im April).
Die noch inoffizielle Sitzverteilung im Parlament sieht wie folgt aus:
ITN 65, GERB 63, BSP 36, DB 34, DPS 29, „Steh auf! Fratzen raus“ 13.
Wie geht es weiter?
Bereits am Tag nach der Wahl verkündete Slawi Trifonow in dem ihm gehörenden Fernsehsender und auf Facebook, seine Partei werde „Verantwortung für die Bildung einer Regierung“ übernehmen, eine Koalition mit anderen Parteien lehne er ab. Gleichzeitig präsentierte er ein komplettes Kabinett und lud die anderen im Parlament vertretenen Partei ein, dieses zu unterstützen.
Als künftigen Ministerpräsidenten schlug er Nikolai Wassilew vor, der 2001 stellvertretender Ministerpräsident und Wirtschaftsminister wurde, als die Königsbewegung NDSW die Regierung stellte. Später war er Verkehrsminister sowie von 2005 bis 2009 Minister für Staatsverwaltung. Seine Tätigkeit als Minister wird kontrovers beurteilt. Für die Königsbewegung bekleideten auch der jetzt als Außenminister vorgeschlagene Radi Najdenow (er war auch Botschafter Bulgariens in Österreich und in Deutschland) und der nominierte Wirtschaftsminister Ljubomir Datzow bereits Regierungsämter. Der als Innenminister vorgesehene Nikolaj Radulow war als Generalsekretär im Innenministerium tätig. Alle anderen vorgeschlagenen Kabinettsmitglieder wurden als Experten mit herausragenden Universitätsabschlüssen und Fremdsprachenkenntnissen vorgestellt, politische Erfahrung haben sie nicht. Trifonow erklärte auch, er hätte gern drei Minister der Interimsregierung im Amt belassen, diese hätten jedoch abgelehnt. Noch am selben Tag erklärten die Angesprochenen, sie könnten dieses Angebot nicht annehmen, weil nach Gesprächen mit ITN klar geworden sei, dass „erhebliche Differenzen zwischen den Visionen bezüglich der Finanzpolitik und der Hauptaufgaben für die nächste Periode“ bestünden.
Gleichzeitig präsentierte er politische Ziele einer solchen Regierung: Kürzung der Wahlkampfkostenerstattung für die Parteien, Einführung des Mehrheitswahlrechts, Verbesserung der Transparenz bei der Vergabe öffentlicher Aufträge, Personalabbau im öffentlichen Dienst und Digitalisierung der Dienstleistungen, Mitgliedschaft in der Eurozone und im Schengen-Raum, Abschaffung des spezialisierten Gerichts und der entsprechenden Staatsanwaltschaft, die für Verfahren in Zusammenhang mit der organisierten Kriminalität zuständig sind, Privatisierung der BBR-Bank, die Kredite an KMU vergeben soll und die zuletzt im Kreuzfeier der Kritik stand, schnelle Fertigstellung der Erdgasanbindung an Griechenland, Bau aller geplanten Autobahnen, Ankauf von Rettungshubschraubern, Bau eines Kinderkrankenhauses, das seit Jahren Objekt von Kontroversen ist, Bau neuer Kindergärten, vor allem in Sofia, Ankauf von 1 Million Tablets für Schüler und Lehrer, Mitgliedschaft Bulgariens in der ESA, bulgarische und mazedonische Astronauten bei der NASA.
Dies seien die Ziele des bulgarischen Volkes, ob sie auch die Ziele des neugewählten Parlaments würden, müsse sich zeigen.
Die erste Reaktion auf diesen Auftritt Trifonows kam von Bojko Borissow: Es sei gar nicht das Ziel Trifonows, eine Regierung zu bilden, er wolle vielmehr bewirken, dass die vom Präsidenten eingesetzte Interimsregierung im Amt bleiben könne. In einem anderen Statement erklärte er, dass es sich in einem Dilemma befinde, da er nicht wisse, welches das kleinere Übel sei – die von ITN vorgeschlagene Regierung zu unterstützen oder nicht.
Die BSP-Vorsitzende Kornelia Ninowa erklärte, sie werde die von Trifonow vorgeschlagene Regierung nicht unterstützen, sollte die BSP den Auftrag zur Regierungsbildung als dritte Kraft erhalten, werde sie versuchen, eine Regierung zu bilden, Neuwahlen müssten vermieden werden. Die BSP-Europaabgeordnete Elena Jontschewa sprach sich hingegen indirekt dafür aus, das Trifonow-Kabinett zu unterstützen.
Hristo Iwanow äußerte für das Demokratische Bulgarien (DB) die Vermutung, der Vorschlag Trifonows beruhe auf einem „Hinterzimmerdeal“ mit der DPS, deren Einfluss sein Bündnis verringern wolle. Das DB strebe eine umfassende Justizreform und die Ablösung des jetzigen Generalstaatsanwalts an, ein erneutes Bündnis von „Königsbewegung, BSP und DPS“ (wie im Zeitraum 2005-2009) müsse verhindert werden.
Ein Vertreter von „Steh auf! Fratzen raus“ äußerte, Trifonow wolle eine „Facebook-Republik“ schaffen, und die Vorsitzende des Bündnisses Maja Manolowa erklärte, die Regierung müsse in einem verfassungsmäßigen transparenten Verfahren und nicht „hinter den Kulissen“ erfolgen. Sie schlug vor, eine vom Präidenten mit der Regierungsbildung beauftragte Fraktion solle das derzeitige Interimskabinett dem Parlament als reguläre Regierung zur Wahl vorschlagen.
Die Bewegung für Rechte und Freiheiten (DPS) hüllt sich zunächst in Schweigen. Spekulationen, dass es Absprachen zwischen Trifonow und der DPS gibt, nehmen aber bereits zu.
Natürlich zögern die anderen Parteien, die von Trifonow vorgeschlagene Regierung zu unterstützen, auf deren personelle Zusammensetzung ihnen dieser ebenso wenig Einfluss einräumen will wie auf deren Programm. In Medien wurden aber spekulative Varianten durchgespielt, bei denen lediglich 121 von allen 240 Abgeordneten an der Abstimmung über die Regierung teilnehmen, wobei in diesem Falle die 65 Abgeordneten von ITN ausreichen würden, um ein Kabinett zu wählen.
Sollte die von Trifonow vorgeschlagene Regierung ins Amt kommen, so müssten die anderen Parteien jedoch damit rechnen, im Parlament mit zahlreichen immer populistischeren Forderungen Trifonows konfrontiert zu werden, denen sie unmöglich zustimmen könnten. Nach einiger Zeit würde Trifonow dann wohl auf Neuwahlen mit dem „Argument“ hinarbeiten, er brauche mehr Stimmen und Parlamentssitze, um sein Programm umsetzen zu können.
Wenn die von Trifonow vorgeschlagene Regierung durchfallen sollte, käme GERB zum Zug, hätte jedoch aus Mangel an Koalitionspartnern keine Chance, eine Regierung zu bilden. Bojko Borissow hat sich bisher nicht klar geäußert, ob GERB überhaupt einen entsprechenden Versuch unternehmen würde. Dann hätte der Präsident die Wahl, einer der kleineren Parlamentsfraktionen den Auftrag zur Bildung einer Regierung zu erteilen, und diese stünden vor dem gleichen Problem. Sollten sie scheitern, würden die Bulgaren zum dritten Mal in diesem Jahr an die Urnen gerufen. Aus einer politischen Krise würde eine Krise der Demokratie.
Keine Partei, die sich demokratisch nennt, kann dies wollen. Keine der im Parlament vertretenen Parteien hat auch nur ein Viertel der Wählerschaft hinter sich. Keine der im Parlament vertretenen Parteien kann daher den Anspruch stellen, allein die Regierung zu bilden und deren Programm zu schreiben. Jetzt sind Pragmatismus und Kompromissbereitschaft gefordert, alle Parlamentsfraktionen sollten ohne Vorbedingungen miteinander sprechen. Für Bulgarien steht viel auf dem Spiel.