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Country Reports

Verhandlungsmarathon mit Minimalkonsens

by Franz-Josef Reuter, Mark C. Fischer

Der Europäische Rat von Nizza

"Wir werden sagen, dass der Gipfel ein Erfolg war, weil wir das immer sagen", so lautet der geradezu sarkastische Kommentar des schwedischen Ministerpräsidenten Göran Persson zum längsten Gipfeltreffen in der 44-jährigen Geschichte der Europäischen Union.

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Der Machtpoker von Nizza gefährdet die europäische Idee

"Tage der Harmonie" sollte Nizza erleben. Doch der Gipfel der Europäischen Union begann am 7. Dezember 2000 mit einem wahren Feuerwerk von Chaoten, die das mondäne Seebad an der französischen Riviera in ein wüstes Schlachtfeld verwandelten. Ein böses Omen für einen der wichtigsten Gipfel der Gemeinschaft überhaupt.

Im belagerten Konferenzpalast wurde mit anderen Waffen gekämpft. In Nizza ging es um alles - vor allem um die Macht. In einer künftig um die Staaten Mittel- und Osteuropas erweiterten EU wollte sich vor allem der Ministerrat positionieren - auf Kosten der Brüsseler Kommission. Auf die europäische Idee wirkte dieser Machtpoker geradezu zerstörerisch. Ein einseitiges Übergewicht des Rates gegenüber der Kommission, aber auch gegenüber dem Europaparlament hätte dazu geführt, dass in Zukunft nur die Eigeninteressen der EU-Mitglieder den europäischen Takt bestimmen. Dieser Weg wäre zweifellos in der Sackgasse geendet. Zum Glück erzielte der zäheste und längste Verhandlungsmarathon in der Geschichte der EU letztendlich eine zaghafte Annäherung an das gebotene Gleichgewicht von Kommission, Rat und Parlament.

Der Streit zwischen Paris und Berlin über die Reformpolitik belastete das Gipfelklima von Beginn an schwer. Schröder und Chirac hätten sich um ein Haar in einem Klein(karierten)-Krieg um die künftige Stimmengewichtung Deutschlands und Frankreichs innerhalb der EU verzettelt. Der französische Staatschef ist durch eine Spendenaffäre aus seiner Zeit als Oberbürgermeister von Paris überdies angeschlagen, was ihn als Verhandlungspartner unberechenbar machte. Darüber hinaus erschwerte ihm die "Cohabitation" mit dem sozialistischen Premierminister Lionel Jospin, die von einer EU-Präsidentschaft erwarteten Zugeständnisse zu unterbreiten. Im Hinblick auf die kommenden Präsidentschaftswahlen, in denen Jospin sein Gegenspieler sein wird, musste Chirac unbedingt als erfolgreicher Kämpfer für französische Interessen aus dem Gipfel hervorgehen.

Erst gegen Ende der Verhandlungen, als sich nichts mehr zu bewegen schien, waren Chirac und Schröder bereit, über den Tellerrand staatlicher Eigeninteressen zu schauen, so wie Mitterand und Kohl es in der Vergangenheit immer wieder konnten.

Fazit bleibt auch: Zu wirklichen Opfern ist kein EU-Mitglied ernsthaft bereit. Das Vetorecht bleibt eine heilige Kuh, die weder Briten, Spanier, Franzosen, noch die Deutschen schlachten werden. Doch ohne wirklichen Durchbruch in den Entscheidungsstrukturen wird die 15er Gemeinschaft nicht aufnahmefähig sein. Tony Blair durfte schon am zweiten Tag einen Toast ausbringen. Er war mit der von Beginn an vorgegebenen Devise "das Beste für Großbritannien herauszuholen" erfolgreich geblieben. Bei der politischen Ausgestaltung der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik konnte sich der britische Premier gegen die Gastgeber durchsetzen, und auch sein unerbittliches Beharren auf dem nationalen Veto bei jeglicher Koordinierung der Steuerpolitik übernahmen die Franzosen letztendlich. Erst in fünf Jahren soll "einstimmig" geprüft werden, ob Unternehmensbesteuerung und indirekte Steuern zukünftig auf EU-Ebene in Brüssel verhandelt werden.

Auch die unnachgiebige Position des spanischen Regierungschefs José Maria Aznar, im Hinblick auf die Einführung von Mehrheitsentscheidungen bei den EU-Strukturfonds, war entmutigend. Mut aber hatte der deutsche Bundeskanzler mit Blick auf die historische Verantwortung für die Erweiterung der EU und Einigung Europas vom Gipfel gefordert. Davon war in Nizza wenig zu spüren. Kompromisse gibt es - wie so oft - nur auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner - siehe Grundrechtecharta, diese besitzt jedoch nicht einmal Rechtskraft. Europa steht nach wie vor am Scheideweg.

Die wichtigsten Punkte der Einigung

Die Stimmengewichtung im Rat und im Europäischen ParlamentDas Machtverhältnis im Ministerrat ist neu justiert worden und die Beitrittskandidaten werden eingeordnet. Deutschland bleibt in der Stimmenanzahl auf einer Stufe mit den anderen drei "Großen" - also keine "décrochage" mit Frankreich, Großbritannien und Italien - kann aber seinen Einfluss durch den sogenannten "demographischen Faktor" ausweiten.

Deutschland kann als einziges EU-Mitglied zusammen mit zwei anderen großen EU-Staaten eine Blockade von Entscheidungen ermöglichen. Als "Ausgleich" für den Verzicht auf die Stimmenmehrheit im Rat konnte die deutsche Regierung zusätzlich erreichen, dass die Anzahl der deutschen Abgeordneten in einem auf voraussichtlich 732 Sitze vergrößerten Europäischen Parlament noch erhöht wurde.

Gewichtete Stimmen im Rat der Europäischen Union
Mitgliedstaat Stimmenzahl (Ist) Stimmenzahl (Soll) Beitrittskandidat Stimmenzahl (Soll)
Deutschland 10 29 Polen 27
Frankreich 10 29 Rumänien 14
Italien 10 29 Tschechien 12
Großbritannien 10 29 Ungarn 12
Spanien 8 27 Bulgarien 10
Niederlande 5 13 Slowakei 7
Griechenland 5 12 Litauen 7
Belgien 5 12 Lettland 4
Portugal 5 12 Slowenien 4
Schweden 4 10 Estland 4
Österreich 4 10 Zypern 4
Dänemark 3 7 Malta 3
Finnland 3 7    
Irland 3 7    
Luxemburg 2 4    
Quelle: Bulletin Quotidien Europe, 11./12. Dezember 2000

Diese Tabelle zeigt die vorgeschlagene Stimmenanzahl der 15 EU-Mitgliedstaaten und der 12 Beitrittskandidaten im Ministerrat. Die qualifizierte Mehrheit ist bei 258 Stimmen erreicht (ca. 74.6% der gesamten 345 Stimmen), eine Sperrminorität liegt bei 89 Stimmen (drei "große" und ein "kleiner" Staat), soll aber auf 91 Stimmen erhöht werden. Eine qualifizierte Mehrheit führt unter dem neuen System nicht zu einer Entscheidung, wenn entweder die Mehrheit der Mitgliedstaaten opponiert, oder weniger als 62% der Bevölkerung der EU durch die zustimmenden Staaten repräsentiert ist. Andere Mehrheitsentscheidungen müssen zusätzlich von zwei Drittel der Mitgliedstaaten mitgetragen werden.

Die Frage der Neugewichtung der Stimmen im Ministerrat erwies sich in Nizza als die konfliktreichste. Die kleineren Mitgliedstaaten warfen den größeren - und insbesondere Frankreich - vor, nichts weniger als einen institutionalisierten "coup d'état" zu planen. Nicht ganz zu Unrecht! Der Ministerrat bleibt auch nach Nizza eindeutig das tonangebende Organ der Union, und die Machtfrage kristallisiert sich nach der Übernahme der qualifizierten Mehrheitsentscheidung in weiteren Bereichen noch klarer heraus. Mit dem Rücken zur Wand und kurz vor einem Scheitern des gesamten Gipfels erarbeitete die französische Präsidentschaft nach der Unterbreitung von mehreren unannehmbaren Vorlagen, einen vernünftigen Kompromiss. Die Vorlagen wurden von Gipfelteilnehmern generell als sehr "französisch" eingestuft.

Die belgische Regierung lenkte ein, nachdem sie sich mit einer Stimme weniger als die Niederlande zufrieden geben musste. Bezeichnenderweise war es auch die belgische Regierung, die sich als Anwalt der Mittel- und Osteuropäischen Staaten bei der Stimmenverteilung profilierte. Belgien hatte kurz vor Mitternacht eine Einigung blockiert, weil es mit der von der französischen Ratspräsidentschaft zugeteilten Stimmenanzahl nicht einverstanden war. Die Lösung bestand dann darin, dass der Stimmenabstand zwischen den großen und den kleinen Ländern verringert wurde. Die Benelux-Staaten haben nun zusammen genauso viele Stimmen wie ein großes Land.

Es muss jedoch klar herausgestellt werden, daß die Entscheidungsfindung im Ministerrat keineswegs vereinfacht worden ist. Zwar ist die Übernahme weiterer Mehrheitsentscheidungen zu begrüßen, das neue System der dreifachen Mehrheit (Stimmen, Mitgliedstaaten und demographischer Faktor / Bevölkerung) könnte sich jedoch in der Praxis als extrem unflexibel erweisen. Bisher waren nur 71% der Stimmen für eine Mehrheit notwendig, jetzt werden es ca. 73.5% sein. Die Abstimmungen im Rat werden demzufolge noch komplizierter und noch weniger transparent.

Der Plan für die EU-Erweiterung

Die Union wünscht, dass schon zur Europawahl im Juni 2004 die ersten neuen Länder der Gemeinschaft beitreten. In dieser zeitlichen Reihenfolge könnten nach dem derzeitigen Stand ab dem Jahre 2004 neue Mitglieder in die Europäische Union aufgenommen werden: Beitrittstufe 1: Malta, Zypern, Estland, Ungarn, Polen. Hohes Wachstum mit 4,5 bzw. 4,2 Prozent besteht auf Malta und Zypern, bei geringer Arbeitslosigkeit von 5,3 bzw. 3,6 Prozent. Beide Länder haben die Gesetzgebung nach EU-Standards weit vorangebracht und können dem Wettbewerbsdruck innerhalb der EU gut standhalten. In Estlands, Ungarn und Polen wurde das Bruttoinlandsprodukt bis zu sechs Prozent gesteigert, allerdings bestehen noch Strukturmängel. Der Handel zwischen Polen und der EU gestaltet sich intensiv. Der Kapitalverkehr in Estland verläuft nach EU-Regeln. Ungarn ist führend bei ausländischen Direktinvestitionen. Beitrittsstufe 2: Slowenien, Tschechische Republik. Stabiles Wachstum besteht in beiden Ländern bei drei bis fünf Prozent. Mit 7,9 bzw. 6,5 Prozent herrscht nur mäßige Arbeitslosigkeit vor. Der Warenverkehr gestaltet sich positiv. In beiden Ländern werden aber die Grenzkontrollen und der Kampf gegen Korruption noch als mangelhaft bewertet. Beitrittsstufe 3: Lettland, Litauen, Slowakische Republik, Bulgarien. Schwankende Wachstumsraten um zwei Prozent. Hohe Arbeitslosigkeit mit 13,8 Prozent (Lettland), 13,3 Prozent (Litauen) und 12,5 Prozent (Slowakei). Diese drei Länder könnten dem EU-Wettbewerbsdruck nur nach drastischen Wirtschaftsreformen standhalten. Bulgarien weist mit minus 12,7 Prozent eine sinkende Industrieproduktion auf und hat eine reformbedürftige Verwaltung sowie mangelnde Wettbewerbsfähigkeit. Beitrittsstufe 4: Rumänien. Mit minus 17 Prozent weist Rumänien eine sinkende Industrieproduktion auf, bei gleichzeitiger dramatischer Inflationsrate von 45,8 Prozent. Es herrscht eine grassierende Korruption und eine schlechte Verwaltung. Rumänien ist noch keineswegs wettbewerbsfähig. Die Ausweitung von MehrheitsentscheidungenFür ca. 35 von 73 Artikeln der EU-Politik wird künftig das Entscheidungsverfahren der qualifizierten Mehrheit angewandt. In zentralen Bereichen konnten die Mitgliedstaaten jedoch ihre Partikularinteressen durch die Beibehaltung des Vetos schützen. Beim Asylrecht konnte sich Deutschland mit der Forderung durchsetzen, das Vetorecht erst aufzugeben, wenn die Staaten einstimmig eine Asyl- und Einwanderungspolitik festgelegt haben. In der Steuer- und Sozialpolitik konnte Großbritannien eine Einigung verhindern, während Spanien erreichen konnte, dass es in der milliardenschweren Strukturpolitik bis 2007 bei der Einstimmigkeit bleibt.

Dadurch verbleiben den Spaniern auch nach dem Beitritt der ersten Staaten aus Mittel- und Osteuropa die fetten Pfründe des EU-Strukturfonds vorerst erhalten. Sie können sich ihr Veto damit auch weiterhin mit Milliardenzugeständnissen der anderen EU-Mitglieder abkaufen lassen. Bei der gemeinsamen Handelspolitik konnte Frankreich die kulturellen Fragen wie gewünscht ausklammern, um einen "Schutz" der französischen Filmindustrie vor Hollywood zu erreichen.

Zusammenfassend ist der Gipfel von Nizza für den Bereich der Mehrheitsentscheidungen als Misserfolg zu bezeichnen. Die bisherigen EU-Mitglieder haben sich wieder einmal als Besitzstandswahrer ihrer nationalen Privilegien erwiesen. Gerade hier hätten die europäischen Staaten Mut zur Vision und eine über den nationalen Tellerrand hinausblickende Perspektive beweisen müssen, um die Handlungsfähigkeit der Union im Hinblick auf die Erweiterung zu sichern.

Die Angst, sich dem Vorwurf des Ausverkaufs der eigenen Positionen vor den heimischen Interessenverbänden auszusetzen, hat sich für die derzeit führende Garnitur der europäischen Staatsoberhäupter als zu groß erwiesen. Daß diese Handlungsweise von vielen auch noch als standhafter Abwehrkampf gegen den "Brüsseler Moloch" verkauft wird, läßt um die Zukunft der europäischen Idee fürchten, gerade im Hinblick auf die angestrebte umfassende Einigung des Kontinents.

Die Größe und Zusammensetzung der Kommission

Ab 2005 werden die großen Länder Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und Großbritannien auf ihren zweiten Kommissar verzichten. Jedes neue EU-Mitglied bekommt einen Kommissarsposten, so dass die Regel "ein Kommissar pro Land" eingeführt wird. Erst wenn die Union auf 27 Mitgliedstaaten anwächst, wird über eine Verkleinerung des Brüsseler Gremiums entschieden. Eine konkrete Zahlenvorgabe gibt es für diese Neuverteilung noch nicht. Die Stellung des Kommissionspräsidenten wird um das "hire and fire" Recht gestärkt, so dass dieser über die Zusammensetzung der Kommission an Einfluss gewinnt und zusätzlich eine Art Richtlinienkompetenz erlangt.

Auch bei dieser Frage kann nicht behauptet werden, dass der Europäische Rat in Nizza erfolgreich und zukunftsorientiert gearbeitet hat. Die meisten größeren Staaten hätten eine sofortige Entscheidung zur Begrenzung der Größe der Kommission vorgezogen, um die Funktionalität des Gremiums zu garantieren. Diesem stellten sich jedoch die kleineren Staaten entgegen, die angesichts der Schwächung ihrer Position im Ministerrat keinesfalls auf "ihren" Kommissar verzichten wollten.

So wurde die Entscheidung essentiell bis zu einem Zeitpunkt vertagt, an dem die Größe der Kommission bedingt durch die Anzahl der Mitgliedstaaten ein Ausmaß erreicht hat, das effektives Arbeiten nicht mehr ermöglicht. Angesichts der Tatsache, das dann aber eine noch größere Anzahl von Staaten einer Reform einstimmig zustimmen muss, ist ein zukünftiger Erfolg in dieser Frage heute noch sehr zweifelhaft.

Die Verstärkte Zusammenarbeit

Durch das Instrumentarium der Verstärkten Zusammenarbeit soll es einer Gruppe von EU-Mitgliedern, die aus mindest ens acht Staaten bestehen muss, ermöglicht werden, in Einzelfragen intensiver zusammenzuarbeiten als andere. Diese Form der Zusammenarbeit kann künftig nicht mehr mit einem Veto eines einzelnen Staates verhindert werden. Grundbedingung bleibt jedoch, daß die übrigen EU-Mitglieder jederzeit in diese verstärkte Zusammenarbeit "einsteigen" können.

Der logische Schluss aus dem Verhandlungsmarathon mit dürftigem Ergebnis ist, dass im Rahmen der fünfzehn EU-Mitglieder politische Initiative und Bewegung in Sachfragen - selbst unter hohem Verhandlungsdruck - nur noch in sehr eingeschränktem Maße möglich ist. Daher ist die Verstärkte Zusammenarbeit ein Ergebnis des Gipfels, das als unbestreitbarer Erfolg gewertet werden kann.

Sie bietet eine Alternative für die schon fast rituell erstarrte Ermittelung des kleinsten gemeinsamen Nenners im Rahmen eines Europäischen Rates. Es bedarf jedoch einer weiteren Ausgestaltung dieses Konzeptes. Wie wird die Rolle der Kommission beeinträchtigt, wenn sich eine Gruppe von Staaten vom Rest absetzt? Was kann das Europäische Parlament noch bewirken, wenn die Heimatstaaten der Abgeordneten in verschiedenen Bereichen nicht mehr die gleiche Mitsprache haben? Was wird das Kontrollorgan der Verstärkten Zusammenarbeit? Werden sich die Menschen in Europa letztendlich völlig von einer EU entfremden, deren Aufbau in den verschiedenen Kompetenzbereichen nur noch wenigen Experten verständlich ist?

Diejenigen Staaten, die sich auf dem Weg zu weiterer Integration dieses Instrumentes bedienen wollen werden diese Fragen untereinander und gegenüber ihren Bevölkerungen zu beantworten haben. Konzepte sind zu diesem Zeitpunkt noch nicht in Sicht.

London verhindert weitergehenden Beschluss zur EU-Verteidigungspolitik

Für Gastgeber Jacques Chirac verlief das Treffen der Staats- und Regierungschefs der EU schon von Beginn an alles andere als erfolgreich. Die schon im Vorfeld bereits als Erfolg verbuchten Beschlüsse zur Einrichtung einer gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) gerieten unerwartet zum Stolperstein und verschoben den Beginn der Beratungen des eigentlichen Hauptthemas um etliche Stunden.

Die vor dem Gipfel für EU-Verhältnisse ungewöhnlich schnell erreichten Fortschritte beim Aufbau der ESVP, einschließlich des im November gefassten Beschlusses, wie viele Soldaten jedes Land zu einer geplanten Eingreiftruppe bereitstellen wird, die schon im Jahre 2003 einsatzfähig sein soll, haben einen Rückschlag erlitten. Zwar billigte die Chefrunde die von den EU-Außenministern am 4. Dezember 2000 in Brüssel einmütig verabschiedeten Grundsatzdokumente, sie strich aber alle Passagen in der Gipfelschlußerklärung, die der französische Vorsitz zur Ausgestaltung dieses neuen Aktionsfeldes der EU und zum künftigen Verhältnis zur NATO vorgelegt hatte.

Auslöser für diese, von Beobachtern als persönliche Schlappe Chiracs gewertete Entwicklung war die Warnung des amerikanischen Verteidigungsministers William Cohen vor einem Alleingang der Europäer außerhalb der NATO, der das transatlantische Verhältnis entscheidend schwächen und das Bündnis damit zu einem Relikt der Vergangenheit degradieren könnte. Obwohl der britische NATO- Generalsekretär Lord Robertson sofort beschwichtigend eingriff und die Initiative der Europäer als vitale Stärkung der Atlantischen Allianz darstellte, konnte die Eskalation des Streits nicht mehr verhindert werden. In England, den USA in sicherheitspolitischen Fragen traditionell besonders eng verbunden, verselbständigte sich darauf die Diskussion innerhalb der Medien und ließ dem britischen Premier Tony Blair offenbar keine andere Wahl, als in Nizza die Reißleine zu ziehen.

Das von der französischen Präsidentschaft vorbereitete Beschlusspapier enthielt zwar die allgemeine Aussage, die NATO bleibe die Grundlage der kollektiven Verteidigung, auf der anderen Seite aber solle für die EU eine völlige Beschlussautonomie in allen Fällen von militärischen Operationen zur Krisenbewältigung erreicht werden, bei denen sich die NATO nicht insgesamt beteilige.

Der entscheidende, keinesfalls zu akzeptierende Punkt war dabei für die USA, der von den Europäern vorgesehen Aufbau einer autonomen Verteidigungsplanung. Der NATO-Planungsstab gilt bislang als eigentliche Keimzelle jeglicher transatlantischer Sicherheitspartnerschaft. Auch der von London gewünschte Zusatz, die geplante europäische Eingreiftruppe, bei der jedes Mitgliedsland in jedem Einsatzfall noch über ein Mitwirken entscheiden kann, dürfe sich keinesfalls zu einer eigenständigen europäischen Armee entwickeln, war von der französischen Präsidentschaft nicht akzeptiert worden.

Der Post-Nizza-Prozess

Wie von Deutschland gewünscht, findet im Jahr 2004 eine Konferenz statt, welche sich mit der weiteren Reformierung der EU befasst. Dann sollen vor allem die Kompetenzabgrenzungen zwischen Brüssel, den Mitgliedstaaten und den Regionen erörtert werden. Weitere Aspekte sind der noch zu definierende rechtliche Status der in Nizza feierlich verkündeten Grundrechtecharta, die Vereinfachung der EU-Verträge und die Rolle der nationalen Parlamente innerhalb der europäischen Architektur.

Es steht zu hoffen, dass auf dieser Konferenz endgültig die "leftovers" von Nizza - von solchem muss man mit gutem Recht sprechen - abgearbeitet werden. Letztendlich bleibt zudem noch anzumerken, dass von Seiten des Europäischen Parlaments deutliche Kritik an dem Minimalkonsens von Nizza zu verlauten ist. Schon im Vorfeld war angedroht worden, einem unzulänglichen Ergebnis womöglich die Zustimmung zu verwehren. Diese jedoch ist notwendig, damit es zu einem - wie auch immer gearteten - "Vertrag von Nizza" kommt.

Nach Meinung vieler Europaparlamentarier, quer durch alle Parteienkonstellationen, steht Nizza nicht -wie erhofft- für ein umfassendes Reformwerk, sondern nur für ein "Reförmchen". Der große Wurf sei -trotz blumiger Worte- ausgeblieben. Ein Scheitern wurde verhindert, ein Minimalkonsens erreicht. "Demokratie basiert auf dem Prinzip von Mehrheiten, Europa offensichtlich immer mehr auf dem Prinzip der Einstimmigkeit ", so der Kommentar eines ernüchterten belgischen Premierministers Guy Verhofstadt. Der Regierungschef war am Ende froh, dass man -nach seinen Worten- "nicht weniger Europa" bekommen habe.

Nationale Egoismen haben Priorität. Wieder einmal muss Liegengebliebenes von den nachfolgenden EU-Ratspräsidentschaften (2001: Schweden und Belgien) aufgearbeitet werden. Europas Integration verläuft zur Zeit im Schneckentempo. Von Joschka Fischers viel beschworener Europavision war in Nizza gar keine Rede mehr.

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Dr. Peter R. Weilemann †

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