Am 15. April 2020 wäre Richard von Weizsäcker 100 Jahre alt geworden. Der von der Konrad-Adenauer-Stiftung und der Stiftung Ernst-Reuter-Archiv aus diesem Anlass geplante Festakt musste letztes Jahr wie so viele Veranstaltungen aufgrund der Pandemie abgesagt werden. Dass dies eine Veranstaltung sei, „die wir sicherlich nachholen wollen“ – auch wenn dies derzeit nur digital möglich sei –, betonte Norbert Lammert, Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung, in seiner Einführung. Schließlich sei Weizsäcker eine „Identifikationsfigur, in dessen Leben sich ein ganzes Jahrhundert deutscher und europäischer Geschichte“ widerspiegle. Lammert schilderte Weizsäcker aus seiner eigenen Erinnerung als beeindruckenden Redner. Vor allem hob er Weizsäckers Rolle als programmatischer Impulsgeber der CDU und seine Rede 40 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs am 8. Mai 1985 hervor, die ein „Meilenstein in der Erinnerungskultur unseres Landes“ geworden sei.
In seinem Festvortrag würdigte Bundesminister a. D. Thomas de Maizière Richard von Weizsäcker, für den er in Berlin als Redenschreiber tätig gewesen war, indem er verschiedene Facetten seines Wirkens vor Augen führte. So stehe Weizsäcker als einer von Wenigen für einen erfolgreichen Wechsel von der Wirtschaft in die Politik. Ebenso sei es kaum jemandem wie ihm gelungen, die Politik im Allgemeinen und seine Partei im Besonderen mit der Evangelischen Kirche zu versöhnen. Mit seiner vorausschauenden Ost- und Deutschlandpolitik habe er im Widerspruch zur Mehrheit der Union gestanden, seine Partei jedoch langfristig mehr als alle seine Gegner beeinflusst.
Als Regierender Bürgermeister von Berlin habe er die Modernisierung der West-Berliner CDU als Großstadtpartei vorangetrieben und sei dabei bereit gewesen, die Ansprüche einer vielfältigen Gesellschaft in Berlin zu berücksichtigen. Dort und später als Bundespräsident sei ihm die Verbindung von Freiheit und Sicherheit gelungen. „Richard von Weizsäckers kluge Beiträge zur Ambivalenz zwischen Moral und Politik, zwischen Werten und Interessen in der Außen- und Sicherheitspolitik, auch davon würde ich mir mehr in unseren – sehr deutschen – Debatten wünschen“, so de Maizière. Schließlich würdigte de Maizière Weizsäcker als erfolgreichen Intellektuellen in der Politik, der die Gabe besessen habe, „aus dem Kleinen das Große entwickeln zu können. Und umgekehrt: Aus dem großen Weltgeschehen konnte er meisterhaft und scheinbar mühelos Konsequenzen und Bedeutungen für den Einzelnen ableiten.“
In der anschließenden, von der Historikerin und Journalistin Jacqueline Boysen moderierten Diskussion ging Eberhard Diepgen, der Weizsäcker im Amt des Regierenden Bürgermeisters von Berlin gefolgt war, darauf ein, wie sein Vorgänger Berlin ein neues Selbstbewusstsein gegeben habe. Zudem habe Weizsäcker sein Engagement für Berlin immer mit der Ost-West-Politik verbunden und durch manchen Regelbruch – wie 1983 mit seinem Besuch beim Vorsitzenden des Staatsrats der DDR Erich Honecker – den deutschlandpolitischen Handlungsspielraum für ihn als Nachfolger erweitert.
Die ehemalige Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags Antje Vollmer erinnerte sich daran, wie Weizsäcker Interesse an ihr als Vertreterin der 68er-Generation gehabt habe, die er aufrichtig zu verstehen versucht habe. Vollmer würdigte vor allem den Beitrag, den der Bundespräsident bei der Vermittlung mit der RAF geleistet habe, wodurch in der Bundesrepublik ein andauernder Terroristenkonflikt habe verhindert werden können. Seine Bemühung um Verständigung mit den osteuropäischen Nachbarn und Russland bezeichnete Vollmer als „sein Vermächtnis“.
Ohne seine Rolle als ausgleichender Intellektueller zu schmälern, hob Thomas de Maizière hervor, dass Weizsäcker als Regierender Bürgermeister durchaus auch in der Lage gewesen sei, eine Härte zu zeigen, die in der Exekutive unabdingbar sei. Der Potsdamer Historiker Dominik Geppert ging dann darauf ein, dass Weizsäcker und Helmut Kohl in den 1970er Jahren zunächst gut beim Reformprozess der CDU zusammengearbeitet hätten, es aber später zu Konflikten gekommen sei. Weizsäcker habe sich in Berlin von Kohl gelöst und dann als Bundespräsident eine Rolle neben Kohl als Bundeskanzler gefunden. Anders als Kohl, der ein Pragmatiker der Macht mit Grundsätzen gewesen sei, so ergänzte Diepgen, habe Weizsäcker die Gabe besessen, diejenigen mit einzubinden, die von den „doofen Politikern“ nichts hielten.
Richard von Weizsäcker hatte sowohl aufrichtiges Interesse an den einzelnen Menschen in ihrer Verschiedenheit als auch die Fähigkeit, Werte und Interessen gleichermaßen im Blick zu behalten. Stets stellte er sich den Herausforderungen der Freiheit und erläuterte seinen Mitmenschen: „Die Freiheit geschieht nicht an uns, sie geschieht durch uns.“ Damit bleibt er auch mehr als 100 Jahre nach seiner Geburt ein eindrucksvolles Vorbild.