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Argentinien nach den Präsidentschaftsvorwahlen: Reise ins Ungewisse

Das Land kann sich zwischen Kontinuität und Wechsel noch nicht entscheiden

Das Rennen um die Präsidentschaft ist eröffnet, obwohl noch immer nicht alle Stimmzettel gezählt sind: Daniel Scioli, Kandidat der Regierungspartei Frente para la Victoria (Front des Sieges), liegt nach den Vorwahlen am 9. August erwartungsgemäß vor seinem Konkurrenten, Hauptstadtbürgermeister Mauricio Macri (PRO).

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Der Drittplatzierte Sergio Massa hat zwar mit seiner gemäßigt peronistischen Bewegung Frente Renovador (Front der Erneuerung) nicht an den Erfolg von 2013 anknüpfen können, wird aber bis zu den Wahlen im Oktober eine große Rolle spielen, denn seine mehr als dreieinhalb Millionen Stimmen sind eine begehrte Ware. In der wichtigen Provinz Buenos Aires gelang María Eugenia Vidal, PRO-Kandidatin für das Amt der Gouverneurin, ein Überraschungssieg gegen Cristina Kirchners Kabinettschef. Argentinien ist nach der ersten großen Schlacht kaum schlauer. Das Land am Río de la Plata scheint nicht genau zu wissen, was es will: Kontinuität oder Wandel. Im Zweifelsfall: ein bisschen von beidem.

Sonntag, elf Uhr in Belgrano, einem wohlhabenden Viertel im Norden von Buenos Aires: Gut angezogene porteños, wie sich die Einwohner der Hauptstadt nennen, strömen durch das steinerne Portal einer katholischen Schule, die als Wahllokal dient. Am Eingang hängen Papierlisten mit den Namen aller Bürger, die in diesem colegio wählen müssen. Jeder ist einer mesa, einem Wahltisch, zugeordnet, an dem er seinen Ausweis vorzeigt und einen Briefumschlag erhält. Dann verschwindet er hinter einem Wandschirm. Was sich hinter dem Schirm verbirgt? Bunte Listen aus Papier, 84 Zentimeter lang, mit Namen und Gesichtern von Politikern. Der Wähler tütet seine Wunschkandidaten ein, klebt den Briefumschlag zu und wirft ihn in eine Urne aus brauner Pappe. Nach 15 Minuten ist alles erledigt. An zwei gelangweilten Polizisten vorbei, durch den schön bepflanzten Innenhof, geht es hinaus in einen geruhsamen Sonntag. Wählen, eine Lust.

Zur selben Zeit bilden sich lange Schlangen im Wahllokal der Schule Nr. 34 im Bezirk Malvinas Argentinas im Nordwesten der Provinz Buenos Aires. Unter wolkenverhangenem Himmel warten tausende Wähler auf ihren Einlass in das cuarto oscuro, den dunklen Raum. Mürrische Gesichter – der argentinische Winter zeigt seine unschöne und vor allem nasse Seite. Viele suchen Schutz vor dem Platzregen – die Schule allerdings ist für solche Massen viel zu klein. Schwerbewaffnete Militärs versuchen, für Ruhe zu sorgen. „Wären wir doch bloß zu Hause geblieben“ murmelt die Schlange. Die Gesichter verraten, dass vor allem die Wahlpflicht sie hierhergebracht hat. Kein guter Tag im conurbano bonaerense, dem Speckgürtel der Hauptstadt. Wählen, eine Qual.

Vorwahlen in Argentinien

Mit den Primarias Abiertas, Simultáneas y Obligatorias (PASO) – den offenen, gleichzeitig stattfindenden und verpflichtenden Vorwahlen – hat Argentinien einen weiteren Schritt auf dem Weg zum Gipfel des Superwahljahres 2015 genommen. Am 25. Oktober wählt das Land einen neuen Präsidenten, 130 Abgeordnete für den Nationalkongress, 24 Senatoren, zwölf Gouverneure – darunter den der bevölkerungsreichsten Provinz Buenos Aires – und 43 Abgeordnete für das Parlament der lateinamerikanischen Wirtschaftsunion Mercosur (Parlasur). Dabei beginnt ihr Mandat erst 2019. Darüber hinaus finden auf Provinzebene Wahlen für Abgeordnete und Senatoren sowie Kommunalwahlen statt.

Mit den Vorwahlen haben die Argentinier nun bestimmt, welche Kandidaten die einzelnen Parteien antreten lassen dürfen. Die PASO ersetzen somit seit 2011 die parteiinterne Kandidatenkür. In der Theorie sind sie eine wunderbare Erfindung: Die Parteien und Bündnisse präsentieren ihre Kandidatenteams (fórmulas), und der Bürger – mit oder ohne Parteibuch – entscheidet. Ganz gleich, wer was werden will – ob Bürgermeister, Senator, Abgeordneter, Gouverneur oder Präsident –, zunächst einmal steht er vor dieser Hürde. Theoretisch jedenfalls.

Die Sache hat nämlich einen Haken: Da die Bündnisse nicht verpflichtet sind, mehrere Teams aufzustellen, wird gern darauf verzichtet. Sechs von neun Parteien und Allianzen präsentierten nur ein Gespann für die Casa Rosada, darunter auch die seit zwölf Jahren regierende, linksperonistische Frente para la Victoria von Staatschefin Cristina Kirchner. Denn: Der Peronismus beruft sich zwar gern auf seine Nähe zum Volk – hält es aber zugleich gern auf Abstand, vor allem, wenn es um Machtfragen geht. Und Personalentscheidungen sind in dieser politischen Bewegung grundsätzlich Chefsache.

Die PASO werden mangels vertrauenswürdiger Demoskopie gern als teuerste Wahlumfrage Argentiniens verspottet. Tatsächlich verschlingt allein der Druck der Wahlzettel Unsummen. Der Grund liegt im Wahlsystem: Die Argentinier machen nicht ihr Kreuz auf einem Schein, sondern wählen über Wahllisten, die diesmal wegen der vielen neu zu besetzenden Ämter bis zu 1,20 Meter lang waren und im Volksmund daher auch Bettlaken heißen. Wähler, die für die verschiedenen Ämter Kandidaten unterschiedlicher Bündnisse aussuchen wollten, mussten sich eine Schere mit ins Wahllokal nehmen und die Listen – einem Flickenteppich gleich – zerschneiden, neu zusammenstellen und anschließend alles in einen Umschlag stecken. Erfahrungsgemäß machen sich jedoch die wenigsten Bürger diese Mühe. Die Entscheidung für einen Kandidaten bedeutet daher oft auch die Entscheidung für eine ganze Liste und damit für alle anderen Kandidaten des Bündnisses. Weniger bekannte oder beliebte Politiker schwimmen so im Fahrwasser der großen Namen mit.

Um allein die Provinz Buenos Aires mit einem Satz Listen abzudecken, benötigte jede Partei neun Millionen argentinische Pesos (900.000 Euro). Staatliche Zuschüsse deckten die Ausgaben des Drucks dabei nur teilweise ab. Die meisten Parteien druckten zudem bis zum Fünffachen der eigentlich benötigten Wahllisten. Denn dass diese aus dem Wahllokal verschwinden ist in Argentinien keine Seltenheit. Der neueste Gadget daher: Per App können sich beispielsweile die Anhänger der Parteiallianz Cambiemos (Lasst uns verändern), bestehend aus den Parteien PRO (Propuesta Republicana), UCR (Unión Cívica Radical) und der CC (Coalición Cívica), ihre Wahlzettel nach Hause bestellen.

Über die finanzielle Herausforderung hinaus stellten die PASO die Parteien auch vor ein logistisches Problem: Im flächenmäßig achtgrößten Land der Erde mit nur 10,7 Einwohnern pro Quadratkilometer (Deutschland: 227) gestaltet es sich mitunter auch logistisch schwierig, allen Wahlberechtigten die Stimmabgabe zu ermöglichen.

Außerdem braucht eine Partei, die es ernst meint und ernst genommen werden will, unzählige Wahlhelfer, um Betrug zu vermeiden – nicht einfach bei allein 34.500 Wahllokalen in der bevölkerungsstärksten Provinz Buenos Aires. Besonders die großen, mitgliederstarken Kräfte, allen voran die Frente para la Victoria, haben durch dieses System traditionell Vorteile. Sowohl die Macri-Partei PRO als auch Sergio Massas Frente Renovador versuchten gerade deshalb in der Provinz viele freiwillige Aufpasser zu rekrutieren.

Feiern für den Wechsel

„Se siente, se siente, Mauricio presidente!“, tönt es rhythmisch durch die Hallen des Komplexes Costa Salguero im Norden von Buenos Aires. „Man spürt es, man spürt es, Mauricio wird Präsident.“ Seit 22 Uhr feiert die Allianz Cambiemos hier ihre Kandidaten. Auch wenn die Ergebnisse noch nicht ausgezählt sind, verkündet eine strahlende María Eugenia Vidal, Argentinien habe mit den PASO den ersten Schritt in Richtung Wandel gemacht. Das Publikum wartet auf den Spitzenmann und dessen mittlerweile berühmten ungelenken Freudentanz.

80 Prozent der Stimmen für Cambiemos hat der Hauptstadtbürgermeister geholt. „Ich möchte den Argentiniern sagen, dass ich weiß, welches meine Überzeugungen sind. Es sind die gleichen, mit denen ich die Hauptstadt Buenos Aires auf historische und nie dagewesene Weise verändert habe: Demokratie, Transparenz und soziale Gerechtigkeit.”

Unzuverlässige Umfragen

Macri gilt schon seit Monaten als der gefährlichste Herausforderer des Regierungskandidaten Daniel Scioli. In den Umfragen – so sehr diese auch in den Wochen vor den PASO geschwankt haben mögen – landete er stets mehr oder weniger dicht hinter Scioli. Gemeinsam mit seiner langjährigen politischen Wegbegleiterin Gabriela Michetti bildet Macri eine fórmula pura – ein reines Duo der vergleichsweise jungen Mittepartei PRO. Macri und Michetti führten diejenige der drei Listen der Parteienallianz Cambiemos mit den besten Erfolgsaussichten an. Macri ist in Buenos Aires, aber auch im Rest Argentiniens bestens bekannt: Von 1995 bis 2008 war der Ingenieur Präsident des glorreichen Fußballclubs Boca Juniors, der mit Abstand die meisten Fans im Land hat. Politische Erfahrung sammelte er als Abgeordneter sowie als Bürgermeister von Buenos Aires. Die Wahl 2007 gewann er mit Michetti. Die Senatorin, eine der bekanntesten und beliebtesten Politiker, soll diesmal vor allem im Landesinneren, wo PRO weit weniger etabliert ist, Stimmen holen. Im Wahlkampf traten sie deshalb oft getrennt auf: Macri im Großraum Buenos Aires, Michetti im Hinterland.

Das Duo verspricht cambio , einen Wechsel nach zwölf kirchneristischen Jahren. Man wollte sich als Antithese zum Kirchnerismus präsentieren. Der Name der Allianz Cambiemos („Lasst uns verändern!“), sollte Programm sein. Zwar deutete Macri an einigen Stellen verhalten an, Exportrestriktionen für den Agrarsektor aufzuheben und den Wertverfall des argentinischen Pesos sowie die Inflation zu stoppen . Ein kohärentes Wahlprogramm ist aus diesen Ideen jedoch nicht entstanden und das Duo geizte mit konkreten Wahlversprechen genauso wie die übrigen Kandidaten.

Tatsächlich waren die Kampagnen der meisten Bewerber noch wenige Tage und Wochen vor den PASO erschreckend inhaltslos. Anstatt um konkrete Lösungsvorschläge für gravierende Probleme wie Inflation und Drogenhandel kreiste der Wahlkampf um Persönlichkeiten, Gesichter und Emotionen. So auch im Falle von Macri: Rund zwei Wochen vor den PASO veröffentlichte der in den sozialen Medien beliebte Kandidat auf seiner Internetseite Erinnerungen aus seinem Leben . Die vier Texte über seine Zeit bei den Boca Juniors, seine Familie und seine Entführung 1991 erinnern an Tagebucheinträge und scheinen nur zum Ziel zu haben, Gefühle hervor zu rufen.

Die starke Personalisierung ist seit jeher ein Kennzeichen der argentinischen Politik. Parteien waren und sind weitgehend schwache Gebilde. Eine innerparteiliche Willensbildung, transparent und demokratisch, hat sich bis heute nicht entwickelt. El líder, der Anführer, gibt den Weg vor und findet – solange er Wahlerfolge verspricht – auch Gefolgschaft. Inhaltlich flexibel ist er ohnehin. Die Mehrheit der Argentinier, meint der Journalist Walter Schmidt, habe in den PASO statt Programmen nur „Empfindungen, Mutmaßungen, Interpretationen und Phantasien über das Leben oder die Erscheinung des einen oder anderen Kandidaten“ gewählt . Dabei sei es nicht so, dass die Kandidaten kein Programm hätten. Es sei einfach ihre Strategie gewesen, keine konkreten Lösungsvorschläge vorzustellen. Für Inhalte sei bis zu den richtigen Wahlen am 25. Oktober immer noch Zeit.

Cambiemos ist vielleicht das vielseitigste, in jedem Fall aber das schillerndste Bündnis dieses Superwahljahres. Das liegt auch an Elisa Carrió, der dritten Präsidentschaftskandidatin. Sie ist eine so auffällige wie umstrittene Figur der argentinischen Politik: vorlaut wie kein anderer, bisweilen launisch, aber immer kämpferisch, wenn es gegen Korruption geht. Das Volk verdreht mitunter die Augen über Carrió, lässt sich aber auch gern unterhalten von seiner „Lilita“ (Koseform von Elisa). Auch wenn ihr Wahlergebnis (2,3 Prozent) bescheiden ausfiel – ihr Wert für Cambiemos und Macri als integre Sauberfrau ist dennoch nicht zu unterschätzen.

Ob Scioli von der geringen Aussagekraft von Macris Kampagne profitiert hat? Vielleicht. Allem Anschein nach hatte er die besten Voraussetzungen für den Sieg bei den PASO – auch weil sein Bündnis so breit ist wie kein anderes. Die Front des Sieges ist das große Sammelbecken kirchneristischer Anhänger, alles fließt zusammen: Teile der Peronisten (Partido Justicialista) und der Partido para la Victoria Frente Grande, dazu viele soziale und gewerkschaftliche Verbände wie Kolina, Movimiento Evita, Nuevo Encuentro und Humanista.

Scioli indes ist kein waschechter Kirchnerist. Er kann es auch gar nicht sein, weil er in den neunziger Jahren von Carlos Menem in die Politik geholt wurde.

Das staatlich gelenkte Wirtschaftsmodell des Kirchnerismus ist der Gegenentwurf zum menemismo seinerzeit, der auf Privatisierungen und unternehmerische Freiheiten setzte. Und doch: In nahezu letzter Minute erlaubte Staatspräsidentin Kirchner Scioli die Kandidatur und ließ zugleich Transportminister Florencio Randazzo fallen, der sich als Kirchnertreuer große Hoffnungen gemacht hatte. Kirchner, so darf man vermuten, entschied sich für den Mann mit den besten Wahlchancen. Randazzo ist zwar fleißig und hat sich mit dem Wiederaufbau des lange kaputten Schienennetzes inklusiver neuer Züge einen Namen gemacht. Ein líder, ein landesweit bekannter Stimmenfänger, ist er allerdings nicht. Scioli wiederum kennt das politische Geschäft. Er war Néstor Kirchners Vizepräsident und hat 2007 und 2011 die Gouverneurswahlen in der Provinz Buenos Aires gewonnen – dort, wo vier von zehn argentinischen Wahlberechtigten zu Hause sind. Bis zu den PASO genoss er die ungeteilte Unterstützung der Präsidentin. Allerdings dauerte es nicht lange, bis Scioli den Zorn der Amtsinhaberin auf sich zog. Um sich vom Wahlkampfstress zu erholen, hatte er sich kurz nach der Siegesfeier nach Italien begeben, Fotos vom Platznehmen in der ersten Klasse gingen durch die Medien. Derweil wurde seine Provinz – wie es regelmäßig geschieht – in weiten Teilen überschwemmt. Tausende mussten sich selbst evakuieren, während Scioli sich in einem Luxusressort erholte. Nach eindringlichen Telefonaten und hämischen Kommentaren aus dem Umkreis der Präsidentin brach Scioli seinen Urlaub ab. Derweil verhedderte sich sein Umfeld in Widersprüchen um die Reise. Seitdem reißen die Nachrichten über verschollene Haushaltsmittel und nicht ausgeführte Kanalisationsarbeiten nicht ab. Sciolis Vorteil: Er gilt als jemand, dessen Regierungsführung nicht auf seine Beliebtheitswerte abfärbt.

Allerdings ist die Kandidatur für Scioli wie für den Kirchnerismus ein Wagnis. Der einstige Motorbootrennfahrer weicht Festlegungen gern aus, er bekennt sich einerseits zum Kirchnerismus, lässt andererseits aber auch oft streuen, er sei zuallererst Peronist. Wohl auch deshalb hat ihm die Präsidentin einen Vizekandidaten verordnet, der zu ihren engsten Vertrauten gehört: Carlos „El Chino“ Zannini lebte als Mitglied der vom Maoismus beeinflussten Kommunistischen Avantgarde – daher auch sein Spitzname „der Chinese“ – während der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 unter Hausarrest. Seit 2003 ist sein politischer Aufstieg eng mit dem der Familie Kirchner verknüpft. Der juristische und technische Sekretär, so sein offizieller Amtstitel, soll der Garant für die Kontinuität des Kirchnerismus unter dem Präsidenten Scioli sein. Clarín, Argent iniens größte Tageszeitung, wertete seine Nominierung als Versuch der Staatschefin, ihrem Nachfolger „Handschellen anzulegen“, und beschrieb die Strategie mit den Worten: „Scioli in die Regierung, Cristina an die Macht.“ Im Augenblick gibt der Kandidat den Vorzeigekirchneristen und versucht zugleich, Zanninis Rolle herunterzuspielen. Auf der Wahlliste der Frente para la Victoria tauchte dessen Foto erst gar nicht auf; das Ganze sehr zum Missfallen der Präsidentin.

Scioli hat angekündigt, die Inflation zu senken und zwei neue Ministerien zu schaffen: eines für Menschenrechte und eines für economía popular (populäre Wirtschaft), das sich mit der verbreiteten Schwarzarbeit beschäftigen soll. Zudem plant er Reisen zu den neuen außenpolitischen Freunden Argentiniens: Iran, Russland und China. Viel mehr weiß man auch von ihm vorerst nicht über seine Vorhaben.

Reformen braucht Argentinien nach zwölf Jahren Kirchnerismus dringend – dieser Meinung sind auch die progressiven Peronisten von der Frente Renovador. Unter Sergio Massa, dem jungen Aufsteiger der argentinischen Politik, hatten sich vom Kirchnerismus enttäuschte Peronisten 2013 zusammengeschlossen und noch im selben Jahr glorreich die Teilwahlen zum Parlament gewonnen. In der Provinz Buenos Aires erhielt der damalige Bürgermeister der im Norden von Buenos Aires gelegenen Kleinstadt Tigre elf Punkte mehr als der Kandidat der Front des Sieges.

Massa war zwar einst Cristina Kirchners Kabinettschef gewesen, seit 2009 jedoch Stück für Stück auf Distanz zum Kirchnerismus gegangen. Nun führt er eine Liste der Parteienallianz Una Nueva Alternativa – UNA (Eine neue Alternative) an. Als Vize präsentiert sich Gustavo Sáenz, der im Mai die Bürgermeisterwahlen von Salta gegen einen Kirchneristen gewonnen hatte.

Seinen Erfolg von 2013 konnte Massa bei den PASO nicht ansatzweise wiederholen. Der Absturz auf 14,2 Prozent für die Front der Erneuerung ist auch eine Folge des fehlenden Rückhalts in der Provinz Buenos Aires. Vor zwei Jahren waren viele Bürgermeister samt ihren Truppen vom Kirchnerismus zu Massa übergelaufen. Als dessen Umfragewerte innerhalb von acht Monaten um 20 Prozentpunkte sanken, traten sie den Rückweg an, wohl aus Sorge um die eigene Wiederwahl .

Und was ist mit der ältesten Partei Argentiniens, der Unión Cívica Radical - UCR? Die einst so stolze Volkspartei ist schon lange im Niedergang begriffen, in den Medienberichten taucht sie nur noch am Rande auf. Allerdings verfügt sie nach wie vor über Infrastruktur, Kontakte und nicht zuletzt Wahlhelfer. Auch deshalb haben Macri und Massa sie heftig umworben. Die Radikalen stimmten auf einem Parteitag schließlich für ein Bündnis mit PRO und wurden Teil der Allianz Cambiemos. Ihr Spitzenkandidat Ernesto Sanz, ein Urgestein der argentinischen Politik, erreichte allerdings nur 3,5 Prozent bei den PASO.

Ein neuer Gouverneur für Buenos Aires

Auch fernab der nationalen Bühne ändert sich die Besetzungsliste der argentinischen Politik 2015 grundlegend. Elf neue Provinzgouverneure sind im Laufe des Jahres bereits gewählt worden, zwölf folgen am 25. Oktober. Geschaut wird vor allem darauf, wer Daniel Scioli beerbt und in Zukunft Buenos Aires regiert, die 16-Millionen-Provinz, die fast so groß wie Deutschland ist. Wer hier herrscht, ist nach dem Staatschef die Nummer Zwei im Land, wichtiger als der Vizepräsident und jeder Minister. Keine andere der 23 Provinzen ist derart umkämpft wie diese. Es ist die Mutter aller Schlachten, die hier geschlagen wird – in der Herzkammer des Peronismus.

Die Provinz Buenos Aires ist peronistische Erde. Und doch ging sie in den Vorwahlen am 9. August erst einmal verloren. María Eugenia Vidal (PRO), die Kandidatin von Cambiemos und Macris stellvertretende Bürgermeisterin, holte 29,4 Prozent und erreichte damit eine gute Ausgangsposition. Es zahlte sich offenbar aus, dass sie ihre Kampagne schon vor zwei Jahren begonnen hatte. Sie profitierte allerdings auch davon, dass die Frente para la Victoria zwei Männer an die Front geschickt hatte, die sich nichts schenkten: Kabinettschef Aníbal Fernández und Parlamentspräsident Julian Domínguez. Über Wochen hinweg wärmten sich die Medien an diesem Streit. Fernández gilt als pragmatisch, risikofreudig und veränderungswillig, Domínguez dagegen als konservativ. Fernández polarisierte mit der Forderung, Marihuana in Argentinien zu legalisieren, wie kürzlich im kleinen Nachbarland Uruguay geschehen. Domínguez wollte Drogen und Abtreibung weiterhin verbieten. Am Ende lag Fernández zwei Prozentpunkte vorn, ein Mann, der schon vieles war in Argentinien (Bürgermeister, Senator, Arbeitsminister, Produktionsminister, Justizminister Transportminister, Abgeordneter, Sekretär des Präsidenten) und noch vieles ist (Präsident des Erstligafußballklubs Quilmes und des argentinischen Hockeyverbandes). Fernández lag aber auch 8,2 Prozentpunkte hinter Vidal. Entschieden ist damit noch nichts. Der Kabinettschef braucht allerdings die Stimmen, die sein Rivale Domínguez geholt hat. Man ist offenbar dabei, Frieden zu schließen – wohl auch auf Druck von oben, denn weder Scioli noch Kirchner wünschen eine peronistische Fehde in der wichtigsten Wahlregion des Landes.

Fernández‘ Sieg gibt Analysten mitunter Rätsel auf. Sein Image ist eher negativ und sein Vizekandidat Martín Sabbatella, ein Ultrakirchnerist, bei den gemäßigt peronistischen Bürgermeistern äußerst unbeliebt. Zudem geriet er nur eine Woche vor den PASO in die Schlagzeilen: Laut einer Zeugenaussage soll Fernández ins Drogengeschäft und als Strippenzieher in einen Dreifachmord von 2008 verwickelt sein. (Der Kabinettschef bestritt die Vorwürfe und vermutete dahinter eine Kampagne seines Rivalen Domínguez.)

Das Ausscheidungsrennen dürfte Fernández zum einen dank seiner Bekanntheitswerte gewonnen haben; zum anderen wird vermutet, dass Wähler den Gouverneurskandidaten gar nicht so viel Aufmerksamkeit geschenkt haben, wie es ein derart wichtiges Amt verdient hätte. Die bonaerenses, die Bürger der Provinz Buenos Aires, beachteten nur die Außenränder des Wahlzettels, schreibt Marcelo Veranda. Ganz außen, auf der ersten und der letzten Seite, präsentieren sich der Präsidentschafts- und der lokale Bürgermeisterkandidat. Dazwischen: die Kandidaten für das nationale, das regionale und das MERCOSUR-Parlament sowie, weit abgeschlagen in der fünften Spalte, der Gouverneurskandidat. Keine gute Position, um in der Wahlkabine auf sich aufmerksam zu machen. Zudem machen sich laut Statistik nur drei Prozent die Mühe, den Wahlzettel zu zerschneiden.

Nach dieser Logik müsste am 25. Oktober die Entscheidung zwischen dem Regierungskandidaten Fernández und der Oppositionskandidatin Vidal fallen. Da der Gouverneur mit einfacher Mehrheit gewählt wird, spricht alles dafür, dass die Provinz in den Händen der Kirchneristen bleibt. Denn die meisten Wähler, die Domínguez ihre Stimme gaben, werden vermutlich dem kirchneristischen Lager treu bleiben und Fernández wählen.

Kandidat der Kontinuität

Die kirchneristische Strategie ist kein großes Rätsel: Scioli soll die Stimmen progressiv-peronistisch eingestellter Wähler einsammeln – eine Gruppe, die sich tendenziell stärker zur Opposition hingezogen fühlt. Sein Vizekandidat Zannini soll ihn wählbar machen für die linientreuen Kirchneristen, die mit Scioli fremdeln und lieber einen von ihnen – den Gefallenen Randazzo etwa – in der Casa Rosada gesehen hätten. Geht dieses Spiel auf, könnte Cristina Kirchner weiter Einfluss haben. Sie hat zwar allen Überredungsversuchen ihrer Anhänger widerstanden, für irgendein anderes Amt zu kandidieren. Gleichwohl muss das kein Abschied sein. Sie hinterlässt dem Land ihr proyecto nacional y popular, das „Projekt fürs ganze Land und alle Schichten“, wie der Kirchnerismus den 2003 begonnenen Umbau Argentiniens nach seinen Vorstellungen nennt. Darauf hat die Präsidentin die Bewegung in den vergangenen Jahren wieder und wieder eingeschworen. Wer es aufgibt oder auch nur daran schraubt, lebt politisch gefährlich und muss mit Racheakten rechnen. Abgesichert hat sie ihre Macht nicht nur über Zannini. Wirtschaftsminister Axel Kiciloff, einer ihrer Zöglinge, führt die Abgeordnetenliste in der Hauptstadt an, ihr Generalsekretär Eduardo „Wado“ de Pedro die in der Provinz Buenos Aires. Jede Liste hat die Amtsinhaberin angeblich begutachtet und nach ihrem Geschmack verändert – „con la lapicera y la guadaña“, mit dem Kugelschreiber und der Sense.

Ihre loyalste Truppe ist La Cámpora. Deren Mitglieder bekleiden nicht nur politische Ämter, sondern sitzen als Beamte auch in Ministerien und Staatsbetrieben . Nicht zuletzt Kirchners Sohn Máximo, Chef von La Cámpora, der Kaderschmiede des Peronismus und Nummer Eins in der Heimatprovinz Santa Cruz, wird ebenfalls ins Nationalparlament einziehen. Das jahrelang praktizierte Posten-Besetzen dürfte sich auszahlen und zumindest für die erste Zeit Kontinuität garantieren. Scioli wird trotzdem versuchen (müssen), sich zu lösen. Selbstbewusst gab er sich schon: „Die Leute sollten sich ein wenig beruhigen. Vom 10. Dezember an werde ich uneingeschränkt über alle Befugnisse eines argentinischen Präsidenten verfügen. Es gibt keine Einmischung von außen.“ Er schlägt aber auch andere Töne an. Im Wahlkampf zeigte er sich so linientreu, wie es die Chefin erwartete: „Wir werden weiterhin auf das feste Fundament bauen, das uns Cristina Kirchner hinterlässt!“

Ob er diese Strategie bis Oktober beibehält, lässt sich derzeit nicht seriös beantworten. Solange aber die Beliebtheitswerte der Präsidentin nicht fallen, spricht viel dafür, dass alles so bleibt.

Generell ließ sich in diesem Wahlkampf ein ums andere Mal eine Besonderheit der argentinischen Politik erkennen: Es geht weniger um inhaltliche Vorschläge als um Persönlichkeiten. Wer hinter Ausdrücken wie macrismo, sciolismo oder massismo tiefgreifende politische Ideologien vermutet, wird enttäuscht werden. Es dreht sich alles um die Figur des politischen Anführers.

Entschieden ist das Rennen um die Präsidentschaft noch lange nicht: Allein neun Millionen Wähler sind am 9. August nicht bei den PASO erschienen oder haben ungültig gewählt . Sie sind eines der großen Geheimnisse nach den PASO: Was und wen sie wollen, weiß nämlich keiner so genau.

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