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Die Gaza-Krise und die neue türkische Außenpolitik

kohta Jan Senkyr
Als der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan vor laufenden Kameras demonstrativ den Saal einer Diskussionsveranstaltung des Weltwirtschaftsforums in Davos aus Verärgerung über die Äußerungen des israelischen Staatspräsidenten Schimon Peres zum Gaza-Krieg und die vermeintlich beleidigende Art des Moderators verließ, stellten die meisten Kommentare in den Medien die Frage auf, ob sich die Türkei politisch vom Westen entfernt. Der Auftritt Erdoğans in Davos war der dramaturgische Höhepunkt eines politischen Zerwürfnisses zwischen der Türkei und Israel, das mit dem israelischen Militäreinsatz im Gaza-Streifen seinen Anfang nahm und mittlerweile die bilateralen Beziehungen schwer belastet hat.

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Die jüngsten Reaktionen Ankaras im Zusammenhang mit der Gazakrise müssen im Gesamtkontext der türkischen Außenpolitik betrachtet werden, die in den letzten Jahren eine Entwicklung zu einer regional engagierten und auf Interessenausgleich mit den Nachbarländern ausgerichteten Politik genommen hat. Bislang gibt es keine klaren Indizien dafür, dass die nahöstliche Akzentuierung der neuen türkischen Außenpolitik auf Kosten der Westorientierung gehen sollte. Vielmehr ist man in Ankara darum bemüht, die Rolle der Türkei als Brücke zwischen Orient und Okzident zu stärken und sich damit als regionaler Machtfaktor zu etablieren. An dieser strategischen Ausrichtung dürften auch die verbalen Attacken und der Protestauftritt des türkischen Ministerpräsidenten in Davos nichts geändert haben.

Die Palästinafrage ist traditionell ein Schwerpunktthema der türkischen Nahost-Politik, das eine hohe emotionale Bedeutung für die Bevölkerung hat. In dieser Hinsicht gab es auch schon früher Zerwerfungen mit Israel, die teilweise erheblich waren. Der frühere türkische Ministerpräsident Bülent Ecevit bezeichnete die israelische Militäraktion in der palästinensischen Stadt Jenin 2002 als „Genozid“ und im Jahr 2004 sprach Premier Recep Tayyip Erdoğan im Zusammenhang mit der Tötung des Hamas-Führers Scheich Ahmad Yassin und den zivilen Opfern im Rafah-Flüchtlingslager vom israelischen „Staatsterrorismus“. Trotz der Gegensätze in der Palästinafrage und wiederholter diplomatischer Verstimmungen war die Türkei immer um ein konstruktives Verhältnis zum jüdischen Staat bemüht. Seit Ende der 90er Jahre hat sich dieses Verhältnis sogar in eine strategische Partnerschaft umgewandelt, die vor allem in der militärischen Zusammenarbeit Umsetzung findet. Parallel dazu pflegte Ankara enge Beziehungen zur palästinensischen Verwaltung und bot sich als Vermittler zwischen Israelis und Palästinensern an. Auf politischer Ebene hatte Israel zwar eine türkische Vermittlerrolle abgelehnt, im wirtschaftlichen und sozialen Bereich war das Engagement Ankaras jedoch willkommen.

Die Türkei hat eine Reihe von Projekten zur Unterstützung des wirtschaftlichen Wiederaufbaus in den palästinensischen Gebieten und zahlreiche soziale und karitative Hilfsaktionen ins Leben gerufen. Ein wichtige Initiative war das Vorhaben „Industry for Peace“ mit dem vor allem der Ausbau von gemischten Industriezonen im israelisch-palästinensischen Grenzgebiet mit türkischen Know-how und türkischen Investitionen gefördert werden sollte. Aufgrund der problematischen Sicherheitslage und vor allem infolge der Zerstörungen während des Gaza-Kriegs sind diese Aktivitäten derzeit jedoch aufs Eis gelegt.

Für erhebliche Spannungen mit Israel haben die Kontakte der türkischen Regierungspartei AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi – Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei) zur Hamas gesorgt. Im Februar 2006 kam eine Hamas-Delegation auf Einladung der AKP zu Gesprächen in die AKP-Zentrale nach Ankara. Der Hamas-Besuch in der Türkei stieß auf internationale Kritik: Israel protestierte scharf, auch die USA und die EU waren verstimmt über den Vorstoß Ankaras. Die Türkei unterlaufe somit die Bemühungen des Westens, die Hamas durch internationalen Boykott zu Gewaltverzicht und zur Annerkennung des erreichten Verhandlungstandes zwischen Israel und den Palästinensern (und somit indirekt Israels) zu bewegen. Die Türkei argumentierte wiederum damit, eine Isolation würde die Hamas noch stärker in die Hände Irans und Syriens treiben und somit eine Friedenslösung weiter erschweren. Allerdings ist es der AKP nicht gelungen, die Hamas-Vertreter zu irgendwelchen relevanten Zugeständnissen zu bewegen, so dass der Besuch als Misserfolg und diplomatischer Fauxpas bewertet werden muss.

Parallel dazu bemühte sich die türkische Außenpolitik um gute Beziehungen zur Fatah und zu Palästinenserpräsident Mahmud Abbas. Türkische Vermittlungs- und Schlichtungsversuche zwischen Fatah und Hamas erbrachten bislang jedoch nicht den erhofften Erfolg.

Mit dem Beginn der jüngsten Militäroffensive Israels in Gaza am 27. Dezember 2008 – auf die Ministerpräsident Erdoğan offenbar trotz eines Kurzbesuches seines israelischen Kollegen Olmert in Ankara einige Tage zuvor nicht vorbereitet war – nahm auch die aktuelle Krise in den türkisch-israelischen Beziehungen ihren Anfang. Sowohl die türkische Politik als auch die Öffentlichkeit reagierten empört. Allerdings sorgte die ungewöhnlich harsche und emotionale Kritik Erdoğans an Israel für Irritationen und kam auch für manchen Beobachter in der Türkei überraschend. Spätestens nach dem „Eklat von Davos“ wurde deutlich, wie unterschiedlich die türkische Haltung zum Gaza-Krieg im Vergleich zu den USA, der EU aber auch zu den moderaten arabischen Staaten ist. Ob der Auftritt Erdoğans in Davos Kalkül oder spontan war, bleibt Spekulation. Klar ist jedoch, dass er damit Anerkennung und Bewunderung in der muslimischen und arabischen Welt gewonnen hat. Auch in der Türkei wurde er von seinen Anhängern als Held gefeiert. Sicher ist, dass dies bei den am 29. März 2009 anstehenden Kommunalwahlen positive Auswirkungen für die AKP haben wird.

Außer politischer Kritik startete die AKP-Regierung jedoch frühzeitig auch eine intensive Pendeldiplomatie mit dem Ziel, die israelischen Angriffe im Gazastreifen zu stoppen und die zerstrittenen Parteien an einen Verhandlungstisch zu bringen. Ministerpräsident Erdoğan reiste zwischen dem 31. Dezember 2008 und 3. Januar 2009 zu Gesprächen nach Syrien, Jordanien, Ägypten und Saudi Arabien. Er warb dort für einen Zweistufenplan, wonach zunächst ein Waffenstillstand und die Stationierung internationaler Friedenstruppen vorgesehen sei, danach sollte eine Aussöhnung zwischen der Hamas und Fatah vermittelt sowie der Wiederaufbau in Gaza mit internationaler Hilfe organisiert werden.

Erdoğans außenpolitischer Berater Prof. Ahmet Davutoğlu traf sich in Damaskus mit der Exilführung der Hamas, um die Konditionen für einen Waffenstillstand auszuhandeln. Dies geschah parallel zu den diplomatischen Bemühungen westlicher und arabischer Länder unter der Federführung Frankreichs und Ägyptens um eine regionale Friedenslösung für Gaza, die eine explizite Einbeziehung der Hamas nicht vorsah.

Als am 18. Januar 2009 die Kampfhandlungen eingestellt wurden (jeweils einseitig von Israel am 17.01. und der Hamas am 18.01. verkündet), reklamierte die Türkei ihren Anteil am Erfolg der internationalen Vermittlungen. Prof. Davutoğlu erklärte gegenüber türkischen Medien, die Türkei hätte eine Schlüsselrolle dabei gespielt, die Hamas zur Niederlegung der Waffen zu überreden. Die Einbeziehung der Islamisten in die Verhandlungen sei unumgänglich gewesen, da „eine Ausgrenzung der Hamas einer Ausgrenzung des palästinensischen Volkes gleichkäme, denn Hamas wurde von den Palästinensern gewählt“.

Die Beziehungen der Türkei zu Israel wurden durch den politischen Konflikt um den Gaza-Konflikt zwar schwer belastet, sind aber nicht irreparabel geschädigt. Das strategische Interesse an einer engen Kooperation ist nach wie vor auf beiden Seiten vorhanden und wird auch nicht von der AKP grundsätzlich in Frage gestellt. Die Türkei war eines der ersten Länder, das den jüdischen Staat nach seiner Gründung 1948 anerkannt hat (1949), die Beziehungen haben sich insbesondere in den 90er Jahren intensiviert und sind zu Beginn des 21. Jahrhunderts in eine strategische Partnerschaft übergegangen. Insbesondere im militärischen und wirtschaftlichen Bereich sind die Verbindungen und Interessensverflechtungen so eng verknüpft, dass sie auch diplomatisch-politischen Krisen standhalten können. Allerdings darf ein Faktor nicht unterschätzt werden: Die Stimmung in der Bevölkerung. Die starke Zunahme antiisraelischer und gelegentlich auch antisemitischer Einstellungen in der türkischen Öffentlichkeit in den letzten Wochen ist ein Faktor, der zwar von der Politik teilweise gezielt für innenpolitische Zwecke instrumentalisiert worden ist, der aber auch eine gefährliche Eigendynamik entwickeln kann. Hier steht die AKP vor einer großen politischen Verantwortung.

Das Nahost-Engagement der Türkei im Zusammenhang mit der Gaza-Krise ist aufschlussreich für das Verständnis der neuen türkischen Außenpolitik, die seit dem Regierungsantritt der AKP 2002 graduell ihre Umsetzung findet. Sie knüpft an einige Prinzipien der Außenpolitik des früheren Präsidenten Turgut Özal an, wird aber im Wesentlichen durch die Thesen von Prof. Ahmet Davutoğlu geprägt, wie sie in seinem 2001 erschiennen Buch „Strategische Tiefe: Die internationale Stellung der Türkei“ („Stratejik derinlik: Türkiye´nin uluslararası konumu“) zusammengefasst sind. Laut Prof. Davutoğlu sollte die Türkei zu ihrer eigenen „historischen und geographischen Identität“ zurückfinden (manche Kritiker sprechen von einer „neo-Osmanischen“ Identität) und empfiehlt, ein „ausgewogenes Verhältnis zu allen globalen und regionalen Akteuren“ anzustreben, einschließlich starker wirtschaftlicher Beziehungen mit allen regionalen Nachbarstaaten. Dies bedeutet, dass sich die Türkei nicht einseitig auf ein Bündnis mit dem Westen (USA und EU) beschränken, sondern gute Beziehungen mit allen Staaten der Region anstreben sollte (Motto: „Null Konflikt“). Eine multipolare und multidimensionale Ausrichtung der türkischen Außenpolitik soll allerdings nicht zum Nachteil für die guten Beziehungen zum Westen sein. „Die Europäische Union ist unsere Priorität, ja. Das heißt aber nicht, dass wir den Nahen Osten ignorieren können, den Kaukasus und den Balkan. Die Türkei muss gleichzeitig in vielen Richtungen aktiv sein“, so die Aussage des außenpolitischen Beraters von Ministerpräsident Erdoğan bei einer Pressekonferenz am 19.01.2009.

Im Rahmen dieses Konzeptes sind weitere Schritte der türkischen Nahostpolitik zu sehen: Die Annäherung an Syrien (in diesen Rahmen fallen auch die Vermittlungen der Türkei bei den israelisch-syrischen Verhandlungen), der pragmatische Dialog mit dem Iran, die Aufnahme von Kontakten zur kurdischen Regionalregierung im Nordirak, die Stärkung der Beziehungen zu Saudi Arabien.

Die Zeit wird zeigen, ob der Spagat einer Außenpolitik mit guten Beziehungen zu den USA, zur EU, zu Russland, Israel, Syrien, Ägypten, den Irak und Iran langfristig zu meistern ist und ob dieser Ansatz tatsächlich den strategischen Interessen der Türkei wirksam dienen kann.

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