Varade publitseerija

Tim Bloomquist / flickr / CC BY-NC-ND 2.0

Riikide raportid

Erschütterung des libanesischen Machtfundaments

kohta Dr. Malte Gaier, Valentina von Finckenstein, Fatma Khanjar

Wohin steuern die jüngsten Massenproteste den Libanon?

Aus einer spontanen Protestansammlung, wie sie in den letzten Wochen im Libanon verstärkt auftrat, entwickelten sich am Abend des 17.10.2019 innerhalb weniger Stunden die möglicherweise größten Proteste, die das Land in seiner jüngeren Geschichte erlebt hat.

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Landesweit versammeln sich seitdem jeden Tag hunderttausende Menschen, um die derzeitige wirtschaftliche Krise, die ausufernde Korruption und den Amtsmissbrauch der politischen und wirtschaftlichen Eliten per se anzuprangern. Schulen, Universitäten und Banken bleiben geschlossen und jeden Morgen werden die strategisch und logistisch wichtigsten Hauptverkehrsknotenpunkte im Land blockiert. Bürger sind aufgerufen, sich dem zivilen Ungehorsam anzuschließen, um das Land lahmzulegen, und damit den Rücktritt der Regierung und des Parlaments zu erzwingen. Die Proteste verliefen bislang überwiegend friedlich. Die Regierung und Armee haben den Demonstranten dahingehend Garantien zugesagt, auch wenn die dominierenden Protestrufe den Sturz der Regierung bzw. „des Regimes“ fordern und damit stark an den Arabischen Frühling 2011 erinnern. Die Intensität und das Ausmaß der Proteste trafen die Eliten des Landes, Beobachter - aber auch Libanesen selbst - völlig unerwartet. Sie begründen sich aber durch eine Vielzahl an langwierigen und tiefgehenden wirtschaftlichen und sozialen Problemen im Land, die in den vergangenen Monaten das Potential für einen Protest dieses Ausmaßes geschaffen haben.

Hintergrund

Das Land befindet sich in einer tiefen Wirtschafts- und Finanzkrise. Die ökonomische Lage des Libanon verschlechterte sich in den vergangenen Monaten graduell und im Juni versuchte die Regierung zuletzt mithilfe eines Sparhaushalts dem Negativtrend entgegenzuwirken: Neben einer der höchsten Staatsschuldenquoten kämpft der Libanon mit einer hoher Arbeitslosigkeit, sinkenden Rücküberweisungen der Diaspora und einem Zwillingsdefizit, sprich ein Haushaltsdefizit von 11,5% des BIP bei gleichzeitigem Leistungsbilanzdefizit und einem öffentlichen Schuldenhaushalt von 150% des BIP (86 Mrd. USD). Der Großteil der Wirtschaftsexperten stimmt überein, dass der Libanon nicht nachhaltig wirtschaftet, und das in einem Ausmaß, das auch auf lange Sicht nicht von ausländischen Investitionen abgefedert werden kann. Erst im August 2019 stufte die Ratingagentur Fitch Libanons Kredit auf CCC ab. Eine notdürftige und über Jahrzehnte vernachlässigte Infrastruktur im öffentlichen Transport, eine unzureichende aber auch im regionalen Vergleich überteuerte Elektrizitätsversorgung sowie eine fehlende Abfallversorgung tragen zu dem wachsenden Frust der Bürger bei. Hinzu kam seit dem Ausbruch der Syrien-Krise eine zusätzliche sozioökonomische Belastung durch die Aufnahme von über einer Million Flüchtlingen – genaue Daten hierzu, welche die Zahl der nicht beim UNHCR registrierten Flüchtlinge mitberücksichtigen, existieren nicht. Nur wenige Tage vor dem Ausbruch der aktuellen Proteste wüteten in weiten Landesteilen die schlimmsten Waldbrände seit mehr als zehn Jahren. Den libanesischen Bürgern bestätigte dies erneut die ganze Dimension staatlicher Handlungsunfähigkeit, da sie die Regierung für das Ausmaß der Schäden verantwortlich machten. Die Handlungsunfähigkeit des Staates durchzieht praktisch alle Bereiche des öffentlichen Lebens und ist über die Jahrzehnte systemischer Teil von Wirtschaft und Verwaltung geworden. Einher geht sie mit dem konfessionell-politischen Proporzsystem, das über Jahrzehnte hinweg als Provisorium aus Gesellschaftsvertrag und Schlüssel zur Ressourcen- und Machtaufteilung tiefgreifende Reformen erschwert hat. Diese sind allerdings nicht nur für die nationale Wirtschaft, sondern auch für die im Rahmen der CEDRE-Konferenz vom April 2018 zugesicherten letzten internationalen Investitionen unerlässlich.

Die unmittelbare Auswirkung des wirtschaftlichen Notstands machte sich bereits seit einigen Monaten auch bei der heimischen Währung bemerkbar. Die Kopplung des libanesischen Pfunds an den US-Dollar, seit den 1990er Jahren zum festen Kurs von 1500:1, hat über die Jahre zwar Vertrauen für Anleger geschaffen, dabei aber in den vergangenen Monaten trotz wiederholter Beteuerungen durch den Gouverneur der libanesischen Zentralbank Riad Salamé, dass die Währung stabil sei und bleiben würde, einen deutlichen Realkursverfall vollzogen mit einem plötzlichen Abfluss von US-Dollar aus dem Wirtschaftskreislauf, der vor allem US-Dollar-abhängige Importe trifft: In den letzten Wochen waren hiervon Tankstellen betroffen, deren Forderung an die Regierung, Treibstoffimporte in libanesischen Pfund anstatt in US-Dollar bezahlen zu können, vernachlässigt wurde, was schließlich zu einem landesweiten Streik führte. Von der Importreglung waren ebenso Bäckereien betroffen, welche in den folgenden Streiks vor einem möglichen Weizen- und Brotmangel warnten. Weitere Unsicherheit lösten Berichte und unkontrolliert kursierende Gerüchte über die scheinbar fehlende Liquidität libanesischer Banken aus. Dem gingen Beschränkungen beim Abheben von US-Dollar-Beträgen an Bankautomaten voraus. Einzelne Banken hatten zudem in den letzten Wochen ihren Kunden, ohne diese darüber zu informieren, inoffiziell Limits für die Abhebung von US-Dollar verordnet. Auf der Straße wurden diese Entwicklungen in den letzten Monaten vermehrt mit Demonstrationen und Protestkundgebungen erwidert. Im Rahmen der Suche nach neuen Einkommensquellen für den hochverschuldeten Staatshaushalt, kündigte der Informationsminister am 17.10.2019 schließlich an, ab 2020 WhatsApp-Telefonate mit einem Betrag von 0,20 US-Dollar zu besteuern. Im gleichen Zuge wurde eine mögliche Anhebung der Mehrwertsteuer von 11 auf 17% diskutiert. Diese Ankündigung brachte den entscheidenden Anstoß zur Entladung lang angestauter Wut auf Seiten der Bürger. Als die Ausmaße der folgenden Proteste deutlich wurden, ließ der Telekommunikationsminister schließlich auf Anweisung von Premierminister Saad Hariri die "WhatsApp"-Steuer öffentlich revidieren, ohne allerdings damit die eskalierende Dynamik der Demonstrationen abmildern zu können.

Massenproteste oder Revolution à la Libanaise?

Nach der ersten Stellungnahme von Premierministers Saad Hariri am 18.10.2019, der bereits Gerüchte über seinen unmittelbaren Rücktritt vorausgingen und in der er eine 72-Stundenfrist ankündigte, innerhalb welcher seine Koalitionspartner in der Regierung einem umfassenden sozioökonomischen Paket an Reformen und Sofortmaßnahmen zustimmen sollten, hatten sich seit Samstag die landesweiten Proteste ausgeweitet. Bereits kurz nach dem vorherigen Statement von Außenminister Gibran Bassil, dem Vorsitzenden der größten christlichen Partei Free Patriotic Movement und Schwiegersohn des Staatspräsidenten Michel Aoun –, war die Stimmung unter den Demonstranten umgeschlagen. Freitagnacht kam es dabei auch zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften, Armee und Demonstranten. Da die harte Lösung zur Aufreibung der Proteste jedoch nicht die erhoffte Wirkung erzielte, setzen die Sicherheitskräfte seitdem auf Mäßigung. Die Armee ist überall präsent, greift jedoch nicht in die Entwicklungen ein. Im Süden des Landes kam es weiterhin vereinzelt zu gewaltsamen Vorfällen, als bewaffnete Amal-Anhänger auf Demonstranten in Tyros und Nabatieh schossen, nachdem sich dort die Stimmung offen gegen Nabih Berri, den Parlamentssprecher und Vorsitzenden der schiitischen Amal-Partei, gerichtet hatte. Die Demonstrationen, die in überwiegend schiitischen, traditionellen Hochburgen von Amal und Hisbollah stattfanden, sind in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. In den betroffenen Gebieten kontrollieren beide Parteien über ihre Milizen und Sicherheitsdienste nicht nur Verwaltung und öffentliches Leben. Über Jahre hinweg wurde hier ein System vollständiger Kontrolle etabliert, das bislang jegliche öffentlich geäußerte Kritik an beiden Parteien und insbesondere an deren Führern unterdrückt hatte. Im Rest des Landes verliefen die Proteste jedoch überwiegend friedlich – die Szenen im Stadtzentrum um den Regierungssitz und das Parlament sind ausgelassen und erinnern an ein großes Volksfest. Am vergangenen Sonntag soll die Anzahl der im Lande Protestierenden die Ausmaße der Zedernrevolution von 2005 mit mindestens 1,5 Millionen Demonstranten geschätzten landesweit überstiegen haben. Zusätzlich dazu demonstrierte die libanesische Diaspora weltweit vor libanesischen Vertretungen. Neu an den gegenwärtigen Protesten ist, dass sie spontan und zu Beginn wenig koordiniert erfolgten – u.a. da keine politische Partei, wie es sonst im Land üblich ist, die Organisation an sich gezogen hat. Zudem erfolgen die Proteste hinsichtlich der sie tragenden Gruppe über Konfessionen und soziale Milieus hinweg.

Die Regierung hat nach einer Sondersitzung des Kabinetts, die ohne die zuvor aus der Regierung zurückgetretenen vier Minister der christlichen Lebanese Forces stattfand, einen Maßnahmenmix aus Reformen und Haushaltänderungen beschlossen, bei gleichzeitigem Versprechen, keine neuen Steuern bzw. -erhöhungen in den Haushaltsentwurf 2020 aufzunehmen. In dieser Sondersitzung soll es zu dramatischen Szenen und hitzigen Wortwechseln v.a. zwischen der FPM und der drusischen Progressive Socialist Party (PSP). gekommen sein. Unter das 18 Punkte umfassende Maßnahmenpaket fallen eine Reduzierung der Bezüge von aktiven und ehemaligen Abgeordneten und anderen offiziellen Amtsträgern um 50%, die Limitierung der Bezüge von Richtern und Angestellten im öffentlichen Dienst, die Erhebung einer einjährigen Steuer auf Profite von Banken und Versicherungen von 25% (je nach Berechnung mindestens 3,3 Mrd. USD), die Anwendung eines bereits vorliegenden Gesetzes zur Wiedererlangung veruntreuter öffentlicher Gelder, die Suspendierung der bereits beschlossenen Gehaltseinschnitte für Offiziere von Armee und Sicherheitskräften, die Aufhebung des Bankgeheimnisses in Einzelfällen, z.B. im Falle der Konten von aktiven Ministern und Abgeordneten, die Auflösung des derzeit unter Minister Jamal Jarrah (Future Movement) stehenden Informationsministeriums, sowie die Beschleunigung der Hilfsmaßnahmen zur Lösung der Elektrizitätskrise und der Privatisierung im Telekommunikationsbereich. Die beiden letztgenannten Punkte gehören zum Auflagenkatalog von Seiten der Geberländer der im Rahmen von CEDRE bereitgestellten Mittel i.H.v. 11 Mrd. USD, die zumeist Kredite umfassen. Insgesamt gehen jedoch die kaum erfüllbaren Forderungen der Demonstranten nach einer umgehenden Reform des libanesischen Wirtschaftssystems weit über die angekündigten und grundsätzlich überwiegend positiv zu bewertenden Maßnahmen, die die Regierung nun umsetzten will, hinaus.

Neue Protestkultur

Noch immer hat keine erkennbare Gruppe die Organisation oder Führung der Proteste übernommen. Auffällig wenige Reden dominieren den politischen Raum und die Fernsehsender konzentrieren sich fast durchgehend auf Interviews mit zumeist die einkommensschwachen Schichten vertretenden Bürgern. Vielen Libanesen, die die Geschehnisse vom Fernseher aus verfolgen, wird in diesen Tagen das gesamte Ausmaß der landesweit zum Teil sehr prekären Verhältnisse vieler Landsleute in seltener Deutlichkeit vor Augen geführt. Am 22.10.2019 verlas ein selbsternanntes Komitee zur Koordination der Revolution, bestehend aus zivilgesellschaftlichen Gruppen, ehemaligen Militärs und Vertretern regionaler Stadtverwaltungen ein Manifest, in dem es u.a. den Rücktritt der Regierung und die Einrichtung einer Technokratenregierung verlangte, welche die Wiedererlangung veruntreuter öffentlicher Gelder und Neuwahlen auf Grundlage eines neuen Wahlrechts binnen sechs Monaten organisieren soll. Das Komitee bietet sich darüber hinaus als Sammelbecken für alle Oppositionskräfte an. Neben schon länger lose bestehenden und neuen zivilgesellschaftlichen Gruppen wie Beirut Medinati, YouStink, Li Haqqi, die grüne Partei oder Citizens in a State, die aber i.d.R. keine feste Struktur aufweisen und eher dezentralisiert in den sozialen Medien mobilisieren, sind einige politische Parteien - Kataeb, National Bloc, Sabaa, sowie nunmehr die Lebanese Forces - früh den Protesten beigetreten. Dennoch gehen auch diese im Gesamtbild der Proteste unter, so sind nach wie vor keine Partei-Symbole zu sehen, anstatt dessen ausschließlich libanesische Nationalflaggen. Regierung und Staatsführung wirken nach wie vor verunsichert. Lange hatten sich weder Präsident Aoun, Parlamentssprecher Nabih oder führende Minister zu Wort gemeldet, was eher noch zusätzliche Wut unter den Demonstranten schürte. Insgesamt ist auszumachen, dass sich die Stimmung von Anfang an parteiübergreifend gegen Politiker und die politischen Eliten per se gerichtet hat. Auch wenn bislang keine einheitliche Formulierung fester Ziele des Protests bekannt ist, stimmen die Demonstranten in der Forderung überein, dass alle bislang bekannten traditionellen Kräfte abtreten müssten. Gleichzeitig ist auch keine politische Nachfolge-Regelung erkennbar: Zivilgesellschaftliche Kräfte, die zu den Wahlen 2018 und vorherigen Kommunalwahlen erstmals antraten, haben seitdem keine substantiellen Fortschritte im Sinne eines systematischen Aufbaus politischer Strukturen gemacht. Oftmals ist nach wie vor nicht bekannt, wer zum Führungspersonal einer Gruppe gehört. Vereinzelt kam es nach den ersten Tagen der Proteste zur Einberufung lokaler Komitees, Bürgersprechstunden und Pressekonferenzen verschiedener zivilgesellschaftlicher Gruppen, um so zu versuchen, die Forderungen zu bündeln. Ebenso deutet sich aber auch an, dass die Strategie einiger politischer Parteien, sich von Beginn an mit der Anti-Establishment-Protestbewegung zu solidarisieren, nicht die gewünschte Wirkung nach sich ziehen wird und die wenigen Abgeordneten, die sich den Protesten anschließen wollen, werden von den Demonstranten z.T. mit deutlichen Worten zurückgewiesen.

Die Proteste sind auch ein Protest der Jugend des Landes: Schauplätze des Protests, der an den Stil der Occupy-Proteste erinnert und eine deutlich antikapitalistische Prägung erkennen lässt, werden deutlich von der Altersgruppe der 20- bis 30-Jährigen dominiert, sprich, der Generation der Erstwähler der Wahlen von 2018. Damals waren nur wenige Erstwähler zu den Wahlen gegangen. Derzeit hört man abweichende Zahlen zur Arbeitslosenquote unter dieser Altersgruppe (zuletzt unbestätigte Angabe von 37%). Ebenso unbestätigt ist die Angabe zur Abwanderung von Universitätsabsolventen (ca. 30-40 %) – jedoch ist Jahr für Jahr von einer weitaus höheren Quote auszugehen, berücksichtigt man jene, die das Land nur aus Visagründen oder aufgrund mangelnder finanzieller Möglichkeiten nicht verlassen können.

Traditionelle Machtbalance bedroht oder zurück zum Status Quo?

Premierminister Saad Hariri, der während seiner Amtszeit bereits mehrere für ihn politisch existentielle Krisen überstanden und so schon mehrmals entgegen als sicher geltenden Rücktrittsgerüchten das Amt bis heute verteidigen konnte, steht nun erneut unter enormem Druck, der von mehreren Seiten auf ihn ausgeübt wird: Sein Rücktritt, der jedoch derzeit nicht erkennbar ist, würde nicht nur sein voraussichtliches politisches Ende bedeuten, sondern auch eine möglicherweise Monate andauernde Regierungskrise auslösen, die das Land in jeder Hinsicht lähmen würde. In der Frage, wer ihm unter den führenden Sunniten als Premierminister folgen könnte, ist dieser Tage oft zu hören, das bisherige Narrativ, wonach Hariri keinen ernstzunehmenden Herausforderer habe und damit alternativlos sei, verliere in Krisenzeiten wie der jetzigen, jegliche Gültigkeit und werde zwangsläufig einer pragmatischen Lösung weichen müssen. Hierzu passt, dass mögliche Aspiranten auf die Rolle des Premierministers – etwa die Multimilliardäre Faisal Karami und Najib Mikati aus Tripoli, der ehemalige Premierminister Fouad Siniora oder der Beiruter Geschäftsmann Foud Makhzoumi - , sich bereits sehr früh auf die Seite der Demonstranten stellten. Zudem würde eine politische Paralyse im Libanon, der sich erst am Anfang einer Wirtschaftskrise befindet, fast zwangsläufig die bereits jetzt alarmierenden Kollaps-Vorzeichen beschleunigen. Dass das Schicksal Hariris eng mit dem Erfolg oder Misserfolg von tiefgehenden substantiellen Reformen im Rahmen von CEDRE verbunden ist, ist dieser Tage auch von Seiten internationaler Vertreter zu hören.

An seinem politischen Überleben als Regierungschef haben darüber hinaus auch die anderen an der Regierung beteiligten Parteien und insbesondere FPM, Hisbollah und Amal ein Interesse. Die Parteien verfügen zusammengenommen sowohl über eine Vetostimme im Parlament und können darüber hinaus und bei Bedarf parlamentarische Mehrheiten schaffen, welche sie in der Vergangenheit auch wiederholt als Druckmittel einsetzten. Dennoch sind sie auf Hariri als kontrollierbaren Regierungschef und auch angesichts der Maximum Pressure-Kampagne durch die USA und ihre Verbündeten, als Puffer und Garant der Unantastbarkeit angewiesen. Im Zuge der Kampagne, die nach der Sanktionierung der Hisbollah-nahen libanesischen Jammal Trust Bank und der weiteren Listung von Hisbollah-Vertretern vor wenigen Wochen vorübergehend den direkten Druck auf Hisbollah reduziert hatte, wurde zuletzt von US-Seite angekündigt, auch Sanktionsmöglichkeiten gegen die politischen Verbündeten Hisbollahs prüfen zu wollen. Entsprechend hatten die Parteien den Druck auf Hariri, im Amt zu bleiben, seit Freitag beständig erhöht, u.a. durch die unplanmäßig vorgezogene Rede von Gibran Bassil am Freitag, in der er im Falle eines Rücktritts Hariris den sicheren wirtschaftlichen Ruin des Landes beschwor. Ähnlich argumentierte Hisbollahs Führer Hassan Nasrallah in seiner Rede am Samstag-Vormittag und drohte indirekt an, Hisbollah könne ihre bisherige Zurückhaltung bei den Protesten aufgeben und im Falle der Gefahr eines Rücktritts Hariris im nationalen Interesse auf die Straßen gehen.

Auf der anderen Seite haben Samir Geagea von den Lebanese Forces und zunächst auch Walid Jumblatt und seine PSP, ihrerseits den Druck auf Hariri erhöht, zurückzutreten und in diesem Zuge geordnet, eine verkleinerte technokratische Caretaker-Regierung einzusetzen, oder einen Teil des bestehenden Kabinetts durch neue Übergangsminister zu ersetzen, die kurzfristig die wirtschaftliche Lage stabilisieren soll um dann Neuwahlen einzuleiten. Der Rücktritt der LF-Minister aus der Regierung hat zudem das offizielle Ende des sogenannten Aoun-Geagea/Meerab-Pakts von Januar 2016 markiert. Nur durch dieses Abkommen war die Ernennung Michel Aouns möglich gewesen, die seinerzeit die zweijährige Präsidentschaftskrise beendet hatte.

Ausblick

Nach der ersten sechstägigen Phase der Proteste versucht die Regierung auf Zeit zu spielen. Sie setzt damit nun ihrerseits die Protestbewegung unter Druck, schnell konkrete und einheitliche Forderungen zu formulieren und gleichzeitig eine Führung der Proteste unter möglichst einer gemeinsamen Plattform zu präsentieren. Insgesamt haben bislang gut zwei Drittel der Bevölkerung nicht an den Protesten teilgenommen, doch bereits jetzt lassen durch die Lahmlegung des öffentlichen Verkehrs verschärfte Versorgungsengpässe bei vielen unbeteiligten Bürgern die Frage aufkommen, wie lange die Proteste andauern sollen und unter welchen Bedingungen die Demonstranten bereit wären, ihre Proteste einzustellen. Für die Protestbewegung wird die Beantwortung dieser Fragen nur eine von vielen Herausforderungen sein, die sich ihr derzeit stellen und darüber entscheiden, ob sich die Dynamik der Proteste noch weiter erhöhen wird oder ob diese über die nächsten Tage oder Wochen abflauen werden.

Weitere Verzögerungen, insbesondere bei der Rettung und Konsolidierung seiner Wirtschaft kann sich das Land im wahrsten Sinne nicht mehr leisten. Schnell wirkende sowie langfristige, für eine grundsätzliche Erneuerung und die Sanierung des Haushalts unerlässliche Reformmaßnahmen – die angesichts der wirtschaftlichen Misere jedoch auch unpopuläre fiskale Entscheidungen mit sich bringen werden - sind dringender denn je. Auch im besten Falle einer schnellen Einigung und einer Normalisierung des öffentlichen Lebens darf nicht vergessen werden, dass die wirtschaftliche Situation im Land nicht nur unverändert krisenhaft bleibt, sondern durch die Proteste und die im Rahmen der langfristig angewandten Strategie des zivilen Ungehorsams – so nachvollziehbar und hehr die mit ihr verfolgten Ziele auch sind – mit jedem Tag zusätzlich belastet wird.

Die beispiellose Dynamik der vergangenen Tage lässt eine entscheidende und wahrscheinlich wegweisende Zäsur in der jüngeren Geschichte des Libanon erahnen, dadurch, dass sie nun unerwartet einen bislang unbekannten Raum geschaffen hat, in dem gegen jahrzehntealte Missstände und innere Widersprüche des libanesischen Staates, die die Lebenswelt des einzelnen Bürgers seit jeher prägten, offen aufbegehrt wird. Hierzu gehören die allgegenwärtige Korruption im Land, feudal geprägter Klientelismus und die nur schwach ausgeprägten Fähigkeiten und Instrumente des Staates zu guter Regierungsführung. Über die sonst das Leben im Libanon prägenden konfessionellen und politischen Trennlinien hinaus, gehen die Libanesen in diesen Tagen gemeinsam auf die Straße und protestieren gemeinsam für gerechte Lebensbedingungen, eine Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse und demokratische Grundwerte – allerdings gleichzeitig auch für den sofortigen Rücktritt des im Mai 2018 gewählten Parlaments und der erst Ende Januar nach langen Verhandlungen vereidigten Regierung. Wichtig wird also für die Protestbewegung sein, den Libanesen über den Ruf nach einem Sturz der bestehenden Machtverhältnisse hinaus, eine bessere und realistische Alternative zu bieten. Gradmesser der nun kommenden Veränderungen wird nicht zuletzt die junge Generation des Landes sein, die besonders nach ihrer schwachen Beteiligung an den vergangenen Wahlen oft als apathisch und politikverdrossen galt, in diesen Tagen jedoch als Hauptträger der Proteste hervorsticht.

Dieser Bericht wurde erstellt von Dr. Malte Gaier (Leiter Auslandsbüro), Valentina von Finckenstein (Wissenschaftliche Mitarbeiterin) und Fatma Khanjar (Projektkoordinatorin) aus dem Auslandsbüro Libanon der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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