Varade publitseerija

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Riikide raportid

Kreuz-Reinemachen in Kurapaty

Teilabriss einer „Volksgedenkstätte“ für Opfer der Stalinzeit bei Minsk

Die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alixejiwitsch sprach von einem „künftigen Bezugspunkt der belarussischen Geschichte“, die Parlamentsabgeordnete Hanna Kanopatska nannte es „satanische Blasphemie” und die erste Reaktion des Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses der Nationalver-sammlung, Valerij Voronetskij, war „Verwirrung, Schmerz und Angst“. Erhitzte Gemüter und eine offene Konfrontation zwischen staatlichen Behörden auf der einen und eine seltene Mischung aus Aktivisten, Vertretern von Kirchen und Oppositionsparteien sowie einfachen Bürgern und Teilen der Staatsmacht auf der anderen Seite prägten das Bild in diesen Tagen gut zwei Wochen vor Ostern.

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Was war passiert? Am Morgen des vierten April waren in einem kleinen Waldstück nordöstlich von Minsk, unmittelbar an der Ringautobahn M9, die die belarussische Hauptstadt in einem geometrisch nahezu vollkommenen Zehnmeilenradius umgibt, Bagger und Bulldozer angerollt. Begleitet durch ein Polizeiaufgebot, das die Umgebung sicherte und Zufahrtswege absperrte, lautete ihr Auftrag: Ordnung schaffen. Der Stein des Anstoßes war eine Installation aus Holzkreuzen. Aufgestellt durch private Initiativen und von der Straße aus gut sichtbar, waren sie den Behörden ein Dorn im Auge und sollten beseitigt werden. Mit dem schweren Gerät dauerte es nicht lang, die etwa 70 übermannshohen Balken aus der Erde zu reißen und so konnten die Arbeiter schon bald zum nächsten Schritt übergehen: der Abzäunung des Geländes. Das unscheinbare Waldstück, das seit 1993 vom Kulturministerium als Ort von „historisch-kulturellem Wert der ersten Kategorie“ anerkannt wird, ist über die Grenzen der Republik Belarus hinaus bekannt ist unter dem Namen „Kurapaty”.

Narben der Geschichte

Unter den Katastrophen und Kriegen des 20. Jahrhunderts hatte Belarus zu leiden, wie kaum ein anderes Land in Europa. Allein während des Zweiten Weltkriegs verlor es über ein Viertel seiner Bevölkerung - die Besatzungspolitik Nazideutschlands war angesichts des Holocausts an der in Belarus zahlreichen jüdischen Bevölkerung sowie dem Kampf gegen echte und vermeintliche Partisanen von besonderer Grausamkeit geprägt. Allein im Vernichtungslager Maly Trostinez im Südosten von Minsk wurden während der dreijährigen Besatzung bis zu 200.000 Menschen ermordet. Doch Massenerschießungen begannen nicht erst mit dem deutschen Überfall.

Unter Federführung des Sowjetischen Innenministeriums NKWD waren bereits zwischen 1937-1940 im Rahmen des sogenannten „Großen Terrors” an verschiedenen Orten der Sowjetunion umfassende Mordaktionen an Zivilisten durchgeführt worden - Männer, Frauen und Kinder, unter ihnen viele Intellektuelle. Als Teil einer großangelegten Terrorkampagne gegen vermeintliche Gegner des Regimes wurden die Menschen in großen Zahlen inhaftiert, mit Transportern in die Wälder gebracht und standrechtlich exekutiert. Die blutigste Henkerstätte dieser Art in Belarus war Kurapaty. Wie viele Menschen genau dort in Massengräber verscharrt sind, konnte nie endgültig geklärt werden. Die offiziellen Angaben belaufen sich auf etwa 30.000. Manche Historiker setzen die Zahlen bis zu achtmal höher an.

Nach dem Ende des Krieges wurde lange nicht offiziell über die Vorfälle gesprochen. Ähnlich wie beim Massaker im 300 Kilometer östlich gelegenen Katyn wurden auch diese Erschießungen zunächst den Deutschen in die Schuhe geschoben und der genaue Ort der Exekutionen war nicht bekannt. Erst 1988 fanden Forscher die Massengräber, nachdem Kinder beim Spielen im Wald auf menschliche Überreste gestoßen waren. Erste Exhumierungen begannen. Die damaligen Proteste gegen das Verschweigen durch die sowjetischen Machthaber führten im Herbst 1989 zu einem Gedenkmarsch, an dem schätzungsweise 50.000 Menschen teilnahmen. Manche Historiker sehen darin gar eine Katalysatorfunktion für die Proteste in weiteren Teilen der UdSSR. Es sollte nicht lange dauern, bis die Sowjetunion zerfiel und Belarus seine staatliche Unabhängigkeit erlangte.

Schweres Erbe

Der Umgang mit der Vergangenheit blieb jedoch ambivalent. Nach der Wahl Aljaxandr Lukaschenkas zum Staatspräsident im Jahr 1994 wurde ein Großteil der alten Symbolik wiedereingeführt und bis heute sind im ganzen Land Straßen, Plätze und sogar Städte nach Vordenkern, Funktionären und Organisationen der Sowjetzeit benannt. So tat sich das offizielle Minsk schwer mit einer genauen Aufarbeitung der Verbrechen des Stalinismus. Trotz der prinzipiellen Anerkennung des historischen Werts von Kurapaty und der mehrfachen Bestätigung der historischen Fakten durch staatsanwaltliche Ermittlungen, blieben die Archive geschlossen und es sollte bis 2018 dauern, bis das Kulturministerium, ohne eine begleitende öffentlichkeitswirksame Zeremonie, auf Weisung des Präsidenten ein Mahnmal errichten ließ, das allgemein der „Opfer der politischen Repression der Dreißiger- und Vierzigerjahre des 20. Jahrhunderts” gedenkt, dabei jedoch auf eine genauere Nennung der Täter verzichtet.[i]

In ähnlicher Weise erkennt Präsident Lukaschenka an, dass im Wald von Kurapaty „unsere Leute” liegen, doch hat er dem Ort nie einen offiziellen Besuch abgestattet, obgleich ihn sein Weg ins Präsidialamt dort täglich vorbeiführt.[ii] Einige Analysten gehen davon aus, dass dies der Grund sei, dass er die Kreuze am Waldrand entfernen ließ - um sie nicht täglich sehen zu müssen. Ob die Order zu ihrer Räumung direkt auf den Staatschef zurückgeht oder auf die Eigeninitiative eines Staatsbeamten, ist nicht gesichert, jedoch hatte Lukaschenka in seiner „großen Rede”, einer siebenstündigen Ansprache an die Presse, am ersten März verkündet, dass er das Gelände „aufräumen” lassen wolle. Seine Begründung war, dass die Ausgestaltung eines solchen Ortes „planmäßig” und im Einklang mit Bräuchen und religiösen Traditionen zu erfolgen habe, nicht in Form eines „politischen Protests”.[iii]

Die nun abgerissenen Kreuze markieren dabei jedoch nur den äußeren Rand einer deutlich größeren „Volksgedenkstätte”, die über die Jahrzehnte durch die Bevölkerung und nicht-staatliche Gruppen selbst geschaffen wurde. Kreuze aus Holz, Metall oder Stein durchziehen den gesamten Wald – die ersten von ihnen wurden bereits in späten 1980ern errichtet.[iv] Aktivisten pflegen das Grundstück seither und erneuern die Kreuze, wenn sie morsch oder durch Vandalisten zerstört werden. Letztere vernichteten ebenfalls im Februar 2019 eine von US-Präsident Clinton im Jahre 1994 gestiftete steinerne Bank, ohne dass die Verantwortlichen gefasst wurden.[v]

Die Aktion, die laut Aussage des zuständigen Förstereidirektors Aliaksandr Miranovich nicht nur dem Ordnungschaffen, sondern gar der Verschönerung des Ortes dienen sollte, kam nicht nur für die Aktivisten überraschend, sondern war scheinbar nicht einmal mit dem Kulturministerium abgestimmt.[vi] Kurz nach Beginn der Arbeiten kam es daher zu ersten Protesten und Amateuraufnahmen machten im Netz die Runde. Aktivisten, die versuchten aufs Gelände zu kommen und den Abriss zu verhindern, wurden durch Polizei und Unbekannte in Zivilkleidung zurückgehalten. Allein am vierten April kam es zu 15 Festnahmen, darunter des Ko-Vorsitzenden der Oppositionspartei Belarussischer Christdemokraten Pavel Sevyatynets und des Vorsitzenden der „Jungen Front“ Dzianis Urbanovich. Selbst Journalisten, die das Geschehen filmten und fotografierten, wurden teils an ihrer Arbeit gehindert und mit Festnahme bedroht.

Reaktionen

Die anschließende Welle der Kritik war massiv und kam aus den verschiedensten Teilen der Gesellschaft sowie dem In- und Ausland. Polens Außenminister Jacek Czaputowicz nannte das Vorgehen ein „böses Zeichen“[vii], auch die BBC und die Washington Post brachten Negativschlagzeilen.[viii] Vertreter der Römisch-Katholischen und Orthodoxen Kirchen kritisierten insbesondere die Symbolik der gewaltsamen Zerstörung von Kreuzen während der Passionszeit – ein Umstand, an dem weite Teile der belarussischen Gesellschaft Anstoß nehmen dürften.[ix] Vor diesem Hintergrund klang der Erklärungsversuch des Parlamentsabgeordneten Igor Marsaljuk, das Vorgehen der Behörden diene dem traditionellen Aufräumen vor dem Osterfest, wie Hohn.[x] In Reaktion auf die Geschehnisse versammelten sich noch am selben Abend in Kurapaty etwa 150 Menschen zu einem gemeinsamen Gebet. Auch auf dem Freiheitsplatz im Minsker Stadtzentrum kamen drei Tage später etwa 200 Personen zusammen, um für die Opfer von Kurapaty zu beten.[xi]

Andere, wie die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alixejiwitsch oder der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses der Nationalversammlung Valerij Voronetskij, äußerten ihr Bedauern darüber, dass es dem Staat offenbar nicht gelänge, in schwierigen Zeiten, in derart emotionalen und für die nationale Identität wichtigen Fragen den Dialog mit der Gesellschaft zu suchen.[xii]

Allen Protesten zum Trotz ging die Entfernung von Kreuzen auch in der folgenden Woche weiter. In der Nacht vom 12. auf den 13. April entfernten Unbekannte alle eisernen Kreuze, die auf der anderen Seite des Waldes parallel zur Ringautobahn standen.[xiii] Auch dies führte zu scharfer Kritik seitens des katholischen Erzbischofs Kondrusiewicz, wie auch dem Pressesprecher der Orthodoxen Kirche Lepin und an Palmsonntag versammelten sich Gläubige unterschiedlicher Konfessionen zu Gebeten in Kurapaty und der Heiliggeistkathedrale im Minsker Stadtzentrum.[xiv]

Testfall für den Zusammenhalt

Angesichts eines rauer gewordenen Tons mit dem traditionell zentralen Partner Russland, dessen Vertreter unverhohlen äußern, dass sie sich weitere Schritte der politischen Integration beider Länder erwarten, wenn Belarus weiter von den günstigen Energieimporten profitieren will, auf die es für den Erhalt seiner Sozialsysteme angewiesen ist, scheint der gesellschaftliche Zusammenhalt für Belarus von besonderer Bedeutung. Die Zerstörung der Kreuze in Kurapaty hingegen dürfte eher zur Spaltung der Gesellschaft beigetragen haben und könnte den Präsidenten im Vorfeld der Wahlen Stimmen bei denjenigen Wählern kosten, für die der würdevolle Umgang mit einer Gedenkstätte des nationalen Schmerzes und christlichen Symbolen in einer traditionellen Zeit der religiösen Besinnung und Einkehr einen Wert an sich darstellt.

Eine plausible Erklärung für das Vorgehen der Behörden könnte darin liegen, dass den politischen Opponenten vor den Wahlen nicht zu viel Freiraum gewährt werden sollte. Präsident Lukaschenka hatte deutlich gemacht, dass die ungenehmigte Aufstellung der Kreuze durch Aktivisten in seinen Augen eine „unzulässige Demonstration” darstelle, welche nicht geduldet werden könne.[xv] Auch andere Aktionen führen in diesen Tagen vor Augen, dass das „Manövrierfeld“ für die politischen Gegner neu abgesteckt wird. In Brest etwa, wo seit etwa einem Jahr regelmäßig Proteste gegen den Bau einer Batteriefabrik stattfinden, wurde der Druck auf die Organisatoren erhöht und es kam zu einer Festnahme und der Eröffnung von Strafverfahren.[xvi] Auch die Durchsuchungen und Hardwarebeschlagnahmungen beim unabhängigen Fernsehsender Belsat am 9. April wurden von vielen als Einschüchterungsversuch aufgenommen und etwa durch den OSZE-Beauftragten für Medienfreiheit, Harlem Désir, scharf kritisiert.

Nichtsdestotrotz zeigen die kritischen Reaktionen auf die Räumungsaktion in Kurapaty, dass sich auch so manche Vertreter des Staatsapparats, Beamte und regierungsnahe Unternehmer einen besseren Austausch zwischen der Bevölkerung und der Regierung wünschen würden. Ein solcher Dialog wäre keineswegs ein Zeichen von Schwäche. Vielmehr würde ein strukturiertes Zuhören und Eingehen auf die Wünsche aus der Gesellschaft zu einer erhöhten Zufriedenheit und Legitimität des Regierungshandelns beitragen und Irritationen wie in der vergangen Woche verhindern. Auf lokaler Ebene gab es in den letzten Jahren in Belarus bereits diverse Initiativen, die deutlich machen, dass ein solcher Dialog möglich ist und zur gegenseitigen Vertrauensbildung beiträgt. Dass der Fall von Kurapaty einen Anstoß dazu liefert, eine solche Debatte auch auf nationaler Ebene zu führen, wäre wünschenswert, wenngleich die Aussichten darauf nicht sonderlich hoch sind.

[i] https://news.tut.by/economics/614502.html https://naviny.by/article/20170324/1490364321-kuropaty-narodnyy-pamyatnik-eto-mesto-ne-prinadlezhit-gosudarstvu).

[ii] (https://www.belta.by/president/view/lukashenko-poruchil-privesti-v-porjadok-urochische-v-kuropatah-298004-2018/

[iii] https://reform.by/jejsmont-pro-kuropaty-budet-sdelano-vse-chtoby-jeto-mesto-vygljadelo-dostojno-no-bez-vsjakoj-politiki/)

[iv] http://histpricion.ru/den-1.php

[v] https://naviny.by/article/20190207/1549551329-skamya-klintona-v-kuropatah-polnostyu-razrushena

[vi] https://www.belta.by/society/view/v-kuropatah-prohodjat-planovye-raboty-po-blagoustrojstvu-montirujutsja-ograzhdenija-udaljajutsja-342687-2019/?fbclid=IwAR3oiP8vBIoq4njDoCl7bHuVCgTuYpcxNbpP-RZfTAjERc49magC5N3ZcOM

[vii] https://polskieradio24.pl/5/3/Artykul/2289818

[viii] (https://www.bbc.com/news/world-europe-47816897?SThisFB&fbclid=IwAR2sFK1N0p7LfzTf7t41Fgaizmre-YzSWjqpLKUWjmJ5ierDX-joGRS_nvU

[ix] https://news.tut.by/economics/632586.html) (https://serge-le.livejournal.com/475459.html)

[x] https://news.tut.by/economics/632951.html?crnd=61066

[xi] https://www.svaboda.org/a/29866248.html, https://naviny.by/new/20190407/1554630244-molitva-za-belarus-i-za-kuropaty-proshla-v-centre-minska

[xii] https://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=589909964842674&id=10001471 0278423

[xiii] https://news.tut.by/economics/633783.html

[xiv] https://catholic.by/3/news/belarus/9673-ne-znostse-kryzho-zvarot-artsybiskupa-tadevusha-kandrusevicha-suvyazi-z-novym-znosam-kryzho-u-kurapatakh und https://serge-le.livejournal.com/475920.html?fbclid=IwAR2oxwuIZJ6niSwfzoAttGAogC6_ 9TPV6f0NW6cRUCUS-RDKch6srnpLdbk und https://nn.by/?c=ar&i=228822

[xv] https://belaruspartisan.by/politic/459719

[xvi] https://nn.by/?c=ar&i=228430, https://charter97.org/ru/news/2019/4/5/329441/

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