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Nach der Wahl ist vor der Wahl

Eine Analyse zur Präsidentschaftswahl auf Taiwan am 20. März 2004

Mit einer hauchdünnen Mehrheit von weniger als 0,2% der Stimmen wurde Präsident Chen Shuibian bei den Wahlen am 20. März 2004 in seinem Amt bestätigt. Überschattet war das Ergebnis von den heftigen Protesten der Opposition gegen die „unfairen Wahlen“.

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Nicht nur wegen des überaus knappen Ausgangs, sondern auch wegen der ungeklärten Umstände des Attentats auf Präsident Chen am Vortag der Wahlen demonstrierten Oppositionsanhänger über eine Woche lang vor dem Präsidentenpalast. Den vorläufigen Abschluss bildete eine Großdemonstration von 500.000 Menschen in Taibei. Zwar haben sich die beide großen Lager zwischenzeitlich darauf geeinigt, eine Nachzählung der Stimmen und eine unabhängige Untersuchung des Attentats durchzuführen. Aber noch lässt sich nur schwer absehen, welche langfristigen Folgen die innenpolitische Krise in Folge der Wahlen für die Entwicklung der Demokratie auf Taiwan haben wird. An der politischen Situation hat sich mit dem Wahlausgang per se nichts verändert: Chen Shuibian regiert nach wie vor gegen eine Mehrheit der Opposition im Parlament. Dies kann sich bei den Parlamentswahlen am Ende des Jahres jedoch ändern. Das derzeitige Verhalten der Opposition könnte diesen Prozess sogar noch forcieren. International wurden die Wahlen auf Taiwan wegen des diffizilen Verhältnisses zur VR China mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Beijing betrachtet Taiwan als abtrünnige Provinz und alle Entwicklungen, die Taiwan weiter vom Festland wegführen könnten, werden mit Argusaugen verfolgt.

1.    Die Fakten: Präsidentschaftswahl und Referendum

Mehr als 16 Mio. Wahlberechtigte waren am Samstag, den 20. März 2004, aufgerufen, ihre Stimmen abzugeben. Sie sollten einen Präsidenten wählen und in einem Referendum über zwei Fragen bezüglich der Beziehungen zum chinesischen Festland entscheiden.

Rund 13 Mio. Menschen, d.h. ca. 80% der Wahlberechtigten, beteiligten sich an der Wahl des Präsidenten. Nach Auszählung der Stimmen betrug der Vorsprung Chens nur knapp 30.000 Stimmen gegenüber seinem Herausforderer Lian Zhan (auch: Lien Chan). Dieser rief seinen Anhängern noch vor Verkündung des vorläufigen Wahlergebnisses durch die Wahlkommission zu, dass er die "unfairen Wahlen" anfechten werde. Denn, so die Argumentation der unterlegenen Guomindang (GMD, Nationalpartei), im Zusammenhang mit dem Attentat auf Präsident Chen und seine Stellvertreterin am Tag vor den Wahlen seien noch viele Fragen offen. Im Verlauf der Demonstrationen vor dem Präsidentenpalast in Taibei wurde immer vernehmlicher der Vorwurf erhoben, das Attentat auf Chen Shuibian sei von diesem selbst inszeniert worden. Ein weiterer Vorwurf der Opposition bezieht sich darauf, dass mit mehr als 300.000 die Zahl der ungültigen Stimmen bei dieser Wahl überproportional hoch gewesen sei. Außerdem seien zahlreiche Sicherheitskräfte aufgrund der erhöhten Alarmbereitschaft nach dem Attentat daran gehindert worden, an der Wahl teilzunehmen.

Auf Druck der Opposition wurden in der Zwischenzeit sämtliche Wahlurnen versiegelt. Nachdem Hunderttausende Taiwaner eine Woche lang demonstriert hatten, einigten sich beide Seiten auf ein Prozedere, wie die Neuauszählung zügig durchgeführt werden kann. Zum jetzigen Zeitpunkt wird jedoch allgemein erwartet, dass auch eine Neuauszählung nichts am Wahlsieg Chen Shuibians ändern wird. Bislang konnte die Opposition auch keine konkreten Beweise für die erhobenen Vorwürfe gegen Chen Shuibian vorlegen.

Kandidat  /  Jahr 2000 2004
Chen Shuibian
(Democratic Progressive Party, DPP)
39,31 50,11%
(6.471.970 Stimmen)
Lian Zhan
(Guomindang, GMD)
23,10 49,89%
(6.442.452 Stimmen)
Song Chuyu
(People First Party, PFP)
36,84 (Vize-Präsidentschaftskandidat von Lian Zhan)
Wahlbeteiligung 80,28%
Ungültige Stimmen 122.278 337.297 (2,5%)

Konnte die Demokratische Fortschrittspartei (DPP) Chens bei den Präsidentschaftswahlen einen - wenn auch knappen - Sieg erringen, so musste sie bei der von Chen initiierten Volksabstimmung eine Niederlage hinnehmen. Bei diesem ersten Referendum in der Geschichte des Landes ging es um zwei Fragen: zum einen darum, ob Taiwan für den Fall, dass die VR China ihre 500 auf Taiwan gerichteten Raketen nicht abzieht, sein Verteidigungssystem modernisieren solle; zum anderen, ob die Regierung einen Dialog mit der VR China zur Verbesserung der Beziehungen aufnehmen solle. Die Führung in Beijing betrachtet Taiwan als abtrünnige Provinz und bietet ihr an, sich wie Hongkong der Volksrepublik unter der Formel "Ein Land, zwei Systeme" anzuschließen. Im In- und Ausland wurde Chen Shuibian der Vorwurf gemacht, dass er mit dem Referendum den Status quo in der Region gefärde. Beijing sah darin sogar den Versuch, einen ersten Schritt in Richtung Unabhängigkeit zu unternehmen. Die Opposition auf Taiwan hat nicht zuletzt aus diesem Grunde zum Boykott der Abstimmung aufgerufen.

Da sich nur 45% der Wahlberechtigten, also weniger als die Hälfte, am Referendum beteiligten, wurde die Abstimmung für ungültig erklärt. Trotz des Scheiterns hat Präsident Chen mit dem Referendum zwei wichtige Ziele erreicht: zum einen konnte er damit zusätzliche Wähler zur Teilnahme an der Präsidentschaftswahl mobilisieren; zum anderen erreichte er mit der Fokussierung auf das Thema "Beziehungen zum Festland", dass die Präsidentschaftswahlen auch international größere Aufmerksamkeit fanden.

Der Ausgang des Referendums demonstriert die tiefe Gespaltenheit Taiwans bezüglich der Beziehungen zur Volksrepublik. Auf der einen Seite gibt es ein größeres Taiwan-Bewusstsein, auf der anderen Seite gibt es eine zunehmende wirtschaftliche Abhängigkeit Taiwans vom chinesischen Festland. Taiwanische Investoren haben in den vergangenen Jahren rund 100 Mrd. US$ in China investiert. Die Zahl der in China lebenden Taiwaner wird auf bis zu 1 Mio. geschätzt. Sie sind in der Mehrzahl für die Beibehaltung des Status quo und lehnen die Politik Chen Shuibians ab. Da es nach taiwanischem Recht keine Möglichkeit der Briefwahl gibt, sind um die 100.000 Taiwaner vom Festland zum Wahltag zurück nach Taiwan geflogen. Der Großteil von ihnen, man spricht von 70%, soll für Lian Zhan gestimmt haben.

2.    Analyse: Die Folgen des Wahlausgangs

Neun Tage lang haben Anhänger der unterlegenen Oppositionsparteien vor dem Präsidentenpalast ausgeharrt, um gegen den Wahlausgang zu protestieren. Die zum Teil tumultartigen Szenen, die sich spiegelbildlich auch zwischen Parlamentariern abspielten, haben zeitweise Befürchtungen geweckt, dass Taiwan in eine tiefe innenpolitische Krise abrutschen könnte.

2.1    Die innenpolitische Krise: Weniger ein Problem der politischen Kultur Taiwans, als das Problem einzelner Spitzenpolitiker

Die Wählerschaft auf Taiwan spaltet sich derzeit in zwei große Lager: das "Grüne Lager" der Anhänger der Democratic Progressive Party (DPP) von Chen Shuibian sowie das "Blaue Lager" von Guomindang (GMD) und People First Party (PFP). Es war allerdings nicht der sehr knappe Sieg von Chen Shuibian, der die innenpolitische Krise ausgelöst hat, sondern die Unfähigkeit der beiden unterlegenen Kandidaten der Opposition, diese Niederlage anzuerkennen. Es ist kaum anzunehmen, dass es zu den Protesten auf der Insel gekommen wäre, wenn der unterlegene Präsidentschaftskandidat Lian Zhan die Wahlen nicht als unfair bezeichnet und seine Anhänger kurz nach Schließung der Wahllokale zu Protestaktionen aufgerufen hätte. Vor vier Jahren ging Chen Shuibian sogar mit nur knapp 40% der Stimmen als Sieger aus den Wahlen hervor, ohne dass es zu vergleichbaren Protestaktionen kam. Damals allerdings war das "Blaue Lager" gespalten. Auf James Song, der mit einer von der GMD abgespaltenen eigenen Partei antrat, entfielen knapp 37% der Stimmen, auf Lian Zhan, den Kandidaten der GMD, sogar nur 23%. Obwohl das "Blaue Lager" zusammengenommen also eine deutliche Mehrheit hatte, wurde der Sieg Chen Shuibians nicht in Zweifel gezogen. Damals bewiesen alle Seiten ein hohes Maß an demokratischer politischer Kultur, indem sie trotz des Minderheitenvotums die demokratischen Spielregeln der Verfassung anerkannten.

Die Reaktion in diesem Jahr hat mehrere Ursachen. An erster Stelle steht sicherlich die Verbitterung der beiden Spitzenkandidaten des "Blauen Lagers", Lian Zhan und James Song. Für den 67-jährigen Lian wird die Wahlniederlage das Ende seiner politischen Kariere bedeuten. Und auch der etwas jüngere James Song muss nach dieser erneuten Niederlage seine Hoffnungen auf das Präsidentenamt begraben. Im Gegensatz zum Jahr 2000 bedeutet das Eingeständnis, die diesjährigen Wahlen verloren zu haben, somit einen fundamentalen Einschnitt für beide Politiker. Insbesondere die Reaktion von Lian Zhan vermittelt den Eindruck, dass er die Niederlage und das Ende seiner politischen Karriere einfach nicht akzeptieren will.

Eine weitere wichtige Rolle spielt hierbei das Attentat auf Chen Shuibian am Tag vor den Wahlen. In der Tat sind hier noch eine ganze Reihe von Fragen ungeklärt - so konnten keine Verdächtigen festgenommen werden, Chen und die ebenfalls verletzte Vize-Präsidenten Annette Lu wurden nicht in das nächstliegende Krankenhaus gebracht, Chen selbst schien von der Bauchwunde nicht übermäßig mitgenommen zu sein. Es gibt jedoch bislang keine konkreten Anhaltspunkte für den Vorwurf der Opposition, dass das "Grüne Lager" das Attentat inszeniert haben könnte. Zum jetzigen Zeitpunkt erweckt das "Blaue Lager" eher den Eindruck eines schlechten Verlierers, zumal sich alle Beteiligten noch am Vorabend der Wahlen darauf verständigt hatten, diese trotz des Mordanschlags planmäßig abzuhalten.

Es bleibt bei dem überaus knappen Wahlergebnis natürlich der fade Beigeschmack, dass Chen Shuibian die Wahl aufgrund von Sympathievoten als Folge des Attentats gewonnen hat. Dies kann man auf Seiten der Opposition sicherlich bedauern, aber es ist kein hinreichender Grund, die Wahlen per 'Straßenvotum' in Gänze anzufechten. Es ist mittlerweile schon entschieden, dass es eine gerichtliche Prüfung der Umstände des Attentats geben wird. Für den Fall, dass sich dabei herausstellt, dass es sich doch um ein fingiertes Attentat gehandelt haben sollte, müsste Chen Shuibian ohnehin zurücktreten. Aber für Lian Zhan war das Warten auf eine solche spätere Klärung der Umstände des Attentats keine Option. Für ihn gab es nur die Alternative, sofort nach der Wahlniederlage den GMD-Vorsitz niederzulegen und damit seine politische Karriere zu beenden (was nach der Niederlage allgemein erwartet worden war), oder aber die Wahlen unmittelbar anzufechten. Lian Zhan und die Führungsspitze seiner Partei haben sich für letztere Option entschieden - und die damit verbundenen innenpolitischen Risiken bewusst in Kauf genommen.

2.2    Innenpolitische Auswirkungen: Wachsender Druck auf das "Blaue Lager" und erhöhte Siegchancen für die DPP bei den Parlamentswahlen im Dezember

Mit dem Ausgang der Präsidentschaftswahl hat sich an der innenpolitischen Konstellation in Taiwan nichts geändert. Chen Shuibian muss auch weiterhin gegen eine Mehrheit der Opposition im Parlament regieren. Das politische System Taiwans ähnelt demjenigen Frankreichs. Auch hier hat man den direkt vom Volk gewählten Präsidenten mit großer Machtbefugnis ausgestattet, wobei er auf die Unterstützung durch das Parlament angewiesen ist. Zwar wurde die DPP bei den Wahlen vor vier Jahren stärkste Fraktion, jedoch hat das "Blaue Lager" mit GMD und PFP dort nach wie vor eine Mehrheit. Präsident Chen agiert also in einer taiwanischen Form der "Co-habitation".

Die Frustration der GMD- und PFP-Anhänger nach der verlorenen Präsidentschaftswahl erklärt sich neben der knappen Niederlage auch daraus, dass beide Parteien vor einer ungewissen Zukunft stehen. Das "Blaue Lager" war mit seinen alten Führungspersönlichkeiten in den Wahlkampf gezogen. Sowohl Lian als auch Song stehen nach der Niederlage am Ende ihrer politischen Karriere. Diese Situation kann sich besonders im Falle der PFP sehr nachteilhaft für das gesamte Lager auswirken. Die PFP wurde von James Song im Jahr 2000 als eine Abspaltung von der GMD gegründet. Hintergrund dieser Parteineugründung war zum einen die Unzufriedenheit vieler GMD-Mitglieder mit der Festland-Politik der eigenen Partei. Zum anderen sollte damit James Song die Möglichkeit gegeben werden, für das Amt des Präsidenten zu kandidieren, da er sich in den Führungsgremien der GMD nicht gegen Lian Zhan hatte durchsetzen können. Die Spaltung des rechten Lagers ermöglichte Chen damals den Sieg. Nachdem das "Blaue Lager" selbst mit vereinten Kräften 2004 die Wiederwahl Chen Shuibians nicht verhindern konnte, stehen die Chancen für eine abermalige Kandidatur Songs für das Präsidentenamt sehr schlecht. Da es in der PFP aber keinen adäquaten Nachfolger für Song gibt, droht der Partei nach dessen Ausscheiden aus der Politik ein Abgleiten in die Unbedeutsamkeit. Ob die PFP-Wähler in einem solchen Falle erneut die GMD unterstützen werden, ist jedoch ungewiss. Eine der Ursachen für die Abspaltung von der GMD war die Unzufriedenheit der Song-Anhänger mit der Chinapolitik der GMD. In den letzten Jahren hat sich die GMD jedoch eher noch weiter von der traditionellen Haltung gegenüber dem Festland entfernt.

Auch für viele GMD-Anhänger ist nicht mehr klar ersichtlich, für welche Politik Ihre Partei eigentlich steht. Der Präsidentschaftswahlkampf konzentrierte sich vor allem darauf, Chen Shuibian und die mit ihm assoziierte Politik zu verhindern. Inhaltlich ist jedoch unklar, welchen Standpunkt die GMD z.B. in der Frage der Beziehungen zum Festland vertritt. Die GMD ist sich bewusst, dass es ein immer stärkeres Taiwan-Bewusstsein unter den Bewohnern der Insel gibt. Um diesem gerecht zu werden, hat die Partei im Laufe des Wahlkampfs sogar frühere Positionen weiter aufgeweicht. So gibt es in der GMD mittlerweile Einigkeit darüber, dass langfristig auch die Unabhängigkeit Taiwans eine Option ist. Kurz vor Ende des Wahlkampfs hatte Lian Zhan ausgeschlossen, dass Taiwan sich mit dem "kommunistischen China" vereinigen könnte.

Die GMD steht nun endgültig vor dem lange überfälligen Generationswechsel an der Spitze. Zu den aussichtsreichsten Kandidaten gehört neben anderen der Bürgermeister von Taibei, Ma Yingjiu. Wer immer auch die Nachfolge von Lian Zhan antritt, muss nicht nur personell überzeugen, sondern auch eine programmatische Runderneuerung der GMD in Angriff nehmen. Vor den Parlamentswahlen im Dezember ist diese Aufgabe kaum zu bewältigen.

Vor diesem Hintergrund steht dem "Blauen Lager" von GMD und PFP ein schwieriges Jahr bevor. Die Präsidentschaftswahlen haben bereits gezeigt, dass das vereinigte Oppositionslager gegenüber den Wahlen vom März 2000 mehr als 10 Prozentpunkte verloren hat. Sollte sich dieser Trend fortsetzen, könnte das "Blaue Lager" auch bei den Parlamentswahlen im Dezember die derzeitige Mehrheit einbüssen. Erst damit - und nicht mit der nun erfolgten Bestätigung von Chen Shuibian im Amt des Präsidenten - würde sich die politische Landschaft Taiwans grundsätzlich verändern. Dass diese Option besteht, wird auch in Beijing so gesehen und befürchtet.

2.3    Die Nachbarn: Besorgnis in Beijing und Hongkong

Bei allen grundlegenden Differenzen zwischen der KP China und ihrem früheren Gegenspieler im chinesischen Bürgerkrieg, der GMD, waren sich beide Seiten jedoch sehr lange darin einig, dass es nur ein China gibt und Taiwan dessen integraler Bestandteil sei. Auch wenn sich die Position der GMD in den letzten Jahren veränderte, hat die Führung der Volksrepublik keinen Zweifel daran gelassen, dass sie einen Sieg des GMD-Präsidentschaftskandidaten vorziehen würde. In Lian Zhan hoffte man, einen kooperativeren Verhandlungspartner in Taibei zu haben als mit Chen Shuibian, dessen DFP sich zu offen für die Unabhängigkeit der Insel vom chinesischen Festland ausspricht. Dabei hat sich Beijing in diesem Jahr jedoch größte Zurückhaltung auferlegt. Hatte man bei den beiden vorangegangenen Präsidentschaftswahlen 1996 und 2000 jeweils erfolglos versucht, Druck auf die Bevölkerung Taiwans auszuüben, um den favorisierten Kandidaten zu unterstützten, verzichtete man nun auf solche direkten Drohungen. Sie hatten sich zuvor ohnehin als kontraproduktiv erwiesen. Die Ankündigung Chen Shuibians, gleichzeitig mit der Präsidentschaftswahl ein Referendum über die Beziehungen zum Festland abzuhalten, veranlasste Beijing jedoch, über internationale Kanäle den Druck auf Taiwan zu verstärken. So sprach sich US-Präsident George Bush beim Besuch des chinesischen Ministerpräsidenten Wen Jiabao in Washington am 9. Dez. 2003 dafür aus, dass Taiwan alle Aktionen unterlassen solle, die den Status quo gefährden könnten. Gleichfalls kritisierten die Regierungen von Frankreich und Deutschland die Pläne für das Referendum.

Mit Genugtuung hat Beijing das Scheitern des Referendums kommentiert. Es habe sich gezeigt, dass Taiwans Bevölkerung sich nicht 'vom Mutterland abspalten lasse'. Der Sieg Chen Shuibians bei den Wahlen wurde mit vier Tagen Verzögerung in der chinesischen Presse gemeldet, wobei der Schwerpunkt der Berichterstattung auf die 'chaotischen Zuständen nach der Wahl' gelegt wurde. Wenige Tage darauf, am 26. März, sagte ein Sprecher des Taiwan-Büros unter dem Staatsrat, dass die Volksrepublik nicht tatenlos zuschauen werde, sollte die Situation auf Taiwan außer Kontrolle geraten.

Es ist zu vermuten, dass Beijing sich vor allem aus zwei Gründen veranlasst sah, diese offene Warnung auszusprechen. Zum einen wollte man national und international noch einmal unterstreichen, dass man der Auffassung ist, dass Taiwan zur Volksrepublik gehört und dass man sich für die Entwicklungen auf der Insel verantwortlich fühlt. Zum anderen trieb Beijing die Sorge, dass das Verhalten der Opposition kontraproduktiv sein könnte. Der Druck aus Beijing sollte Lian Zhan und das gesamte "Blaue Lager" dazu bewegen, die Proteste nicht zu überspannen, um ihre Chancen bei den Parlamentswahlen im Dezember nicht zusätzlich zu gefährden. Denn auch für Beijing ist klar, dass ein weiterer Sieg Chen Shuibians und der DPP im Dezember den Umgang mit Taiwan noch sehr viel schwieriger machen würde. Chen hat bereits angekündigt, Taiwan eine neue Verfassung geben zu wollen. Auch wenn er dies bislang offiziell nicht als Schritt zur Unabhängigkeit Taiwans bezeichnet, wird dies nicht nur von Beijing so bewertet. Nach derzeitigen Informationen plant Chen, der Bevölkerung Taiwans dieses Projekt bis 2006 vorzulegen. Damit würden diese Entscheidungen deutlich vor dem 17. Parteitag der KP China im Jahr 2007 und den Olympischen Spielen in Beijing ein Jahr später stattfinden. Ein Sieg der DPP bei den Parlamentswahlen im Dezember würde es Chen sehr erleichtern, diese Pläne in die Tat umzusetzen. Die Führung der Volksrepublik wird ihrerseits alles daran setzen, einer solchen Entwicklung entgegenzuwirken. Und Ansatzpunkte hierfür, die auch von Chen Shuibian nicht außer Acht gelassen werden können, gibt es genügend - insbesondere in wirtschaftlicher und sicherheitspolitischer Hinsicht. So führte die zunehmende wirtschaftliche Verflechtung mit dem Festland dazu, dass die Wirtschaftsführer Taiwans immer stärkeren Druck auf die politische Führung ausüben, die Beziehungen zum Festland nicht zu verschlechtern. Von den USA und anderen westlichen Staaten wird Taiwans Führung ebenfalls aufgerufen, den Status quo in der Region nicht durch einseitige Maßnahmen zu gefährden.

Es wurde bereits erwähnt, dass nach Auffassung Beijings die Wiedervereinigung Taiwans mit dem Festland dem Vorbild Hongkongs nach dem Modell "Ein Land, zwei Systeme" folgen soll. Insofern beobachten die Taiwaner sehr aufmerksam, wie sich das Verhältnis zwischen Beijing und Hongkong seit der Übergabe 1997 entwickelt. Umgekehrt haben die Hongkonger den Wahlkampf und die Entwicklungen in der Folge des Wahlsiegs von Chen Shuibian aufmerksam verfolgt. Die Bilder von den Protesten nach der Wahl haben in der Sonderverwaltungsregion (SVR) die Sorge aufkommen lassen, dass Beijing die nach dem Basic Law für 2007 mögliche Einführung von Direktwahlen für den Chief Executive (Regierungschef) verschieben könnte. Eine entsprechende Entscheidung soll noch im April d.J. fallen. Kurz nach den Wahlen in Taiwan hat Beijing bekannt gegeben, dass die Interpretationshoheit für die Auslegung des Basic Law und der darin enthaltenen interpretationsfähigen Bestimmungen beim Ständigen Ausschuss des Nationalen Volkskongress in Beijing liege - eine Entscheidung, die von Abgeordneten der Demokratischen Partei in Hongkong heftig kritisiert wurde.

2.4    Die USA: Unterstützung für den demokratischen Prozess, aber Favorisierung des Status quo

Die USA sind über den sog. Taiwan Relations Act von 1979 gesetzlich verpflichtet, Taiwan im Falle eines Angriffes durch die VR China beizustehen. Noch kurz nach seinem Amtsantritt hat US Präsident Bush (jr.) unterstrichen, dass die USA alles unternehmen würden, um die Sicherheit Taiwans zu gewährleisten. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 und der Verbesserung der Beziehungen zu Beijing, betont die Bush-Administration mittlerweile ebenso wie ihre Vorgänger die Notwendigkeit, den Status quo in der Taiwan-Straße aufrecht zu erhalten. Dies ist auch der Grund, warum Präsident Bush im Dezember letzten Jahres die taiwanische Führung zur Zurückhaltung in der Frage des Referendums aufgerufen hat.

Die Taiwanfrage ist seit jeher eine Belastung für die Beziehungen Washingtons zur VR China. Die USA sind der wichtigste Rüstungslieferant Taiwans und es ist nicht zuletzt der Schutz der USA, der die Existenz der Republik China auf Taiwan sicherstellt. Für den Fall, dass sich in den nächsten Monaten oder Jahren eine Krise zwischen Beijing und Taibei anbahnt, wären die USA gezwungen Partei zu ergreifen. Nur für den Fall, dass Taibei die Krise durch einseitige Maßnahmen selbst heraufbeschwört, besteht die Option, dass sich die USA neutral zurückhalten könnten. Wahrscheinlicher aber ist, dass sich im Falle einer Krise kein US-Präsident den Verpflichtungen gegenüber Taiwan und der dortigen jungen Demokratie entziehen wird - mit allen negativen Auswirkungen für die sino-amerikanischen Beziehungen und die Stabilität in der asiatisch-pazifischen Region.

3.    Fazit

Zum dritten Mal hintereinander hat sich bei den Präsidentschaftswahlen auf Taiwan der Kandidat durchgesetzt, den Beijing verhindern wollte. Dieses Mal birgt der abermalige Sieg des ungewünschten Kandidaten besondere Risiken. Die beiden großen Oppositionsparteien auf Taiwan stehen vor einem Generationswechsel an der Spitze, und es ist nicht abzusehen, ob und wie schnell dieser gelingen kann. Chen Shuibian und die DPP haben bereits angekündigt, dass sie noch vor dem nächsten Parteitag der KP China 2007 und vor den Olympischen Spielen in Beijing den Entwurf für eine neue Verfassung vorstellen wollen. Sollte die DPP auch aus den anstehenden Parlamentswahlen im Dezember als Sieger hervorgehen, würde dies die Situation für Beijing sehr komplizieren: Einerseits würde es Chen leichter fallen, seine in Richtung Unabhängigkeit zielende Politik weiter fortzuführen. Andererseits hätte Beijing nur noch die Option, mit dem ungeliebten Chen Shuibian und der DPP eine politische Lösung der Taiwanfrage zu erzielen.

Sollte es bei den Parlamentswahlen im Dezember zu einem weiteren Sieg der DPP und zwischen Beijing und dem "Grünen Lager" nicht zu einer politischen Annäherung kommen, hätte dies durchaus das Potential, die Stabilität in der Region zu gefährden. Denn Beijing hat stets seine Entschlossenheit betont, im Falle einer Unabhängigkeitserklärung von Taiwan auch militärische Gewalt einzusetzen. Ob die Volksrepublik sich in dieser Frage von wirtschaftlichen (Auslandsinvestitionen) oder Prestige-Fragen (Olympia 2008) beirren lässt, darf mehr als bezweifelt werden. Auch die Reaktion der USA und anderer westlicher Staaten dürfte für Beijing von nachgeordneter Bedeutung sein.

Der Ausgang der Präsidentschaftswahlen hat an der seit vier Jahren bestehenden Situation im Verhältnis von Taiwan und dem Festland nichts verändert. Und so wird es in den kommenden Monaten voraussichtlich auch keine Initiativen von Seiten Beijings geben, die seit 1999 unterbrochenen Gespräche zwischen beiden Seiten wieder aufzunehmen. Die weitere Entwicklung wird von der Neuzusammensetzung des Parlaments bestimmt werden. Und hier sind im Dezember erneut die taiwanischen Wähler gefragt. Insofern wird auch für Beijing nach dem 20. März 2004 die Devise lauten: Nach der Wahl ist vor der Wahl.

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Sankt Augustin Deutschland