Varade publitseerija

Riikide raportid

Umstrittene Armut

kohta Dr. Helmut Reifeld

Das Beispiel Indien

Alle Auseinandersetzungen über die Armutsbekämpfung kreisen immer wieder um zwei wunde Punkte: zum einen um die Erhebung der Daten, zum anderen um die darauf gestützten Prognosen. Speziell für Indien liegen jetzt vier neue Studien vor, in denen die bisherigen Berechnungs- und Erfassungsmethoden von Armut analysiert und kritisiert werden.

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Das Jahr 2000 wurde weltweit zum Anlaß genommen, im Bereich der Armutsbekämpfung Bilanz zu ziehen. Die Weltbank hat zusammen mit dem IMF und der OECD einen globalen Armutsbericht: "A Better World for All" vorgelegt, und die UNDP über ihren jährlichen "Human Development Report" hinaus speziell einen "Poverty 2000 report"erstellt.

Darüber hinaus wurde Ende Juli auf dem G8-Gipfel in Okinawa ein "Global Poverty Report" präsentiert, der vieles aus den beiden zuvor genannten Berichten noch einmal aufnimmt und daraus relativ optimistische Schlußfolgerungen zieht. Dies gilt vor allem für die Kernthese, daß eine erfolgreiche Armutsbekämpfung in den Entwicklungsländern möglich sei, insofern die richtigen Rahmenbedingungen ("right conditions") für Wachstum und soziale Entwicklung geschaffen würden.

Allerdings sind die sozialen Problembereiche, die in diesen globalen Überblicksdarstellungen abgedeckt werden, außerordentlich breit und vielfältig. Zudem basieren die benutzten Daten häufig auf Schätzungen, und selbst die verbindlicheren Erhebungen, die für einige Länder vorliegen, sind oft noch umstritten.

Für Südasien zum Beispiel prognostiziert der "Global Poverty Report", daß bei jährlichen Wachstumsraten zwischen einem und fünf Prozent die Zahl der Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, bis zum Jahr 2008 halbiert werden könne. Dieser Prognose hat kurz darauf die "Food and Agriculture Organisation" (FAO) der Vereinten Nationen widersprochen und unter dem Titel "Towards 2015/2030" ein sehr viel pessimistischeres Bild gezeichnet. Vor diesem Hintergrund soll auf vier neue Studien hingewiesen werden, die speziell für Indien die bisherigen Berechnungs- Erfassungsmethoden der Armut analysieren und kritisieren (vgl. auch: India Today, 31. Juli 2000).

Neue Analysen für Indien

Die erste dieser neuen Analysen stammt von Prof. Pravin Visaria, dem Direktor des Institute of Economic Growth in Delhi. Visaria hebt darauf ab, daß in der Vergangenheit in Indien bei den Erhebungen zur Berechnung des Lebensmittelverbrauchs die Daten erst 30, Tage nachdem sie angefragt worden sind, wieder eingesammelt wurden. In den meisten anderen Ländern beträgt diese Zeitspanne bei vergleichbaren Erhebungen nur sieben Tage. Visaria weist nach, daß die Auswirkungen auf den "National Sample Survey" (NSS), dessen publizierte Daten in Indien als "offiziell" gelten, erheblich sind: Bei einem Erhebungszeitraum von 30 Tagen ergibt sich eine Armutsquote von 42.6%, verkürzt man diesen Zeitraum jedoch auf sieben Tage sind es "nur" noch 23.6%.

Die zweite Studie stammt von Deepak Lal, Rakesh Mohan und I. Natarajan; es ist eine Koproduktion der University of California und des National Council for Applied Economic Research (NCAER) in Delhi. Das NCAER hat das Marktverhalten von insgesamt 300.000 unterschiedlichen indischen Haushalten untersucht und sich dabei auf das Eigentum an Gebrauchsgütern konzentriert. Vom Volumen der erfassten Daten her handelte es sich hierbei um das vielfache dessen, was dem NSS zugrunde liegt, aber das Erkenntnisinteresse richtet sich ebenfalls auf die Berechnung der Armutsquote.

Der offizielle Anteil der Bevölkerung, der unterhalb der Armutsgrenze lebt, wird für 1987/88 mit 38.85% angegeben. Die Autoren gehen von der entsprechenden Einkommensgrenze aus, auf der vor 12 Jahren diese Berechnung basierte, und beziffern demnach den entsprechenden Bevölkerungsanteil im Hinblick auf das Eigentum an Gebrauchsgütern für 1997/98 auf 26.2%. Diese Zahl steht in deutlichem Kontrast zur offiziellen Quote von 37.6% und belegt, daß für den NSS die Daten außerhalb des Nahrungsmittelbereichs erheblich unterbewertet worden sind.

Die dritte Studie stammt von Surjit Bhalla, einem unabhängigen Wirtschaftswissenschaftler, der in Indien als einer der wenigen bekannt ist, die bisher dem weltbekannten indischen Nobelpreisträger für Ökonomie, Amartya Sen, Irrtümer nachgewiesen haben. Bhalla kritisiert ebenfalls die Erhebungs- und Berechnungsmethoden des NSS, indem er nachweist, daß bestimmte Fragestellungen und Analyseergebnisse voreilig und unberechtigt von den ärmeren indischen Bundesstaaten auf die reicheren übertragen worden sind. Damit können viele der vom NSS für die neunziger Jahre genannten gesamtindischen Armutszahlen als zu hoch angesetzt gelten.

Die vierte Untersuchung haben zwei Professoren der Delhi School of Economics, K. Sundaram und Suresh Tendulkar im Auftrag der Asian Development Bank verfasst. Ihre Hauptkritikpunkte sind zum einen die zu schmale Datenbasis, auf die sich der NSS stützt, und zum anderen die ungenügend berücksichtigten Unterschiede zwischen den urbanen Bereichen, denen im NSS ein großes Gewicht zukommt, und dem ländlichen Indien, das immerhin 70% des Landes ausmacht.

Sie zeigen auf, daß die in den neunziger Jahren stark gestiegenen Getreidepreise sehr viel gravierendere Auswirkungen auf dem Lande hatten als in den Städten. Gleichzeitig weisen sie nach, daß die offiziell gesunkenen Armutszahlen in den achtziger Jahren mehr auf landwirtschaftliches Wachstum zurückzuführen sind als auf erfolgreiche Armutsbekämpfungsprogramme.

Revision der bisherigen Bewertung

Während die ersten drei der oben genannten Studien vor allem zu einer Überprüfung und Ausweitung der bisherigen Berechnungsmethoden auffordern, könnte insbesondere die zuletzt genannte Studie erheblich zu einer differenzierteren Bewertung des Armutsproblems in Indien beitragen. Ihre Autoren weisen eindringlich darauf hin, daß die Armut im ländlichen Indien in den neunziger Jahren kaum zurückgegangen ist. Außerdem haben Sie begründete Zweifel daran, daß die im derzeit geltenden Fünfjahresplan (1997-2002) der indischen Regierung angekündigte Reduktion erreichbar ist.

Indien hat eine lange, sozialistische Tradition von Fünfjahresplänen und die meisten Mittel fließen in die Planung und deren Verwaltung selber. Diese Pläne sind aus der Sicht von Sundaram und Tendulkar noch immer von einem "egalitarian instinct" geleitet, der in Zukunft besser unter Kontrolle gehalten werden müsse.

Die Autoren lassen keinen Zweifel daran, daß erstens die Auswirkungen ("impact") sämtlicher Armutsbekämpfungsprogramme für Indien in den neunziger Jahren minimal waren, obwohl diese um fast 70% gestiegen sind. Zweitens räumen sie ein, daß zwar durch das allgemeine Wirtschaftswachstum in Indien von derzeit jährlich etwa 6.5% auch positive Effekte auf die Armutsbekämpfung erwartet werden könnten, aber dafür müßten folgende drei Bedingungen verbessert werden (vgl. auch: Business Standard, 22. Juli 2000):

1. Die Lebensmittelpreise, die in der Vergangenheit von seiten der Regierung festgelegt und subventioniert wurden, sind auf dem Lande (anders als in den Städten) außer Kontrolle geraten. Hierfür machen die Autoren direkt die Politik verantwortlich, die die Preisbindungen für Grundnahrungsmittel nicht mehr durchsetzen kann.

2. Das Erziehungssystem weist nach wie vor unverantwortliche Defizite auf, und die Analphabetenrate liegt im Durchschnitt noch immer bei fast 40%. Aus dem Bevölkerungsteil von rund 400 Millionen Menschen, der unterhalb der Armutsgrenze lebt, verfügen nur 8% der Männer und 2% der Frauen über mehr als eine Elementarschulausbildung.

3. Der Status der Frauen in Indien müsse umfassend verbessert werden. Dies bedeutet, daß mehr Regelungen gefunden und umgesetzt werden müssen, die eine Eigen- und Mitverantwortung von Frauen in sehr viel mehr Bereichen als bisher sicherstellen.

Indien im Kontext der Globalisierung

Es ist weltweit zu beobachten, daß ökonomische Wachstumsraten weder direkt noch zwangsläufig zur Armutsminderung beitragen. Es kann sehr wohl Wachstum ohne Armutsminderung geben, aber wohl kaum Armutsminderung ohne Wachstum. Für diese skeptische Einschätzung bietet vor allem Indien sehr viel Anschauungsmaterial, da sich hier die Kluft zwischen beiden Bereichen weiter zu vertiefen scheint.

Inzwischen liegen viele gesicherte Daten vor, die belegen, daß die Angaben über eine vermeintliche Verringerung der Armut in den vergangenen zwei Jahrzehnten im wesentlichen darauf basieren, daß die älteren Erhebungen das Armutsproblem überschätzt haben (Economic and Political Weekly, 17. Juni 2000, S. 2129-2140). Demgegenüber liegt die größte Gefahr heute allerdings in der Unterschätzung des Armutsproblems.

Es kann inzwischen als hinreichend belegt gelten, daß parallel zu der wirtschaftspolitischen Öffnung Indiens in den neunziger Jahren die Armutsprobleme zugenommen haben. Ebenso eklatant ist, daß die Kluft zwischen dem urbanen und dem ländlichen Indien sich weiter vertieft. Das industrielle Wachstum ging einher mit der Vernachlässigung der ländlichen Entwicklung und es ging deshalb völlig vorbei an der ebenfalls wachsenden, aber eben auch weiter verarmenden ländlichen Bevölkerung (The Financial Express, 8. August 2000). Seit neuestem wird sogar wieder von einem Phanomen berichtet, das in den achtziger Jahren in Indien als überwunden galt: dem Tod durch Hunger.

Die Nebenfolgen der Globalisierung gehören in Indien zu den besonders kontrovers diskutierten sozialpolitischen Themen. Dabei stehen sich im Extremfall die beiden Seiten, die entweder für Globalisierung, Liberalisierung und Privatisierung argumentieren oder für Bescheidenheit, soziales Engagement und "Gandhian values" scheinbar unversöhnlich und mit gegenseitigem Unverständnis gegenüber. Unter diesen Umständen ist es schwierig, die tatsächlichen Zusammenhänge zwischen wirtschaftlichem Wachstum und Armutsbekämpfung realistisch zu beurteilen. Deshalb ist es notwendig, stärker als bisher zwischen diesen beiden Seiten zu vermitteln.

Die internationale Gemeinschaft vertraut in ihren Versuchen, neue Lösungen für die Probleme der Armutsbekämpfung zu finden, immer stärker auf den intermediären Bereich der indischen Gesellschaft, auf Nichtregierungsorganisationen (NRO) und Selbsthilfegruppen (SHG). Zweifellos ist deren Rolle in Indien nicht weniger ambivalent als andernorts, aber in ihnen konzentriert sich das größte Entwicklungspotential. Deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn ständig neue Initiativen ergriffen werden: Die Weltbank hat soeben umgerechnet über 300 Millionen DM für ein Projekt zur Verfügung gestellt, das direkt NROen und SHGen in Rajasthan für Maßnahmen im Bereich der Armutsbekämpfung zugute kommt und ein hohes Maß an öffentlicher Mitverantwortung der Betroffenen sicherstellt. Für ein ähnliches Projekt mit Schwerpunkt in Madhya Pradesh hat nunmehr die britische Regierung fast 400 Millionen DM bereitgestellt.

Es ist berechtigt, wenn der "Global Poverty Report" auf den "right conditions" als Voraussetzung für Armutsbekämpfung insistiert. Auch deutsche Förderprogramme achten zunehmend auf "gute Regierungsführung" als notwendige Bedingung für Bewilligungen. Doch sollte diese Vorsicht nicht allein als Rechtfertigung für weitere Kürzungen benutzt werden.

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