Es sei zu erwarten, so führte Skouris vor mehr als 150 Persönlichkeiten aus Politik, Justiz, Rechtswissenschaft, Verwaltung und Anwaltschaft aus, dass der EuGH zur Aufklärung verschiedener Fragen angerufen werde, die sich aufgrund der Verrechtlichung von Wirtschafts- und Finanzfragen im Fiskalpakt stellten. Dabei sei der Gerichtshof mit widersprüchlichen Erwartungen konfrontiert. Einerseits seien „Stimmen unüberhörbar, die vor einer weiteren Zentralisierung des Rechts durch unsere Rechtsprechung warnen und uns auffordern, Zurückhaltung zu üben“. Andere wiederum seien überzeugt, dass der EuGH gerade in Zeiten der Krise besondere Verantwortung trage und, wie bereits in der Vergangenheit, durch eine konsequente Praxis zur Milderung der Misere beitragen und den Rechtsraum Europa vor weiteren Schäden bewahren möge. Aufforderungen, der Gerichtshof möge in der aktuellen Krise „besonders aktiv“ werden, wies Skouris jedoch als verfehlt zurück. Der Gerichtshof habe sich nicht aus eigener Initiative die Kontrollmöglichkeiten ausgesucht, die ihm durch den Fiskalpakt zugewiesen seien; ebenso wenig stehe es dem Gerichtshof zu, von sich aus die Initiative zu ergreifen und Fälle an sich zu ziehen.
Auch in der laufenden rechtspolitischen Debatte mahnte der EuGH-Präsident zur richterlichen Zurückhaltung: „Was uns – jedenfalls nach meinem Dafürhalten – nicht gebührt, ist, in die laufende Diskussion aktiv einzugreifen und Warnungen auszusprechen oder unüberwindliche Grenzen für das Rechtshandeln der politischen Institutionen aufzubauen.“ Richter seien „keine Kommentatoren der sich anbahnenden Rechtsentwicklungen“.
Skouris warnte generell davor, die Rolle des Rechts für die Bewältigung der europäischen Finanz- und Schuldenkrise zu überschätzen. Das Recht vermöge „lediglich die passenden Mittel zur Lösung bereitzustellen, kann aber nicht die Lösung selbst liefern“. Dem Recht „nicht die Rolle des Protagonisten zu geben“, bedeute jedoch keine Flucht aus der Verantwortung oder eine Degradierung des Rechts. Denn mit jeder Aufwertung des Rechts wachse die Versuchung, „die Legalitätskontrolle über die eingesetzten Rechtsinstrumente zu einer Geeignetheitskontrolle der politischen Optionen umzugestalten“, gab der EuGH-Präsident zu bedenken. Für die Krisenbewältigung sei in erster Linie die Politik zuständig: „Was dringend benötigt wird, sind mutige politische Entscheidungen und Initiativen“, hob der Präsident des Gerichtshofs hervor.
Der Vorsitzende der Konrad-Adenauer-Stiftung und ehemalige Präsident des Europäischen Parlaments, Dr. Hans-Gert Pöttering, setzte sich in seiner Einführung kritisch mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum europäischen Integrationsprozess und zur Rolle der EU-Institutionen, insbesondere der des Europäischen Parlaments auseinander. Pöttering verwies auf das Grundgesetz als „hervorragendes Fundament“ für den weiteren europäischen Ausbau. Bedauerlicherweise sei die Fortsetzung des europäischen Integrationsprozesses jedoch zur Existenzfrage für das Grundgesetz erklärt worden, stellte der Stiftungsvorsitzende fest. Die sogenannte Ewigkeitsklausel im Grundgesetz sei kein Argument gegen, sondern für Europa, betonte Pöttering: „Sie dient dem Schutz fundamentaler deutscher und zugleich europäischer Werte. Mit ihr ist ein Bollwerk gegen Diktatur und Willkürherrschaft geschaffen worden, keine Abwehrmauer gegen die europäische Integration.“
Der KAS-Vorsitzende äußerte zudem sein Bedauern darüber, dass das Bundesverfassungsgericht dem Europäischen Parlament die umfassende Legitimität abspreche. Dies sei zuletzt beim Richterspruch zur Fünf-Prozent-Klausel bei der Wahl zum Europäischen deutlich geworden; das Gericht hatte die Fünf-Prozent-Klausel für verfassungswidrig erklärt. Damit habe das Verfassungsgericht eine Schwächung des Europäischen Parlaments in Kauf genommen, stellte der KAS-Vorsitzende fest. „Man wird dem föderativen System der EU nicht gerecht, wenn man das europäische Parlamentssystem ausschließlich mit dem deutschen parlamentarischen System vergleicht“, argumentierte er. Wünschenswert wäre eine konstruktivere Begleitung der europäischen Integration durch das Bundesverfassungsgericht, sagte Pöttering unter ausdrücklicher Würdigung der Verdienste, die sich das Bundesverfassungsgericht als Förderer und Wächter der Demokratie in Deutschland erworben habe.
Die Debatte über die Zukunft des europäischen Einigungsprozesses eröffnete der Staatsminister im Auswärtigen Amt Michael Link mit einer Kommentierung der in der Nacht zuvor getroffenen Brüsseler Gipfelbeschlüsse und der bevorstehenden Abstimmung zum Fiskalpakt und zum Rettungsschirm ESM im Bundestag. Die Politik sei „nicht im Krisenmodus, sondern im Krisenlösungsmodus“, betonte der Staatsminister. Die Zustimmung zu den vorliegenden Gesetzen sei ein wichtiger Bestandteil des Dreiklangs Schuldenabbau, Wachstumspakt und Schuldenbremse, der aus der Krise herausführe, so Link weiter.
Auch der Staatsminister mahnte, nicht immer gleich die „große Keule“ der Verfassungsänderung auszupacken, wenn es um die weitere Integration Europas gehe. Europa sei lernfähig und zeige zum Beispiel mit der weitreichenden Zustimmung zu Schuldenbremsen, welcher beachtliche Mentalitätswechsel durch die Krise eingeleitet worden sei. Über die Staatsschuldenkrise und Maßnahmen zu ihrer Bewältigung hinaus, müsse zusätzlich über die künftige Gestaltung und Rolle Europas nachgedacht werden. Link sprach sich insbesondere für eine Diskussion über handlungsfähige EU-Institutionen und eine Stärkung demokratischer Legitimität aus. „Entscheidend für die Zukunft Europas ist, dass die Übertragung von Souveränität und ihre demokratische Kontrolle durch die Bürger miteinander Schritt halten“, sagte der Staatsminister. Link forderte mehr „demokratische Sichtbarkeit“ des Europäischen Parlaments. Auf lange Sicht solle es gemeinsam mit einer zweiten Kammer der Mitgliedstaaten für die Gesetzgebung zuständig sein. Am Ende des Integrationsprozesses sei eine „echte europäische Regierung mit einem direkt gewählten Präsidenten vorstellbar, erläuterte Link die langfristigen Reformüberlegungen des Auswärtigen Amtes. Zur künftigen Zusammensetzung der Kommission bemerkte er, ein Kommissar pro Mitgliedsland sei bei 27 Mitgliedern nicht mehr zeitgemäß.
Auf den Panels äußerten sich namhafte Juristen zu verschiedenen rechtlichen Aspekten der Europäischen Integration, unter ihnen der frühere Verfassungsrichter Udo Di Fabio. Der Berichterstatter im Lissabon-Urteil wandte sich auf dem Podium zu den „Spielräumen des Grundgesetzes und Grenzen Karlsruher Rechtsschöpfung“ energisch gegen die von dem Politikwissenschaftler Peter Graf Kielmansegg (Mannheim) ins Spiel gebrachte Idee, vielleicht das Bundesverfassungsgericht mit der Aufgabe zu betrauen, die Entscheidung darüber zu treffen, welche Integrationsschritte durch Volksabstimmung zu legitimieren seien. In eine ähnliche Richtung wies ein Vorschlag des Rechtsprofessors Martin Nettesheim (Tübingen). Nettesheim erinnerte jedoch zugleich daran, dass Probleme wie die Strukturmängel demokratischer Kontrolle der EU nicht dadurch verschwänden, dass eine neue deutsche Verfassung den Bundesstaat Europa zulasse.
Die Frage, ob man Plebiszite brauche, damit es in Europa weitergehe, sei in gewissem Sinne eine „Phantomdebatte“, bemerkte Di Fabio. Mit der entsprechenden Bemerkung im Lissabon-Urteil sei damals ein „Grenzfall des Denkbaren“ angesprochen worden.
Insgesamt herrschte unter den Tagungsteilnehmern große Skepsis gegenüber dem Gedanken einer Verfassungsneugebung durch Volksabstimmung. Damit werde die Büchse der Pandora geöffnet, da zahlreiche unterschiedliche Gruppierungen versuchen würden, ihre Interessen in die neue Verfassung einzubringen, mahnte der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Günter Krings.
Das Grundgesetz stehe in der gegenwärtigen Krise für Stabilität, nach der sich viele sehnten, betonte der Staatsrechtler Frank Schorkopf (Göttingen), der gemeinsam mit dem Rechtsprofessor Christian Calliess (Berlin) und dem Vorsitzenden des Rechtsausschusses des Europäischen Parlaments, Klaus-Heiner Lehne, das Panel „Europäische Integration und verfassungsrechtliche Legitimation“ bestritt.
Weitgehende Einigkeit herrschte unter den Referenten auch darüber, dass es für die verfassungsrechtliche Beurteilung der weiteren Integrationsschritte entscheidend auf die konkrete Ausgestaltung der Maßnahmen ankomme. Darauf wurde auch auf dem Panel zu den Perspektiven der europäischen Einigung hingewiesen, auf dem sich der Staatsrechtler Matthias Herdegen (Bonn) und der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Europäischen Parlaments Elmar Brok der Frage widmeten, ob man auf dem Weg in den europäischen Bundesstaat sei.
Weiteres Kernthema der Diskussionen war die Frage, wie sich das durch frühere Rechtsbrüche verloren gegangene Vertrauen wiederherstellen lasse, dass sich die Mitgliedstaaten an die neuen Vereinbarungen zur Sicherung von Haushaltsdisziplin halten werden. Auch wurde von den Tagungsteilnehmern Sorge darüber geäußert, dass es selbst für Fachleute äußerst schwierig sei, Inhalt und Reichweite bereits gefasster oder anstehender Beschlüsse und Maßnahmen zur Bewältigung der Finanzkrise zu erkennen und zu beurteilen. So stelle sich die Frage, inwieweit durch manche Beschlüsse des jüngsten Brüsseler EU-Gipfels die Bedingungen zur Stabilisierung der Währungsunion bereits wieder verändert worden seien.
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