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Emmanuel Huybrechts / flickr / CC BY 2.0

kurzum

„Mehr Europa“ zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit

Die EU ist beim Schutz von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit kein zahnloser Tiger. Allerdings weist ihr Instrumentarium einige Lücken auf. Eine "peer review" oder ein jährlicher Bericht zum Stand von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in der EU, der alle EU-Mitgliedstaaten umfasst, könnte das Instrumentarium der EU in diesem Bereich sinnvoll ergänzen.

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Rechtsstaatlichkeit und Demokratie geraten in mehreren EU-Mitgliedstaaten unter Druck. Diese Entwicklungen, der Vorwurf unterschiedlicher Maßstäbe und die Aktivierung der Artikel 7-Verfahren gegenüber Polen und Ungarn zeigen: zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit ist „mehr EU“ nötig.


Das Instrumentarium der EU

Die EU verfügt bereits jetzt über Instrumente zur Wahrung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, sie ist kein zahnloser Tiger:

In der Beurteilung der EU-Beitrittskandidaten spielen diese Themen eine immer wichtigere Rolle.

Das so genannte Kooperations- und Kontrollverfahren (CVM) gegenüber Rumänien und Bulgarien dient dazu, Defizite im Bereich des Rechtsstaats abzuarbeiten.

Vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) können Vertragsverletzungsverfahren gegen Mitgliedstaaten angestrengt werden. Der EuGH hat mit diesem Instrument wirksam zum Schutz der in Artikel 2 EUV festgehaltenen Werte der EU beigetragen: so hat die polnische Regierung im November 2018 als Reaktion auf das Urteil des EuGH ihre umstrittene Reform des Obersten Gerichts wieder zurückgenommen.

Der Artikel 7 EUV kommt bei einer schwerwiegenden Verletzung des Rechtsstaatsprinzips zur Anwendung: „Mit der Mehrheit von vier Fünfteln seiner Mitglieder kann der Rat nach Zustimmung des Europäischen Parlaments feststellen, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Artikel 2 des EU-Vertrags genannten Werte durch einen Mitgliedstaat besteht.“ Am Ende eines solchen Verfahrens kann der Stimmentzug für den Mitgliedstaat stehen – sofern zuvor einstimmig eine „schwerwiegende und anhaltende Verletzung“ der in Artikel 2 verankerten Werte festgestellt wird.

2014 wurde ein „Rahmen zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit in der EU“ eingeführt, um in einen Dialog zu treten, bevor ein Artikel 7-Verfahren nötig wird. Bisher wurde der Rahmen nur gegenüber Polen angewandt.

Im Zuge der Verhandlungen über den nächsten Mehrjährigen Finanzrahmen der EU wird eine stärkere Bindung von EU-Mitteln an die Einhaltung rechtsstaatlicher Standards diskutiert.


Lücken und Mängel

Das Instrumentarium weist Lücken auf:

  1. Vertragsverletzungsverfahren können sich nur gegen punktuelle Maßnahmen eines Mitgliedstaats, nicht gegen eine länger anhaltende problematische Entwicklung richten.
  2. Es gibt keine regelmäßige und öffentliche Bestandsaufnahme des Zustands von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in allen EU-Mitgliedstaaten. Das kaum bekannte Justizbarometer der Kommission ist sinnvoll, deckt aber nur einen Teilbereich ab.
  3. Es fehlen moderatere Sanktionsmöglichkeiten neben der „nuklearen“ Option des Artikels 7. Das Einstimmigkeitsprinzip ist eine (zu) hohe Hürde.
  4. Der Vorwurf von Willkür: Einige EVP-Parlamentarier hatten nicht für die Einleitung des Artikel 7-Verfahrens gegen Ungarn gestimmt, weil der zugrundeliegende Bericht der grünen Abgeordneten Judith Sargentini ihrer Ansicht nach auch Fragen behandelte, die keine Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit darstellten. Vertreter der betroffenen Regierungen behaupteten, dass Artikel 7-Verfahren ein Versuch seien, ihnen ein progressiv-säkulares Gesellschaftsmodell aufzuoktroyieren oder sie für ihre Haltung in der Migrationspolitik zu bestrafen.

Problematisch: Rechtsstaatsdefizite anderer EU-Mitgliedstaaten (u.a. Rumänien) erfuhren lange wenig Aufmerksamkeit.

Deshalb unterstützen viele Akteure (auch Mitgliedstaaten wie etwa Belgien) eine Ergänzung des bestehenden Instrumentariums.


Ein neuer Mechanismus

Ein Element wäre die Einführung eines jährlichen Berichts zum Stand von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in der EU. Dies könnte in einem dem Europäischen Semester ähnelnden Verfahren erfolgen: Ein von der Europäischen Kommission (oder gemeinsam mit der Venedig-Kommission des Europarates) erstellter Bericht würde jährlich den Zustand von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in allen EU-Mitgliedstaaten analysieren. Er würde dabei besonders (aber eben nicht ausschließlich) auf die Lage in Ländern eingehen, in denen problematische Entwicklungen festgestellt wurden und Handlungsempfehlungen formulieren. Der Rat der EU würde über den Bericht beraten und Leitlinien vorgeben. Das EP würde eine Stellungnahme abgeben. Die Kommission würde Empfehlungen an die betroffenen Mitgliedstaaten richten, wie festgestellte Defizite behoben werden können. Der Europäische Rat würde sich verpflichten, einmal im Jahr diesen Rechtsstaatsbericht zu diskutieren.

Eine anhaltende Missachtung der Empfehlungen könnte zur (besser nachvollziehbaren) Anwendung härterer Instrumente führen (Rechtsstaatlichkeitsrahmen, Artikel 7-Verfahren, Reduzierung von EU-Mitteln). Durch diesen transparenteren Prozess ließe sich der Vorwurf der Willkür entkräften.

Wichtig: Der Bericht sollte sich auf Kernbereiche des Artikels 2 EUV konzentrieren (Grundwerte, Gewaltenteilung etc.) und gesellschaftspolitisch kontroverse Themen, zu denen es in den EU-Mitgliedstaaten durchaus unterschiedliche Haltungen gibt, meiden. So wäre auch eine breitere Akzeptanz in allen EU- Ländern gewährleistet.

Ein solches „Europäisches Semester der Rechtsstaatlichkeit“ könnte zu einem regelmäßigeren und öffentlichen Dialog über Fragen von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in der EU führen.

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Dr. Olaf Wientzek

Olaf Wientzek bild

Leiter des Multinationalen Entwicklungsdialogs Brüssel

olaf.wientzek@kas.de +32 2 669 31 70

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