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Essay

Ludwig Erhard: Seine Bedeutung für die Wirtschaftsgeschichte Deutschlands seit dem Zweiten Weltkrieg

di Prof. Dr. Werner Plumpe
Seit den 1970er Jahren wurden Ludwig Erhards Leistungen von kritischen Stimmen angezweifelt und gerieten zum Teil sogar in Vergessenheit. In der Tat war der am 4. Februar 1897 in Fürth geborene Kaufmannssohn und erste Wirtschaftsminister der Bundesrepublik nicht der alleinige Urheber des deutschen „Wirtschaftswunders“, ja überhaupt ist diese Bezeichnung bei einem nüchternen Blick auf die ökonomischen Fakten und verglichen mit ähnlichen Entwicklungen in den Ländern Westeuropas fraglich. Dennoch sind Erhards große Verdienste um die Liberalisierung der westdeutschen Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkries unbestreitbar; gerade nach dem Ende des Nachkriegsbooms zeigten sich die positiven Folgen seiner Politik der Produktivitäts- und Wettbewerbsorientierung für die Wirtschaftsentwicklung der Bundesrepublik.

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Die Urteile über Ludwig Erhard und seine Wirtschaftspolitik könnten unterschiedlicher nicht sein. Galt er in den Jahren des Wiederaufbaus geradezu als Inbegriff des Erfolges einer liberalen Wirtschaftspolitik, mit der zumindest in Westdeutschland die desaströsen Folgen des Zweiten Weltkrieges überwunden und in den späten 1950er Jahren der Schritt zu Wohlstand und Massenkonsum vollzogen wurde, so verblasste sein Bild seit der zweiten Hälfte der 1960er Jahre rasch. Schuld daran war nicht nur seine alles in allem unglückliche Kanzlerschaft, die 1966/67 in der ersten Nachkriegsrezession endete; mehr noch wurde in den 1970er Jahren die Bedeutung seiner Wirtschaftspolitik generell angezweifelt. Nicht die mit dem Namen Ludwig Erhards eng verbundene Soziale Marktwirtschaft sei der Schlüssel des Wirtschaftswunders gewesen; dieses habe vielmehr von dem noch im Nationalsozialismus sich vollziehenden Investitionsboom ebenso profitiert wie von dem massenhaften Zustrom qualifizierter Arbeitskräfte, die Flucht und Vertreibung nach dem Krieg zu Millionen in die Westzonen Deutschlands gespült hatten. Erhards Bedeutung, so die Kritiker, sei notorisch überschätzt worden; als Person sei er ohnehin sehr viel weniger bedeutend gewesen als lange angenommen. Das ist alles nicht unwidersprochen geblieben, namentlich wurde die frühe Marktliberalisierung und die Weltmarktöffnung weiterhin mit dem Namen Ludwig Erhard verbunden, aber sein einstiger Ruhm war doch dahin. Noch jüngst wurde gar versucht, Erhard als einen mehr oder weniger skrupellosen Opportunisten in die Nähe der NS-Diktatur zu rücken. Welche Folgen das für das allgemeine Geschichtsverständnis hatte, ist schwer auszumachen. Wenn aber selbst die Kanzlerkandidatin einer Bundestagspartei im hinter uns liegenden Wahlkampf glaubte, die Soziale Marktwirtschaft als Erfolg der SPD rühmen zu können, dann lag das höchstwahrscheinlich nicht nur an individuellen Bildungsmängeln, sondern an der Tatsache, dass die Leistungen Ludwig Erhards heute kaum noch bekannt sind.

 

Tätigkeiten bis 1948

Seine Person lädt zur Etablierung einer Art heroischen Mythos in der Tat nicht ein. Erhard, Sohn einer kleinbürgerlichen Händlerfamilie aus dem fränkischen Fürth, im Ersten Weltkrieg schwer verwundet und seither gesundheitlich beeinträchtigt, sodass eine Übernahme des elterlichen Geschäfts dauerhaft nicht in Frage kam, absolvierte in den 1920er Jahren erst eine Ausbildung zum Diplom-Kaufmann an der Handelshochschule Nürnberg und dann ein Wirtschaftsstudium an der Universität Frankfurt am Main, das er mit der Promotion bei Franz Oppenheimer abschloss. Der Sprung in eine akademische Karriere, den er beabsichtigte, gelang ihm danach nicht. Stattdessen übernahm er für drei Jahre das väterliche Geschäft, konnte aber dessen Konkurs nicht verhindern. Schließlich fand er in Wilhelm Vershofens Institut zur Wirtschaftsbeobachtung der deutschen Fertigware an der Nürnberger Handelshochschule, einem Vorläufer der späteren Gesellschaft für Konsumforschung, eine Stelle als Referent, die er bis 1942 ausübte, bevor er das Haus im Streit um die Nachfolge Vershofens  verlassen musste. Mit Mitteln der Reichsgruppe Industrie betrieb Erhard danach das „Institut für Industrieforschung“, in dessen Rahmen er umfangreiche Studien zur Umstellung der Wirtschaft nach dem Krieg anstellte. Während hier schließlich eine umfängliche Denkschrift entstand, kamen in den 1930er Jahren betriebene Pläne für eine Habilitation nicht über das Anfangsstadium hinaus. Gleichzeitig hatte Erhard sich publizistisch im Sinne der Fertigwaren- bzw. genauer der Konsumgüterindustrie geäußert und später auch „Forschungsaufträge“ zur Behandlung der Wirtschaft in Österreich und den besetzten Gebieten, unter anderem zu Polen, übernommen. Das Kriegsende erlebte Erhard in Bayreuth, wohin sein Institut seinen Sitz verlegt hatte. Nach einer Zwischentätigkeit als Wirtschaftsreferent der Fürther Kommunalverwaltung wurde er im Oktober 1945 bayerischer Staatsminister für Handel und Gewerbe im Kabinett Hoegner, eine Stellung, die er bis zu den Wahlen im Herbst 1946 behaupten konnte. Danach übernahm er 1947 die Leitung der mit der Vorbereitung einer Währungsreform befassten Bad Homburger Sonderstelle „Geld und Kredit“. Im März 1948 wurde Erhard schließlich auf liberale Initiative hin Direktor der bizonalen Verwaltung für Wirtschaft, ein Amt, das es ihm ermöglichen sollte, auf die wirtschaftspolitischen Weichenstellungen nach der Währungsreform im Sommer 1948 entscheidenden Einfluss zu nehmen.

 

Moderator eines liberalen Neuanfangs

Für Erhards Rolle als Wirtschaftsminister des Wirtschaftswunders sprach zu dieser Zeit noch ausgesprochen wenig. Praktische wirtschaftspolitische Erfahrungen hatte er kaum; die wenigen Monate in der Fürther Kommunalpolitik zählten wenig. Er war freilich mit den Problemen der Übergangswirtschaft, namentlich mit der Frage, wie mit den gewaltigen Staatsschulden, die der Krieg hinterlassen hatte, umgegangen werden sollte, durchaus vertraut und hatte hier auch gute Beziehungen zur Spitze der ehemaligen Reichsgruppe Industrie, mit deren Hauptgeschäftsführer er verschwägert war. Vor allen Dingen aber war er politisch unbelastet und hatte auch keine engen Verbindungen in die ehemals rüstungsentscheidenden Bereiche der Industrie. Namentlich der Schwerindustrie des Ruhrgebietes stand er denkbar fern und auch mit den anderen großindustriellen Komplexen, die sich gleichzeitig mit energischen amerikanischen Dezentralisierungsmaßnahmen auseinandersetzen mussten, war er nicht verbunden. All das prädestinierte ihn dafür, einen grundlegenden Neuanfang zu verkörpern.

Durchaus ehrgeizig, wie das Bemühen um eine Honorarprofessur zeigt, die ihm die Münchener Universität 1947 dann auch verlieh, wurde er nach und nach vor allem der politische Moderator von wirtschaftsliberalen Entscheidungen, die in kurzer Zeit einen weitgehenden Bruch mit den Traditionen der staatlichen Wirtschaftsverwaltung herbeiführten. Dabei kamen Erhard verschiedene Faktoren entscheidend entgegen. Nicht nur hatte sich in der bizonalen Verwaltung für Wirtschaft, die sich vor allem auf Mitarbeiter des Zentralamts für Wirtschaft der britischen Zone stützen konnte, eine bemerkenswerte, klar wirtschaftsliberal ausgerichtete Expertentruppe gebildet, deren bedeutendste Figur Leonhard Miksch war. Auch der stark wachsende Einfluss der amerikanischen Besatzungsmacht begünstigte zumindest in der Tendenz eine Liberalisierung der Wirtschaft. Die mehr oder weniger planwirtschaftlichen Neigungen der britischen Besatzungsmacht, die bei einem Teil der deutschen Öffentlichkeit auf Zuspruch trafen, fielen jedenfalls den amerikanischen Vorstellungen zum Opfer. Zwar konnte Erhard auf die Währungsreform selbst keinen Einfluss ausüben, doch auch das war für ihn wohl eher von Vorteil, denn seine eigenen Planungen für eine Währungsumstellung waren viel komplizierter als der schließlich von den USA durchgesetzte radikale, im Kern aber einfache Währungsschnitt. Dessen Radikalität gab Erhard die Möglichkeit einen ähnlich radikalen Bruch in der Wirtschaftspolitik zu wagen. Das von ihm zu verantwortende Gesetz über die Leitsätze der Wirtschaftspolitik nach der Währungsreform, für das vor allem Leonhard Miksch die fachliche Verantwortung trug, beendete die Güterbewirtschaftung, Rationierung und Preiskontrolle, die zuvor mehr schlecht als recht funktioniert hatte, schlagartig. An die Stelle von Planung und Verteilung traten in einem bedeutenden Teil vor allem der Wirtschaft des alltäglichen Bedarfs preisbildende Märkte. Planung und Bewirtschaftung wurden auf bestimmte Bereiche der Grundstoff- und Investitionsgüterindustrie beschränkt; die Verbrauchs- und Konsumgüterindustrie konnte seit dem Sommer 1948 im Grunde wieder frei handeln.

Der verbreitete Eindruck, dass die Schaufenster wieder voll waren und die Mangelwirtschaft quasi  über Nacht verschwand, ist zwar übertrieben. Aber dass unter den neuen Bedingungen viele Waren, die zuvor zurückgehalten wurden, wieder in den Handel kamen, ist unstrittig. Ähnlich unstrittig ist freilich die Tatsache, dass der Nachfrageüberhang binnen kurzem erhebliche Preissteigerungen zur Folge hatte, während die noch regulierten Löhne nur mäßig stiegen. Auch stieg in diesen Monaten die Arbeitslosigkeit, die zuvor faktisch keine Rolle gespielt hatte, signifikant an. Im November 1948 kam es zum einzigen Generalstreik in der westdeutschen Nachkriegsgeschichte, der die offenkundige Schieflage von rasch steigenden Preisen und nur wenig zulegenden Löhnen auf die politische Tagesordnung setzte. Der Druck auf die Wirtschaftspolitik, regulierend in die Märkte einzugreifen und zumindest wieder Preiskontrollen einzuführen, war gewaltig. Erhard widersetzte sich indes allen Versuchen zu älteren Formen der Wirtschaftsverwaltung zurückzukehren; stattdessen wurde ein sogenanntes Jedermann-Programm aufgelegt, um die Herstellung preiswerter Güter des täglichen Bedarfs zu steigern. Erst das 1949 beginnende Wirtschaftswunder mit seinen gewaltigen Produktionssteigerungen entschärfte die Situation, sodass Erhards Wirtschaftspolitik schließlich vollständig gerechtfertigt erschien.

Derartige Herausforderungen waren nicht die einzigen, die das von Ludwig Erhard verkörperte liberale Projekt in Frage stellten. Anfang der 1950er Jahre kam es aufgrund von explodierenden Importmengen zu einer Zahlungsbilanzkrise, in der nicht nur, aber vor allem die amerikanische Besatzungsmacht Korrekturen an der liberalen Wirtschaftspolitik verlangte. Diesmal rettete Ludwig Erhard die Bereitschaft der in der Baseler Bank für Internationalen Zahlungsausgleich zusammengeschlossenen Staaten, der jungen westdeutschen Wirtschaft mit Sonderkrediten zu Hilfe zu kommen. Und auch die von Erhard bewusste gewollte Bevorzugung der Konsumgüterindustrie war nicht ohne Pferdefuß, denn bei der Schwer- und Investitionsgüterindustrie kam es Anfang der 1950er Jahre zu Engpässen, die ein gesondertes Investitionsprogramm verlangten, das die noch gebundene Schwerindustrie aus eigener Kraft aber kaum bewältigen konnte. Ob die „Investitionshilfe für die Ruhr“, eine von der Industrie selbst gestaltete Umlage zugunsten der Eisen- und Stahlindustrie und des Kohlenbergbaus, allerdings wirklich einen Bruch mit der liberalen Wiederaufbaupolitik darstellte, ist fraglich. Sie blieb auf alle Fälle eine Ausnahme in einem liberalen Umfeld, das sich danach erstaunlich rasch konsolidierte und bis in die Mitte der 1960er Jahre kaum in Frage gestellt wurde, obwohl  die anderen westlichen Staaten keinesfalls dem liberalen Credo folgten, das Erhard seit 1949 aus Bonn verkündete.

Stabilisierung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft

Für das rasch so getaufte „Wirtschaftswunder“ waren nicht allein die mit dem Namen Erhards verbundenen Weichenstellungen ausschlaggebend. Das Land profitierte von dem großen und relativ modernen Kapitalstock ebenso wie vom zunächst anhaltenden Zustrom qualifizierter Arbeitskräfte aus den Ostgebieten und der Sowjetischen Besatzungszone bzw. der DDR. Ähnlich positiv wirkte sich die leichte Unterbewertung der D-Mark aus, die für die Rückkehr der westdeutschen Wirtschaft auf den Weltmarkt günstige Voraussetzungen schuf. Und auch die Tatsache, dass im beginnenden und sich bald zuspitzenden Kalten Krieg die deutsche Wirtschaft keine Rüstungslasten zu schultern hatte, trug in bedeutendem Maße dazu bei, dass sie auf den warenhungrigen internationalen Nachkriegsmärkten als Lieferant preisgünstiger Industriegüter reüssieren konnte. Dadurch ließen sich Handels- und Leistungsbilanz bald so stabilisieren , dass 1958 die Konvertibilität der D-Mark erreicht wurde. Die Erhard’sche Wirtschaftspolitik war hier nicht immer ursächlich, aber sie hat diese Konstellation begriffen und begünstigt, die ja zugleich bedeutete, die eigene Wirtschaft der harten Konkurrenz der nationalen und internationalen Märkte auszusetzen. Dass Erhard gegen einen europäischen Protektionismus plädierte, der mit der 1957 gegründeten EWG drohte, bringt diese Tendenz ebenso zum Ausdruck wie sein vermeintlicher Attentismus etwa bei der Kohlenkrise und der beginnenden Probleme der Eisen- und Stahlindustrie in den 1960er Jahren, als er sich explizit gegen eine staatliche Stützung der wankenden Schwerindustrie aussprach.

Von der wahrscheinlich größten Bedeutung für den dauerhaften Erfolg der westdeutschen Wirtschaft war schließlich, dass sich seit den 1950er Jahren eine produktivitätsorientierte Lohnpolitik durchsetzte, die ohne die Erfolge der „Sozialen Marktwirtschaft“ unvorstellbar gewesen wäre. Die Orientierung der Lohnabschlüsse an den Produktivitätssteigerungen stabilisierte die (internationale) Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie entscheidend. Möglich wurde sie, weil nicht zuletzt über Sozialpartnerschaft und Mitbestimmung bei zugleich einigermaßen stabilem Preisniveau die Verbesserung der Lebensbedingungen und die Erhöhung der ökonomischen Leistungsfähigkeit glaubhaft miteinander verbunden wurden. Dass der Generalstreik vom November 1948 der einzige in der gesamten westdeutschen Nachkriegsgeschichte blieb, ja dass die Konfliktintensität in den westdeutschen industriellen Beziehungen deutlich niedriger lag als in vergleichbaren westeuropäischen Volkswirtschaften, ist zweifellos auch ein Ergebnis dieser Konstellation.

 

Durchsetzung ordoliberaler Prinzipien

Im Hintergrund all dieser Maßnahmen, die Erhard zum Teil wohl eher verkörperte als verursachte, stand gleichwohl ein klares Konzept, dessen sich Erhard auch bewusst war und blieb. Der Begriff des Ordoliberalismus ist zwar nicht wirklich präzise, doch charakterisiert er die Grundsatzpositionen der Wirtschaftspolitik der Nachkriegszeit, die sich schließlich unter der von Alfred Müller-Armack geprägten Bezeichnung „Soziale Marktwirtschaft“ bündelten, zutreffend. Es ging Erhard und seinen Mitstreitern um die Schaffung einer funktionsfähigen Marktwirtschaft als Bedingung einer möglichst umfangreichen Steigerung von Produktion und Beschäftigung, wodurch wiederum der Wohlstand des Landes gesichert werden sollte. „Wohlstand für alle“: Bedingung hierfür waren funktionsfähige Märkte, und das verlangte zwingend, gegen die Marktfunktionen einschränkenden Kartelle, Monopole oder Absprachen vorzugehen, seien sie nun industriellen Ursprungs oder durch Gewerkschaftsmacht verkörpert. Historisch war der Kampf gegen die Vermachtung der Märkte, die durch große Unternehmen und ihre Absprachen gekennzeichnet war, ausschlaggebend. Die Sicherung des Marktes durch die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen und Kartellen zieht sich daher wie ein roter Faden durch Erhards politisches Wirken. Das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen von 1957 war schließlich ein nach langen und harten Kämpfen erreichter Kompromiss, denn große Teile der Industrie, die Gehör im Bundeskanzleramt fanden, waren gegen eine in ihren Augen zu weitgehende Fusionskontrolle. Auch die Festschreibung der Autonomie der Bundesbank im Bundesbankgesetz vom Sommer 1957 konnte Erhard als Erfolg seines die Marktwirtschaft prinzipiell stützenden Ansatzes sehen.

 

Der größte Widerstand gegen Erhards Grundverständnis kam nebenher nicht notwendigerweise von der sozialdemokratischen Opposition, die im Godesberger Programm ihren Frieden mit der „Sozialen Marktwirtschaft“ machte. Der größte Widersacher war zweifellos Bundeskanzler Konrad Adenauer selbst, der von Erhard wenig hielt und seinen politischen Winkelzügen die grundlegenden ordnungspolitischen Fragen unterordnete. Die Rentenreform von 1957, die Erhard ökonomisch für viel zu riskant hielt, setzte Adenauer mit der Richtlinienkompetenz des Kanzlers ebenso durch wie er den sich abzeichnenden EWG-Protektionismus aus Gründen der deutsch-französischen Kooperation akzeptierte. Erhard war in diesen Fragen sehr viel grundsätzlicher, auch wenn er in allgemeinpolitischen Fragen in der Tat wenig glücklich agierte. Seine gegen Adenauers hinhaltenden Widerstand schließlich durchgesetzte Kanzlerschaft (1963–1966) verlief denn auch ohne Fortune, wie überhaupt Erhard seit dem Beginn der 1960er Jahre häufig an seine Grenzen stieß. Sein Konzept der „formierten Gesellschaft“, mit dem er die scheinbar in Interessengruppen zerfallende Gesellschaft zusammenhalten wollte, war ebenso weltfremd wie seine wiederholten Maßhalteappelle, die einfach nicht zu der ja von ihm selbst maßgeblich geförderten Massenkonsumgesellschaft passten. Nach wenigen Jahren war jedenfalls der Ruhm des Wirtschaftswunders verflogen. Erhards Wirtschaftspolitik musste nach 1966 in der neuen großen Koalition unter Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller (SPD) folgerichtig einer „Globalsteuerung“ weichen, mit der sich die Bundesrepublik zumindest nach außen hin dem anschloss, was in anderen Ländern in der gesamten Nachkriegszeit den Ton angegeben hatte.

 

Langfristige Erfolge der Erhard’schen Wirtschaftspolitik

Das westdeutsche Wirtschaftswunder, so sehr es die durch den täglichen Anblick von Trümmern traumatisierten Zeitgenossen auch beeindrucken mochte, war kein deutscher Sonderweg. Er entsprach alles in allem dem westeuropäischen Wiederaufbauprozess, der fast durchweg durch ein rasches Wachstum gekennzeichnet war, mit dem die durch Krieg und Zerstörung gewaltig gewachsene Produktivitätslücke zwischen Westeuropa und den USA nach und nach geschlossen wurde. Allein diese Gleichgerichtetheit der westeuropäischen Wirtschaftsentwicklung seit 1945 relativiert die Bedeutung einzelner Wirtschaftspolitiken, die trotz großer Unterschiede eben kein allzu verschiedenes Ergebnis zeitigten. Die Umstände, namentlich die US-amerikanische Offenheit und die rasche Liberalisierung der weltwirtschaftlichen Beziehungen schufen in der Tat ein günstiges Umfeld, in dem der Aufholprozess, das catching up des amerikanischen Vorsprungs, dann relativ leichtfiel, wenn die Voraussetzungen, namentlich der verfügbare Kapitalstock und die Struktur und Qualifikation der Arbeitskräfte hierfür günstig waren.

Nun wäre es freilich ebenso unangemessen, in der Nacht des unvermeidlichen Wiederaufbaus alle Katzen grau sein zu lassen und die Unterschiede der je nationalen Wirtschaftspolitiken und ihre Bedeutung einfach zu verwischen. Spätestens Anfang der 1970er Jahre, als das Wechselkurssystem von Bretton Woods in turbulente Zeiten geriet und 1973 schließlich aufgegeben wurde, als der Wiederaufbauboom an sein Ende kam, zeigten sich die westeuropäischen Volkswirtschaften alles andere als homogen. Die politisch bedingten Unterschiede, so wenig sie auch das Wachstumstempo der trentes glorieuses beeinträchtigt hatten, waren doch gewaltig. Namentlich die Produktivität und damit verbunden die internationale Wettbewerbsfähigkeit der jeweiligen Volkswirtschaften, die nach dem Wegfall des einheitlichen Währungsschleiers in den sich anschließenden Währungsschwankungen zum Ausdruck kamen, waren in vielerlei Hinsicht von gravierender Unterschiedlichkeit. Dass die Bundesrepublik Deutschland von den starken Turbulenzen der Zeit vergleichsweise glimpflich betroffen war, hatte sehr viel mit der zumindest im europäischen Vergleich überlegenen Produktivität ihrer Industrie zu tun, deren Kern die Wirtschaftspolitik der Ära Erhard gewesen war. Die produktivitätsorientierte Lohnpolitik war das Kernstück der „Sozialen Marktwirtschaft“, und deren Grundlagen wurden in den Jahren nach der Währungsreform gelegt. Während des Wiederaufbaubooms machten sich derartige Faktoren noch nicht so stark bemerkbar, doch deutet die Tatsache, dass die D-Mark im Bretton Woods-System unter einer Art permanenten Aufwertungsdruck stand, auf den Erfolg dieser Maßnahmen hin, der sich in hohen Produktivitätsgewinnen niederschlug. Im europäischen Vergleich war der bewusste Verzicht auf staatliche Rahmenplanung im Wiederaufbau, die etwa in Frankreich gerade deshalb so populär war, weil man glaubte, hiermit die Produktivitätsrückstände der eigenen Industrie ausgleichen zu können, letztlich sogar erfolgreicher als alle vermeintlich so modernen Steuerungsansätze. Es waren, könnte man zugespitzt sagen, die 1970er Jahre, die den Erfolg des Erhard’schen Wiederaufbaukonzepts bestätigten, denn die westdeutsche Industrie verkraftete auch die hohen Wertsteigerungen der D-Mark, ohne entscheidend an Konkurrenzfähigkeit zu verlieren. Sie war also nicht allein die Folge der günstigen D-Mark-Bewertung; es war Erhards Wirtschaftsliberalismus, der hier eine zentrale Rolle gespielt hatte, weil er die westdeutsche Wirtschaft, insbesondere die Industrie von Anfang an der harten nationalen und internationalen Konkurrenz ausgesetzt hatte, in der sie sich bewähren musste, ohne auf staatliche Unterstützung rechnen zu können. All das hatte fraglos mit den günstigen Rahmenbedingungen zu tun. Nur dass und wie sie genutzt wurden, hing nicht zuletzt an der staatlichen Wirtschaftspolitik. Hier liegen Erhards Verdienste auf der Hand. Da die Rahmenbedingungen heute andere sind, lassen sie sich nicht kopieren oder einfach wiederholen. Aber lehrreich bleiben sie deshalb allemal.

 

Werner Plumpe ist Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Von 2008 bis 2012 war er Vorsitzender des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD).

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