Lieber Herr Köster, der Bundestag berät und beschließt in dieser Woche umfangreiche wirtschaftspolitische Maßnahmen. Warum beschäftigt die Politik sich jetzt mit Wirtschaft, hat das Land nicht derzeit drängendere Probleme?
Gesundheitspolitik geht vor Wirtschaftspolitik, klar! So sehen das 95 Prozent der Deutschen und befürworten die derzeitigen Einschränkungen. Die wirtschaftlichen Folgen sind aber massiv, da muss man sich reinen Wein einschenken. Diese Krise ist besonders, weil sie alle Branchen, alle Sektoren und alle Regionen betrifft. Eine solche Situation gab es in den letzten 70 Jahren so nicht.
Müssen wir uns also Sorgen machen?
Zunächst einmal haben wir in Deutschland eine bessere Ausgangslage als viele andere Länder. Die solide Finanzpolitik der letzten zehn, fünfzehn Jahre gibt uns Spielraum. „Spare in der Zeit, dann hast du in der Not“: Das ist das Motto der Schuldenbremse, die genau für solche Herausforderungen konzipiert wurde. Die unabhängigen Sozialversicherungen sind ebenso ein großer Vorteil: Die Arbeitslosenversicherung beispielsweise hat genug Reserven, um das Kurzarbeitsgeld zu finanzieren, die Renten sind über Monate gesichert. Die Ökonomen sprechen bei diesen Instrumenten von „automatischen Stabilisatoren“. Davon haben wir in unserer Volkswirtschaft ungewöhnlich viele. Das hilft uns jetzt sehr.
Gibt es eine plausible Strategie?
Ja, absolut. Bei den Maßnahmen, die dem Bundestag jetzt vorliegen gibt es, wenn man so will, eine gemeinsame Überschrift: Liquiditätssicherung. Die Politik möchte erreichen, dass kein Haushalt, kein Unternehmen und keine Institution in den kommenden Wochen um die grundsätzliche Existenz fürchten muss. Wenn die Krise abklingt, sollen möglichst alle mit anpacken können, die Verluste aufzuarbeiten. Gerade weil wir derzeit die liberale Wirtschaftsordnung derart beschränken, ist das im Einzelnen alles andere als trivial.
Kann der Staat nicht einfach einspringen?
Das wird im Einzelfall vielleicht notwendig sein. Auch dafür werden jetzt die erforderlichen Mittel zur Verfügung gestellt. Das Ziel ist aber nicht, Betriebe zu verstaatlichen. Soziale Marktwirtschaft heißt, dass wir Unternehmern zutrauen, unternehmerische Entscheidungen zu treffen und den Staat nicht überfrachten. Wichtiger als die großen Kapitalgesellschaften sind ohnehin die vielen Millionen Mittelständler und Kleinunternehmer. Hier ist ein Dreiklang aus Überbrückungsgeldern, Flexibilität und sozialer Sicherung notwendig.
Was heißt das nun im Einzelnen?
Der Wirtschaftsstabilisierungsfonds wird Kredite oder Eigenkapital zur Verfügung stellen. Die Kleinunternehmer und Solo-Selbständigen sollen Soforthilfen, zum Beispiel in Form von Miet- und Pachtzuschüssen bis 15.000 Euro für die kommenden drei Monate erhalten. Zur Flexibilität gehört der gesamte Bereich des Arbeitsmarktes. Dazu gehört sicher das Kurzarbeitergeld, damit Beschäftigte im Betrieb gehalten werden können und nicht arbeitslos werden müssen. Angestellte dürfen in den nächsten drei Monaten sogar flexibel an andere Unternehmen ausgeliehen werden. Die Regelungen zur Saisonarbeit werden von 70 auf 115 Tage erweitert, was vor allem in der Landwirtschaft nun existenziell ist. Oder die Hinzuverdienstgrenzen für Frührentner, die von 6.300 Euro massiv auf 44.000 Euro erhöht werden.
Es wird auch rechtlicher Freiraum geschaffen: Normalerweise müssten Geschäftsführer einer GmbH nun flächendeckend Insolvenz anmelden. Weil diese Unternehmen nach geltendem Recht, immer ein finanzielles Polster vorhalten müssen. Das dient dem Schutz von Lieferanten und Kreditgebern. Dieser Gläubigerschutz wird in Deutschland sehr strikt verfolgt. Die sogenannte Insolvenzverschleppung wird sogar als Straftat geahndet. In der jetzigen Krise kann aber kein Geschäftsführer sicher sagen, wie es in zwei, drei Monaten um das Unternehmen bestellt sein wird. Damit nun nicht alle aus Selbstschutz Insolvenz anmelden müssen, werden die Regeln hier vorübergehend gelockert.
Es ist das Stichwort soziale Sicherung gefallen. Was ist hier vorgesehen?
Richtig. Wenn Menschen trotz aller Maßnahmen Probleme haben sollten, den privaten Bedarf zu sichern, wird es für die kommenden sechs Monate einen vereinfachten Zugang zu Sozialleistungen geben. Wer nicht auf erhebliches Vermögen zurückgreifen kann, kann SGB II-Leistungen oder Kinderzuschlag erhalten. Es wird nur eine Einkommensprüfung vorgenommen werden. Außerdem soll niemand seine Wohnung verlieren. Deshalb werden die Jobcenter in solchen Fällen unbürokratisch auch Wohnkosten übernehmen. Und darüber hinaus darf niemand gekündigt werden, der im April, Mai oder Juni aufgrund der Corona-Krise keine Miete zahlen kann.
All das sind schon erhebliche Eingriffe in unser Rechts- und Wirtschaftssystem. Man denke nur an den Vermieter einer Einliegerwohnung, der auch seine Kredite bedienen muss oder bei dem die vermietete Immobilie Teil der Altersversorgung ist. Oder den kleinen Lieferanten, der sich derzeit auf den Gläubigerschutz weniger verlassen kann als üblich.
Bedeutet diese Aussage, dass solche getroffenen Maßnahmen auf jeden Fall wieder rückgängig gemacht werden sollten?
Nochmal: Gesundheit hat oberste Priorität. Wir müssen jedoch im Blick behalten, dass unsere Industrie schon vor der Krise vor strukturellen Herausforderungen stand. Und die fehlenden Umsätze der kommenden Wochen treffen die Wirtschaft hart. So richtig und wichtig die kurzfristigen Maßnahmen jetzt sind, mittelfristig muss Strukturpolitik Vorfahrt haben: Digitalisierung, Entbürokratisierung und ein innovationsfreundliches Umfeld.
Hier gibt es aber auch einen positiven Zusammenhang zum aktuellen Maßnahmenpaket: Warum sollten die jetzt beschlossenen Flexibilisierungen, wie die Saisonarbeit oder die Beschäftigung von Frührentnern nicht dauerhaft erlaubt werden? Die Erleichterungen bei Online-Versammlungen für Gremien oder das fernmündliche Antragswesen bleiben auch nach der Krise sinnvoll. Welche Vorteile eine digitale Arbeitsweise auch haben kann und wie sie rechtlich und organisatorisch funktioniert, lernen wir ja gerade jetzt in der Krise.