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Wahlsieg der islamistischen ENNAHDHA

з Klaus D. Loetzer

Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung in Tunesien

Als sich am Wahlsonntag weltweit Meldungen verbreiteten, die Wahlbeteiligung betrage fast 90 Prozent, war aufgrund der großen medialen Aufmerksamkeit für die ersten Wahlen in einem nordafrikanischen Land der Arabellion ein weiteres Markenzeichen für die Vorreiterrolle Tunesiens gesetzt. Dass sich dieser hohe Wert später als Ente erwies, ging in der medialen Wahrnehmung indessen unter.

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Der zweite Paukenschlag erfolgte, als sich abzeichnete, dass die islamistische Ennahdha (Wiedergeburt) zwischen 40 und 60 Prozent der Stimmen errungen hatte – bei Wahlumfragen war sie auf höchstens 25 bis 30 Prozent gekommen. Das hatte aber offensichtlich die politischen Gegner vor den Wahlen in Bezug auf ihre Wahlkampfstrategien und -anstrengungen nicht weiter in Unruhe versetzt. Beide Trendmeldungen hielten sich ziemlich lange, denn die Wahlergebnisse wurden nicht, wie spekuliert, Montagabend oder wie zunächst von der unabhängigen Wahlkommission angekündigt, Dienstagnachmittag bekannt gegeben, sondern erst Donnerstagabend. Die mehrfache Aufschiebung der Veröffentlichung der Wahlergebnisse ließ bereits aufhorchen, dass etwas Ungewöhnliches im Gange war. Denn zwischenzeitlich war die Sitzverteilung in der Verfassungsgebenden Versammlung kein Geheimnis mehr, zumindest was die größeren Parteien anging.

Neben dem so nicht erwarteten starken Abschneiden der Ennahdha waren zwei weitere Ergebnisse Gegenstand hektischer politischer Diskurse: Für was steht Al-Aridha Al-Chaabia (Petition für Gerechtigkeit und Entwicklung), die mit 28 Sitzen drittstärkste politische Kraft geworden war, und wer ist ihr Führer Hechimi Hamidi? Denn die Al-Aridha war gewissermaßen aus dem Nichts aufgetaucht. Ebenso überraschte das schlechte Abschneiden der PDP, denn Parteiführer Ahmed Néjib Chebbi hatte seine Partei, eine sog. Altpartei, als die eigentliche Herausforderin von Ennahdha gesehen, wie auch viele Beobachter der politischen Szene. In Wahlvorhersagen hatten die Islamisten zwar immer signifikant vorne gelegen, die PDP war aber, wenn auch mit Abstand und nur mit um die acht Prozent, immer an zweiter Stelle gelandet.

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Quelle/©: MoiJeMoiJe

Zudem zeichnete sich vor der offiziellen Bekanntgabe des vorläufigen Wahlergebnisses bereits ab, dass es Dank des proportionalen Wahlsystems auch eine Anzahl kleinerer Parteien und unabhängiger Wählerlisten mit jeweils einem Kandidaten in die Verfassunggebende Versammlung geschafft hatten. Genau dieses war mit dem Verfahren des proportionalen Wahlrechts beabsichtigt worden. Angesichts des vorliegenden Wahlergebnisses hätte ein Mehrheitswahlrecht dazu geführt, dass Ennahdha alle 217 Sitze gewonnen hätte.

Wahlorganisation und –durchführung exzellent – mit Einschränkungen

Schon früh wurde die Wahlorganisation und -durchführung hoch gelobt und bereits als Messlatte für zukünftige Wahlen in der Region empfohlen: "No matter what the results, Tunisia's landmark election was a monumental achievement in democracy that will be a tough act to follow in elections next month in Egypt and Morocco - and later, in Libya."

Vor allem muss der Umstand gewürdigt werden, dass die Wahlkommission über keinerlei einschlägige Erfahrungen und Strukturen verfügte, da in der Vergangenheit Wahlen, wenn auch gefälschte, vom Innenministerium organisiert wurden. Die Wahlkommission war als Instance supérieur indépendante pour les élections (ISIE) in Form einer unabhängigen Institution zusammen mit der Haute instance pour la réalisation des objectifs de la révolution, de la réforme politique et de la transition démocratique Mitte März 2011 ins Leben gerufen worden und ging aus den Reihen der Zivilgesellschaft hervor. Sie wird von dem Staatsrechtler Kamel Jendoubi geleitet. Ihr Mandat erlischt mit der Verkündung des endgültigen Wahlergebnisses, aber schon jetzt werden aufgrund der exzellenten Arbeit Rufe laut, sie als permanente Institution zu etablieren.

Allerdings ergibt sich bei näherem Hinsehen ein nicht ganz so makelloses Bild, was bereits am Wahltag durch Meldungen in sozialen Netzwerken deutlich wurde. Die häufigsten bezogen sich darauf, dass in den meisten Wahllokalen nur Ennahdha-Vertreter anwesend seien – was allerdings auf die Unfähigkeit der anderen Parteien, Vertreter zu stellen, zurückzuführen ist – und dass öfters Frauen zur Wahlentscheidung für Ennahdha gedrängt wurden. Eine weitere häufige Beobachtung war, dass Ennahdha-Vertreter teilweise gewaltsam die Wartenden in Männer- und Frauenschlangen aufteilten. In einigen Fällen wurde dies verweigert, in anderen nicht. Die NRO Association Tunisienne pour l'Intégrité et la Démocratie des Elections (ATIDE) war mit ca. 2000 Wahlbeobachtern in vielen Wahllokalen landesweit vertreten und hat im Gegensatz zu den Wahlbeobachtermissionen der EU und des amerikanischen Carter Centers bereits am Freitag einen detaillierten Bericht mit Wahlverstößen vorgelegt. Wie auch die ausländischen Beobachter stellte sie ein positives Gesamtzeugnis aus, legten aber im Einzelnen ca. 6000 Unregelmäßigkeiten offen. In ihrem Bericht heißt es u.a.: "In einem Viertel der Wahllokale wurden Unregelmäßigkeiten festgestellt. Von diesen beziehen sich ein Fünftel auf das Problemen der mangelnden bzw. fehlenden Versiegelung von Wahlurnen und die Hälfte auf Störungen in den Wahllokalen. In mehr als fünf Prozent der Wahllokale kam keine Spezialtinte systematisch zum Einsatz (um Wähler an der mehrfachen Stimmabgabe zu hindern). (...) In einem Fünftel der Wahlbüros wurde Wahlbeeinflussung vorgenommen. In einem Zehntel der Wahlbüros war die Bereitstellung von Sichtschutz zur Sicherstellung der geheimen Abstimmung nicht gegeben." Auch wurde kritisiert, dass in ausländischen Wahlbüros viele Unregelmäßigkeiten vorgekommen seien, u.a. waren auch dort Wahlurnen nicht versiegelt oder nur mit einem einfachen Klebeband verschlossen worden.

Ein weiteres Problem stellten die langen Wartezeiten dar, die allerdings von der Wahlbevölkerung mit Bravour und Enthusiasmus gemeistert wurden, ja es herrschte geradezu Festtagsstimmung. Allerdings entsprechen Wartezeiten von 4 bis 6 Stunden – und das waren keine Ausnahmen – nicht dem Standard. Grund dafür waren zu große Einzugsbereiche der Wahllokale, die im Durchschnitt bei 800.000 Wählern lag. Internationaler Standard ist hingegen höchstens 600.000 Wahlberechtigte pro Wahllokal.

Geringere Wahlbeteiligung als suggeriert

Die Wahlbeteiligung wurde von der ISIE gesplittet für eingeschriebene und nicht-eingeschriebene Wähler angegeben (siehe Kasten). Die Einschreibefrist in Wählerlisten war Anfang August nach einer einmaligen Verlängerung ausgelaufen , hatte aber nur zur Registrierung von knapp 55 Prozent der Wahlberechtigten geführt. Um eine höhere Wahlbeteiligung zu stimulieren, und auch aufgrund der Verwirrung um die Registrierung selbst, wurde die Möglichkeit eröffnet, auch nicht eingeschriebene Wahlberechtigte zum Urnengang zuzulassen. Voraussetzung war, dass sie über eine ID-Karte (Personalausweis) verfügten und an ihrem Wohnort zur Wahl gehen. Setzt man jetzt die Anzahl der Wahlberechtigten von 7.569.824 Tunesiern in Relation zu den abgegebenen Stimmen (3.702.627), liegt die effektive Wahlbeteiligung signifikant niedriger, nämlich nur bei 37 Prozent, also auch noch weit entfernt von den von der ISIE suggerierten Wert, ganz zu schweigen von dem zunächst verbreiteten Wert von 90 Prozent.

Verankerung der Ennahdha in der Bevölkerung nicht so groß, wie das Wahlergebnis vermuten lässt

Vor diesem Hintergrund relativiert sich auch der Wahlsieg von Ennahdha und seiner vermeintlichen Verankerung in der Bevölkerung. Der Sitzanteil von 41,47 Prozent in der Verfassungsgebenden Versammlung entspricht 37 Prozent der abgegebenen Stimmen. Setzt man diesen Wert in Relation zu den Wahlberechtigten, errechnet sich ein Wert von knapp über 20 Prozent! Zieht man davon noch einmal die Protestwähler ab, kann man höchsten von einer Verankerung der Ennahdha in der Bevölkerung von 15 Prozent sprechen. Geht man davon aus, dass nach den Wahlen vor den Wahlen ist – hier die in gut einem Jahr anstehenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen nach Verabschiedung der neuen Verfassung –, sollten die Aussichten für die Wahlverlierer nicht so schlecht stehen – vorausgesetzt, sie ziehen die richtigen Schlüsse. Oder umgekehrt ausgedrückt: Die Ennahdha muss sich anstrengen, um ihr Wahlergebnis wiederholen zu können. Das wird um so schwerer werden, als sie dann erstmals an ihren Leistungen gemessen werden wird, da sich der Wahlkampf zur Verfassungsgebenden Versammlung mehr auf der ideologischen Wiese abgespielt hatte. Ennahdha konnte von ihrer – berechtigten – Reputation profitieren, authentisch zu sein, da viele ihrer Mitglieder für ihre Überzeugung unter Ben Ali ins Gefängnis gegangen und keine Form der Kollaboration mit dem Ben Ali-Regime eingegangen waren. Wenn sich auch CPR, Ettakatol und PDP nicht vom Ben Ali-Regime hatten vereinnahmen lassen, hing ihnen doch immer das Menetekel der Kollaboration an. Dieses bekam vor allem die PDP zu spüren, nachdem Parteiführer Chebbi im Januar 2011 kurz vor dem Fall Ben Alis auf einem französischen Radiosender seine Bereitschaft signalisiert hatte, mit der quasi-Staatspartei RCD in eine Regierung der nationalen Einheit einzutreten. Neben einem unzureichendem Wahlkampf – die PDP hatte auf einen frühen Wahltermin im Juni gesetzt, bereits sehr früh einen medienwirksamen Wahlkampf begonnen, dann ihr Pulver aber verschossen und konnte mangels Finanzen in den entscheidenden Wahlkampfwochen im Oktober nicht mehr viel ausrichten – war dies ein wichtiger Grund für ihre Abstrafung durch die Wähler. Das gleiche Schicksal ereilte den zentristischen Parteienzusammenschluss Pôle democtarique moderniste (PDM), die nur 5 Sitze (2,3 Prozent) erhielten. Sie standen unter dem Verdacht, sich aus vielen ehemaligen RCDlern zu rekrutieren.

Für den Wahlsieg der Ennahdha kann daher neben der Authentizität auch der von vielen Tunesiern ersehnte klare Bruch mit der Vergangenheit genannt werden, der glaubwürdig nur den Islamisten zugetraut wurde. Dieses um so mehr, als in der Zeit nach der sog. Revolution von der eher bürgerlichen Übergangsregierung keine wirklichen Umbrüche eingeleitet worden waren, weder bei den Sicherheitskräften, noch im Justizwesen, ganz zu schweigen von den öffentlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten.

Nicht zuletzt hat auch die hohe Anzahl von über 110 registrierten politischen Parteien – von denen sich nur 77 zur Wahl stellten – dazu geführt, dass viele Wähler bei der Ennahdha eine sichere Zuflucht sahen, nicht zuletzt auch wegen des religiösen Bezugs. Und das nicht nur in den südlichen Landesteilen, denn auch in Tunis sind freitags die Moscheen voll von Gläubigen, die nicht nur in Kleinwagen angefahren kommen, sondern auch in Fahrzeugen der gehobenen Mittelklasse sowie in Nobelkarossen.

Ein wichtiger Aspekt war auch, dass die Ennahdha mit Abstand die einzige Partei war, die landesweit, vor allem auch im Süden, vertreten war. Das hat zwar andererseits zu der Frage geführt, woher sie das dafür nötige Geld hatten. Spekulationen, dass arabische Staaten über Geschäftsleute illegal Finanzmittel für Ennahdha ins Land schleusten, wurden eher in den politischen Zirkeln der Hauptstadt angestellt, hatten aber keinerlei Einfluss auf die Wahlentscheidung. Es wäre Sache der ISIE und der Justizbehörden gewesen, diesen Spekulationen nachzugehen. Das ist offensichtlich im Falle von Ennahdha nicht geschehen, im Gegensatz zu der aus dem Nichts aufgetauchten Al-Aridha Al-Chaabia (siehe weiter unten).

Da die Ennahdha als islamistische Partei unter dem Generalverdacht stand und weiterhin steht, die freiheitlichen Bürgerrechte, vor allem auch im Hinblick auf das Personenstandsrecht aus der Zeit unter Staatsgründer Habib Bourghiba, ausser Kraft setzen zu wollen, hatte sie sich im Wahlkampf liberal gegeben und Parteiführer Ghanouchi wurde nicht müde, das sog. türkische Modell der Trennung von Staat und Religion zu propagieren. Auch hat er Bedenken zu zerstreuen versucht, man wolle die Scharia als gesellschaftlichen Referenzrahmen einführen. Im ersten Moment sieht es auch so aus, als dass der überwältigende Wahlsieg diese Strategie belohnt habe. Aufgrund des weiter oben dargestellten Umstands, dass letztlich nur 20 Prozent der wahlberechtigen Bevölkerung Tunesiens für Ennahdha gestimmt hat, muss aber angenommen werden, dass die überwältigende Mehrheit diesen Aussagen keinen Glauben geschenkt hat. Der Lebensentwurf der überwiegenden Mehrheit der Tunesier orientiert sich an westlich-liberalen Werten und jeder Verdacht, diese sollen eingeschränkt werden, führt zur Ablehnung.

Gegen diese Einschätzung spricht auch nicht die Tatsache, dass 42 der 49 in die Verfassungsgebende Versammlung gewählten Frauen, das entspricht einem Anteil von 24 Prozent, von der Ennahdha stammen. Da sich die eingereichten Wahllisten zu jeweils 50 Prozent aus Männern und Frauen zusammensetzen mussten, ist es normal, dass die stärkste Partei auch die meisten Frauen stellt. Von den kleineren Parteien und Listen sind jeweils nie mehr als zwei, höchstens drei, in einigen Fällen vier Vertreter gewählt worden, also konnten sie auch kaum weibliche Delegierte durchbringen. Bemerkenswert bleibt die Feststellung, dass mehr Frauen vertreten sind, als die zweitstärkste politische Kraft, die CPR, an Abgeordneten insgesamt in die Verfassungsgebende Versammlung schicken kann!

Geschmäckle im Umfeld der Annullierung von 6 Wählerlisten der Al-Aridha Al-Chaabia

Mit der Erringung von landesweit 28 Sitzen, davon fünf in der zentraltunesischen Problemregion um die Stadt Sidi Bouzid, wo sich der Funke zur Revolution durch die Selbstverbrennung des Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi entzündet hatte, schaffte eine bisher unbekannte Neupartei den Sprung als drittstärkste politische Kraft in die Verfassungsgebende Versammlung. Ihr Führer, der millionenschwere Medienunternehmer Hechimi Hamidi, der aus Sidi Bouzid stammt und seit Jahrzehnten in London im Exil lebt, entpuppte sich dann bei näherem Hinsehen nicht ganz so unbekannt und stellte sich als schillernde Persönlichkeit heraus. Die Presseberichte über ihn sind teilweise widersprüchlich. Fest steht, dass er eine enge Beziehung zu Ennahdha hatte, aus der er, aus Hamidis Sicht ungerechtfertigt, verstoßen wurde und versucht hat, in ihren Schoß zurückzukehren. Das wurde ihm verwehrt. Auch werden ihm Verbindungen zum Ben Ali-Regime nachgesagt, was ihn den Vorwurf einbrachte, ein rénegat (Überläufer) zu sein. Sein Wahlerfolg wird nicht zuletzt auf recht sonderbare Wahlversprechungen zurückgeführt. Und die Tatsache, dass er über eine Fernsehstation verfügt, die er offensichtlich für seine Zwecke einsetzte. Unter anderem hatte er freien Transport in öffentlichen Verkehrsmitteln versprochen und dass er Frauen ein Gehalt bezahlen will, wenn sie zu Hause am Herd bleiben bzw. dorthin zurück kehren.

Mit der Annullierung von den Stimmen in fünf tunesischen Wahlkreisen und einem ausländischen (Frankreich) lösten sich fast 12 % abgegebener Stimmen für Al-Aridha in Luft auf, das entspricht 9 Sitzen. D ie Annullierungen in Tunesien werden von der ISIE mit Artikel 80 des Wahlgesetzes begründet, wonach keine ausländische private Finanzierung erfolgen darf. Die Streichung der Ergebnisse in Frankreich II erfolgt aufgrund von Artikel 1089, da der Spitzenkandidat dort auf der Liste der gebannten ex-RDCler stand.

Die Annullierung der Al-Aridha-Listen wirft gleich mehrere Fragen auf. Wenn es zutrifft, dass die Partei unzulässig finanziert wurde, müsste das für alle ihre Listen zutreffen, nicht nur für die ausgewählte fünf. In diesem Fall hätten alle Stimmen annulliert werden müssen, 19 Sitze werden aber nicht angetastet. In diesem Zusammenhang wird dann auch gleich die Frage aufgeworfen, ob unzulässige ausländische Finanzierung nicht auch für Ennahdha zutreffen könnte. Was den Al-Aridha Kandidaten in Frankreich anbetrifft, hätte er, da seine RCD-Vergangenheit offensichtlich bekannt war, erst gar nicht als Kandidat zugelassen werden dürfen. Festzuhalten bleibt, dass die Entscheidung der Wahlkommission äußerst umstritten ist und Zweifel an ihrer Unabhängigkeit aufkommen lässt.

Unruhen in Sidi Bouzid Ausdruck eines tiefsitzenden Gefühls der Vernachlässigung ländlicher Regionen und des Nord-Süd Gegensatzes

In Sidi Bouzid, wo Al-Aridha den größten Wahlerfolg erzielte und noch vor der Ennahdha rangierte, war es noch in der Nacht nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses zu Unruhen gekommen. In deren Verlauf wurden Autos abgefackelt, die Gebäude von Lokal- und Justizverwaltung sowie das Büro von Ennahdha in Brand gesteckt, ohne dass nach Berichten sozialer Netzwerke die Polizei eingriff. Lediglich ein Angriff auf das Polizeigebäude wurde mit Tränengas abgewehrt. Die näheren Umstände der Unruhen sollen hier aber nicht weiter beleuchtet werden. An dieser Stelle soll das Augenmerk vielmehr auf die tiefer liegenden Gründe gelenkt werden. Denn die Ausschreitungen sind offensichtlich weniger im Gegensatz Ennahdha - Al-Aridha zu suchen, auch wenn sie der unmittelbare Anlass waren. Auch spielt der Umstand, dass Hamidi aus Sidi Bouzid stammt, eine Rolle und zeigt, wie stark lokale Loyalitäten Wahlentscheidungen bestimmen. Der eigentliche Anlass war aber „das tiefsitzende Gefühl der Vernachlässigung in den verarmten Regionen im Landesinneren, an dem auch die Revolution nichts geändert hat“ , wie Spiegel Autor Mathieu von Rohr schreibt. Seine Analyse zeigt auf, dass eigentlich keine Revolution stattgefunden hat. Die gravierenden Probleme Tunesiens sind zwar in der öffentlichen Wahrnehmung präsent und werden von der Berichterstattung aufgegriffen, deren Lösung wurde aber in den sieben Monaten seit der Vertreibung Zine al Abidine Ben Alis und seiner gierigen Familie nicht einmal ansatzweise in Angriff genommen. Von Rohr weiter: "Die Entscheidung mag juristisch korrekt gewesen sein, aber eine nachträgliche Disqualifizierung einer Partei ist eine schwerwiegende Entscheidung, zumal in einem Land, das zum ersten Mal frei wählt. Und es waren wohl die Ärmsten der Armen in den am meisten zurückgebliebenen Gegenden des Landes, die al-Aridha Chaabia gewählt hatten. Dass ausgerechnet die Stimmen dieser Menschen annulliert wurden, war ein verheerendes Signal. Einmal mehr, so war der Eindruck in Sidi Bouzid und anderswo, beraubte sie der Norden und das Establishment ihres Rechts.

Das Gefühl, betrogen worden zu sein, verband sich mit der Frustration und der Hoffnungslosigkeit, die im Landesinnern herrschen. Während in Tunis Wahlen geplant und über die politische Zukunft nachgedacht wurde, setzte sich in Städten wie Sidi Bouzid, Thala und Kasserine der Eindruck durch, um die Früchte der Revolution beraubt worden zu sein."

Die Schlussfolgerung von ZEIT-Journalist Gero von Randow, "Die Revolution ist (...) nicht beendet, sie hat nur ihre Form gewechselt; was vorher Aufruhr war, ist nun eine junge Demokratie, in der die Zivilgesellschaft ihr Wort mitredet", die er unmittelbar nach Wahl gezogen hatte, greift daher zu kurz. Die Zivilgesellschaft alleine wird die nötigen Anstöße zu tiefgreifenden Veränderungen nicht geben können. Es bleibt zu hoffen, dass die politische Klasse, die sich hauptsächlich aus den Eliten der Küstenregionen rekrutiert, die Implikationen des Weckrufs verstanden hat und entsprechend reagieren wird.

Ausblick: Pläne für die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit

Obwohl sich Ennahdha im Wahlkampf als moderne Partei nach dem Vorbild der türkischen AKP präsentiert hatte, ist sich Parteiführer Rached Gannouchi des tiefsitzenden Misstrauens bewusst, das ihm und seiner Partei entgegengebracht wird. Er hat daher gleich in seiner ersten Pressekonferenz nach der Wahl diesen Umstand thematisiert, um seine Anhänger, vor allem aber Zweifler im In- und Ausland, zu beruhigen: "Es gab viele Menschen, die Angst vor Islamisten gesät haben. Heute versichere ich Ihnen, und ich verspreche Ihnen: Wir zwingen niemanden zu etwas, was er nicht will, und dass wir die bürgerlichen Freiheiten garantieren und respektieren werden."

Allerdings stellen sich viele die Frage, ob Ghannouchi den Rückhalt in seiner Partei hat und nicht nur als liberales Aushängeschild fungiert. Klerikale gehen sogar soweit, ihn als einen Ungläubigen zu bezeichnen. Das hat bereits Wirkung gezeigt in Aussagen wie „Wir müssen bei den Tourismus alkoholfreie Zonen für Gäste aus den Golfstaaten schaffen.“ Auch haben Äußerungen, wonach die französische Sprache eine Pollution sei und man sich auf das Arabische rückbesinnen müsse, für Irritationen gesorgt. Man fragt sich, ob er nicht als nächstes auf innerparteilichen Druck hin von der Forderung nach Trennung von Staat und Religion einen Rückzieher macht bzw. machen muss. Es besteht sowieso die Befürchtung, dass diese Position nur von aufgeklärten Intellektuellen verfolgt wird, die aber nur eine Minderheit darstellen und nicht das Sagen in der Partei haben. Da der politische Islam in langen Zeiträumen denkt und handelt, vor allem nicht in 1-Jahreszeiträumen der Laufzeit einer Verfassungsgebenden Versammlung, ja selbst nicht in 4-Jahreszeiträumen von Legislaturperioden, bleibt der Generalverdacht der langfristig geplanten Einführung der Scharia als gesellschaftlicher Referenzrahmen bestehen.

Hinsichtlich einer Regierungsbildung hat Generalsekretär Hammadi Jébali seinen Anspruch auf den Posten des Premierministers angemeldet und seine Ernennung gilt als sicher. Es haben bereits Gespräche über eine Regierung begonnen, "von der niemand ausgeschlossen ist außer denen, die nicht teilhaben wollen". Auch hat er bereits beruhigende Signale an die in- und ausländische Wirtschaft gesandt. Das Festhalten an dem vor allem auch bei den internationalen Finanzinstitutionen angesehenen Finanzminister der Übergangsregierung, Jaloul Ayed, ist ausgemachte Sache. Es wird davon ausgegangen, dass eventuell nur drei oder vier Schlüsselministerien einen neuen Minister erhalten, während die Mehrzahl der Minister der alten Übergangsregierung, die sich aus den technokratischen Staatssekretären der Ben Ali-Zeit rekrutiert hatten, auf ihre Posten bleiben.

Mit den Mitte-Links Parteien wie CPR und Ettakatol (Sozialdemokraten) kann eine komfortable Mehrheit entstehen, ohne auf extreme islamistische Kräfte wie Attahrir oder Salafisten angewiesen zu sein.

Ettakatol-Chef Mustapha Ben Jafaar hat seinen Anspruch als Übergangspräsident Tunesiens angemeldet. Beobachter wollen aber wissen, dass aufgrund US-amerikanischer Intervention der Premierminister der Übergangsregierung, der 84-jährige Béji Caïd Essebsi, der kürzlich zum Staatsbesuch in den USA weilte und von US-Präsident Barak Obama empfangen worden war, diese prestigeträchtige Position übernehmen soll. Der Präsident besitzt zwar hauptsächlich nur zeremonielle Funktionen, hat aber ein Vetorecht bei der Ernennung von Ministern.

Die konstituierende Sitzung der Verfassungsgebenden Versammlung ist für die erste Novemberhälfte vorgesehen.

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Dr. Holger Dix

Dr. Holger Dix

Leiter des Regionalprogramms Politischer Dialog Subsahara-Afrika, Interimsleiter des Auslandsbüros Südafrika

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