Ausgabe: 3/2018
Mit der allgegenwärtigen Verfügbarkeit und Vernetzung von Informationen zu jeder Zeit an jedem Ort scheint die Welt immer mehr zu einem „globalen Dorf“ zusammenzuschrumpfen. Originalzitate von US-Präsident Donald Trump oder Astronaut Alexander Gerst sind via Twitter für jedermann in Echtzeit verfügbar. Ob in Berlin oder in Böblingen, ob in Paris oder Moulins – der Wohn- bzw. Aufenthaltsort ist für Wissen, Teilhabe und Mitwirkung immer weniger relevant. Klassische Gegensätze zwischen Stadt und Land lösen sich auf. Die Digitalisierung führt zu einer wachsenden Standortunabhängigkeit – sowohl im privaten Leben als auch im beruflichen Alltag. Und dennoch gibt es vielerorts eine bemerkenswerte Kluft zwischen Großstädten und Dörfern. Ganz offenkundig kommt es immer noch auf die Unterschiede zwischen Ballungszentren und ländlichen Räumen an. Mancherorts wird sogar gemutmaßt, dass sich die Schere zwischen Stadt und Land noch weiter öffnen und das 21. Jahrhundert einmal als das „Jahrhundert der Megastädte“ in die Geschichte eingehen könnte.
Wie stellt sich die Situation in den europäischen Kernstaaten Deutschland und Frankreich dar? Vor 55 Jahren unterzeichneten Bundeskanzler Konrad Adenauer und Staatspräsident Charles de Gaulle den Elysée-Vertrag. Damals sicherten sich Deutschland und Frankreich zu, von nun an in allen wichtigen politischen Fragen und auf allen Ebenen eng zusammenzuarbeiten und sich gemeinsam für den Austausch, die Verständigung und gleichwertige Lebensverhältnisse zu engagieren. Bundeskanzlerin Angela Merkel und Staatspräsident Emmanuel Macron planen zurzeit, den Vertrag über die deutsch-französische Zusammenarbeit zu überarbeiten, neu auszurichten und insbesondere die Zusammenarbeit in den Bereichen Wirtschaft, Bildung und Kultur weiter zu vertiefen. Welche Ausgangslagen, welche gemeinsamen Antworten und welche unterschiedlichen Entwicklungen oder Geschwindigkeiten gibt es in Deutschland und in Frankreich in Bezug auf die allgegenwärtige Herausforderung „Stadt und Land“?
Trotz ebenso offenkundiger wie tiefgreifender Unterschiede besteht in Deutschland und Frankreich eine vergleichbar große Bandbreite von dünn besiedelten peripheren Räumen bis hin zu hochverdichteten Metropolen. Sowohl in der föderal strukturierten Bundesrepublik als auch im zentralistisch organisierten Frankreich ziehen nach wie vor viele Menschen in die großen Agglomerationen. Neben beruflichen Perspektiven sind engmaschige Infrastrukturen jeder Art, von günstigen Verkehrsanbindungen über die ärztliche Versorgung bis zu kulturellen Angeboten, zentrale Kriterien bei der Auswahl des Lebensmittelpunktes. In Deutschland wie in Frankreich ist der Wohnraum in großen Städten knapp und teuer. Zugleich klagen manche ländliche Regionen beiderseits des Rheins über demografische Schieflagen sowie Leerstand oder gar Verödung. Keine Frage – eine übermäßige Verstädterung tut „dem Land“ nicht gut. Phänomene wie geschlossene Betriebsstätten, verlassene Geschäfte oder sich entleerende Ortskerne, die zunächst nur in strukturschwachen Gegenden in den Neuen Ländern zu beobachten waren, sind inzwischen auch im Westen Deutschlands sowie in einigen Regionen Frankreichs zu beobachten. Kleine Orte jenseits der Metropolen, fernab der zentralen Verkehrsachsen sowie abseits der touristischen Anziehungspunkte leiden und verkümmern in besonderer Weise.
Es erscheint lohnenswert, beim Thema „Stadt und Land“ einen vergleichenden Blick nach Frankreich zu wagen. Die Ausgangslagen und Herausforderungen sind im Grundsatz ähnlich und übertragbar, werden aber in unserem Nachbarland schon auf Grund der Relation von Einwohnerzahl und Landesfläche deutlicher erkennbar: In Frankreich leben im Durchschnitt nur rund 100 Einwohner pro Quadratkilometer, in Deutschland sind es ca. 230. Auch das Spannungsfeld zwischen der nach wie vor zentralstaatlichen Verwaltung sowie wenigen großen Metropolen auf der einen und einer kulturhistorisch besonders stark ausgeprägten Bedeutung des ländlichen Raumes auf der anderen Seite akzentuiert die Unterschiede zwischen Stadt und Land in Frankreich sehr deutlich.
La France profonde , wie das ländliche Frankreich und seine Lebensart genannt werden, bezaubert. Hier scheint oft noch „die gute alte Zeit“ bewahrt. Wir erinnern uns an Filme wie Jour de fête mit Jacques Tati oder Le Tatoué mit Louis de Funès und Jean Gabin. Wir lassen die stimmungsvollen, bisweilen melancholischen ländlichen Erzählungen von George Sand und anderen französischen Schriftstellern Revue passieren. Wir pfeifen die Melodie von Douce France , in der Charles Trenet das geliebte, glückliche Landleben seiner Kindheit besingt. Ockerfarbene, verwunschene Fassaden, windgebeugte Dächer, holprige, mit Kopfstein gepflasterte Plätze und erhabene Kirchtürme bilden in zahlreichen vollständig und unverändert erhaltenen Ortschaften ein eindrucksvolles Panorama regionaler Baustoffe und historischer Handwerkskunst. Was auf den ersten Blick nach einem unberührten, ja idyllischen Dorfkern mit sympathischer Patina aussieht, birgt aber mitunter auch Kehrseiten, die bei aller Faszination und Wertschätzung in den Blick gerückt werden müssen: In früher von Großfamilien und ihrem Personal bewirtschafteten Anwesen sowie in einst von Trubel und Kinder-lachen erfüllten Gassen leben bisweilen nur noch wenige, häufig ältere Menschen. Nicht selten stehen Wohnungen und Gewerbeflächen leer. Die klassische bäuerliche Landwirtschaft auf von Familien geführten und bewohnten Gehöften, lange Zeit mit großem Stolz verantwortlich für die „Kornkammer Europas“ und bis heute fester Bestandteil der kulturellen Identität Frankreichs, wird vielerorts von einer maschinengerechten Agrarwirtschaft mit Industriebetrieben und immer größeren Anbauflächen abgelöst. Diese Prozesse gehen einher mit Entfremdungen und Perspektivverlusten bei jungen Franzosen.
Doch noch sind viele von ihnen tief in ihren ländlichen Heimatregionen verwurzelt. Noch sind ländliche Räume Sehnsuchtsorte geblieben. Ausdruck findet dies etwa im nicht selten realisierten Wunsch zahlreicher französischer Großstadtbewohner nach einem „Wochenendhaus im Grünen“ – verbunden mit der Bereitschaft, Freitagnachmittage und Sonntagabende auf der Autobahn, nicht selten im Stau, zu verbringen. Als Ausgleich für das hektische Leben im Alltag wird vielfach dörfliche Entschleunigung, Ruhe, ja Abgeschiedenheit gesucht. Auch Ordnung und Überschaubarkeit spielen eine Rolle. Zweifellos bieten ländliche Räume ein großes emotionales Potenzial, um Identität zu stiften, Traditionen zu wahren und Heimat zu bilden. Ihren pied-à-terre , also einen „Fuß auf dem Boden“, nennen viele Franzosen ebenso stolz wie liebevoll ihren Zweitwohnsitz auf dem Land. Damit meinen sie deutlich mehr als nur „Eigentum“, auch wenn das Landhaus oftmals eine Altersvorsorge darstellen oder auch nur die Hoffnung auf einen „Ruhestand im Grünen“ verkörpern mag. Nein, es handelt sich häufig um die Eltern- bzw. Großelternhäuser, verbunden mit entsprechenden Kindheitserinnerungen, also um familiäre Refugien. Auf diese Weise leben, verdeutlichen und bewahren nicht wenige „Städter“ ihre auf Dauer angelegte emotionale Verbundenheit mit und in einer der unzähligen ländlich geprägten Kulturlandschaften Frankreichs.
Viele dieser Beobachtungen treffen in ähnlicher Weise auf Deutschland zu. Auch hier ist die Sehnsucht nach einer „Art von Landleben“ ebenso ungebrochen wie die Absatzzahlen von Magazinen über die Lust am Land, das Urban Gardening oder der Drang auf Wartelisten für Schrebergarten-Parzellen. Ländliche Räume haben aber auch über ihre emotionalen Stärken hinaus große Potenziale und bieten, gerade in Industriestaaten, viele Entwicklungsmöglichkeiten. Die Zukunft Deutschlands und Frankreichs im 21. Jahrhundert hängt entscheidend davon ab, wie die vielseitigen Kraftreserven ländlicher Räume ausgeschöpft und positiv genutzt werden. Wer „das Land“ übergeht, vernachlässigt nicht nur Häuser, Denkmale, Plätze und Landschaften, sondern legt die Axt auch an unsere Identität und gewachsene Kultur, den Zusammenhalt, unsere Sprache, das Vereinsleben, die Traditionspflege und gelebtes Brauchtum. Sowohl für französische régions und départements als auch für deutsche Länder, Landkreise und Bezirke gilt: Wer ländliche Räume fördert, festigt den gesellschaftlichen Zusammenhalt, stärkt die Integration und ermöglicht gleichwertige Lebensverhältnisse. Auch die kommunale Selbstverwaltung wird gesichert: Schließlich gelingt es kleinen Gebietskörperschaften in ländlichen Regionen erwiesenermaßen besonders gut, die „Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft (…) in eigener Verantwortung zu regeln“, wie es Artikel 28 Absatz 2 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vorsieht. „Das Land“ bietet seinen Bewohnern zudem ein hohes Maß an Sicherheit, insbesondere in sozialer Hinsicht. Hier sind soziale Netze in aller Regel engmaschiger als in der Großstadt. „Wir kennen uns“, „wir kümmern uns“, „wir helfen uns“, „wir sind füreinander da“ oder „wir lassen uns nicht im Stich“ – Sätze wie diese fallen nicht selten.
Ländliche Räume bilden die unterschätzten „Kraftzentren unseres Landes“, wie es Julia Klöckner, Bundesministerin für Ernährung und Landwirtschaft, in ihrer Antrittsrede im März 2018 auf den Punkt brachte. Auf diesem Fundament können die Menschen zuversichtlich, selbstbestimmt und achtsam ihre Zukunft gestalten. Die folgenden zwölf grundsätzlichen Thesen mögen hierfür im Lichte der Situation in Deutschland und Frankreich eine Diskussionsgrundlage bieten:
1. Ländliche Räume müssen gefördert und, vor Ort, individuell entwickelt werden – unter (land-)wirtschaftlichen, touristischen und ökologischen Aspekten, unter infrastrukturellen Gesichtspunkten, bei der Bildung, im sozialen und im kulturellen Bereich.
2. Auch wenn es „das Land“ nicht gibt, sondern viele sehr unterschiedliche ländliche Räume, ist für die Herstellung und Wahrung gleichwertiger Lebensverhältnisse eine Grundversorgung unverzichtbar. Dazu gehören neben der Verfügbarkeit von Strom und Trinkwasser und einer tragfähigen Verkehrsanbindung heute in besonderer Weise und selbst in entlegenen Ortschaften eine schnelle Internetverbindung sowie eine zuverlässige Mobilfunkversorgung, ein funktionierender Nah- und Regionalverkehr oder aber ausreichende Ersatzangebote, Infrastrukturen und dezentrale Angebote zur Sicherung von Gesundheit und Pflege, Investition in den Natur- und Denkmalschutz sowie praktikable Fördermittel bzw. -projekte für die Kultur und die Freizeitgestaltung.
3. Ländliche Räume dürfen nicht bevormundet werden. Was wir für die Entwicklungszusammenarbeit längst erkannt haben, gilt mindestens so sehr für die Förderung der ländlichen Regionen – nicht „bemuttern“, sondern Hilfe zur Selbsthilfe leisten, nicht alimentieren, sondern zuhören, wertschätzen und unterstützen.
4. Ländliche Räume brauchen Spielräume und Freiheiten. Bei ihrer Förderung ist darauf zu achten, dass sie finanziell auskömmlich ausgestattet werden, dann aber selbst und möglichst unabhängig entscheiden können. Die Menschen vor Ort wissen auch bei der Mittelverwendung am Besten, worauf es ankommt.
5. Ländliche Räume brauchen Aufmerksamkeit und Wertschätzung, denn diese motiviert das Ehrenamt – sowohl in der Politik, als auch in Vereinen und Initiativen.
6. Menschen suchen in einer globalisierten und flexibilisierten Welt zunehmend nach Heimat, Wurzeln, Geborgenheit, Ursprünglichkeit und Verlässlichkeit – in ländlichen Räumen werden sie besonders oft fündig.
7. Ländliche Räume haben eine besondere Chance, die Verantwortung und geradezu eine Verpflichtung, den einzelnen Menschen mit seiner unveräußerlichen Würde, seinen Sorgen und Hoffnungen in den Blick zu nehmen. Während in urbanen Räumen häufig Politik für Kollektive gemacht wird oder werden muss, kann in den überschaubareren Gemeinschaften der ländlichen Räume der Blick deutlicher und individueller auf den Einzelnen gerichtet werden.
8. Ländliche Räume müssen kreativ sein und für sich nach geeigneten, mitunter ausgefallenen Wegen suchen – vom Multifunktionshaus und gemeinsamen Märkten über den agilen Bürgerbus und die mobile Bücherei bis zu koordinierten Lieferdiensten und neuen Entwicklungen in der Telemedizin. Dabei ist eine raumstrukturelle Differenzierung hilfreich.Welche Schwerpunkte sollen an welchem Ort ausgeprägt, welche Angebote von wem aufrecht erhalten und welche Mittelzentren gemeinsam gebildet werden?
9. Ländliche Räume dürfen nicht selbstreferenziell werden und wirken. Sie müssen sich als Zukunftswerkstätten begreifen, sich in besonderer Weise vernetzen, good practices und Best Practices austauschen sowie, über Grenzen hinweg, von ihren Erfahrungen profitieren.
10. Ländliche Räume dürfen den „Kopf nicht in den Sand stecken“. Ganz im Gegenteil gehen mutige Kommunen im ländlichen Raum vorbildliche Wege: Sie entwerfen bürokratiearme Strukturen, pflegen enge Verbindungen zur Wirtschaft, stemmen gemeinsame Projekte mit Kirchen, Vereinen und Initiativen – und ermutigen damit andere Städte und Gemeinden.
11. Ländliche Räume leben von einer ausgeprägten und unabhängigen Kultur des Ehrenamtes. Bürgerschaftliches Engagement strahlt in ländlichen Regionen besonders deutlich seine eigene Würde aus. Die Kommunalpolitik sollte es entsprechend anerkennen, pflegen, ja hegen und nicht als selbstverständlich hinnehmen. Ohne das bürgerschaftliche Engagement bricht der gesellschaftliche Zusammenhalt zusammen. Umgekehrt liegt im „ländlichen Ehrenamt“ eine vitale Keimzelle der énergie démocratique Deutschlands und Frankreichs.
13. Verantwortliche in ländlichen Räumen sollten, selbst dann, wenn es bisweilen Grund dazu geben mag, nicht lamentieren oder sich in Problembeschreibungen verlieren. Sie sollten zuversichtliche, leidenschaftliche „Ermöglicher“ sein und auf diese Weise gestalten und Probleme lösen.
Kurz gesagt: Ländliche Räume sollten ihre Stärken stärken und ihre Schwächen schwächen. Dass Städte gerne ländliches Leben imitieren, etwa dörfliche Strukturen nachahmen und vitale Nachbarschaften sowie Gemeinschaftsaktivitäten fördern, zeigt, wie attraktiv das „Landleben“ und wie zeitgemäß die „Landlust“ ist. Es gibt also keinen Grund für ländliche Räume, immerfort auf große Städte zu schielen, ihnen nachzueifern oder sogar „Stadt zu spielen“. Aus ihren offenkundigen Schwächen neue Markenzeichen zu machen, wäre tollkühn. Ländliche Regionen würden damit, realistisch betrachtet, zwangsläufig scheitern. Glücklicherweise haben ländliche Räume, ob in Frankreich, Deutschland oder andernorts, aber eine eigene Würde – gepaart mit so vielen individuellen Stärken, dass es sich lohnt, genau diese auszuspielen. Die Renaissance des Dorfes ist möglich – und aus der Nähe betrachtet vielerorts déjà en route .
Dr. Nino Galetti ist Leiter des Auslandsbüros Frankreich der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Philipp Lerch ist Leiter der KommunalAkademie der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Für eine vollständige Version dieses Beitrags inkl. Quellenverweisen wählen Sie bitte das PDF-Format.