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Zohra Bensemra, Reuters

Auslandsinformationen

Globale Herausforderungen global angehen

Warum wir die regel- und wertebasierte internationale Zusammenarbeit weiter brauchen

Wir brauchen weiterhin eine globale internationale Zusammenarbeit, weil globale Herausforderungen und Probleme weder national noch regional zu lösen sind. Zwar müssen auch auf lokaler oder nationaler Ebene Themen wie Sicherheit, Finanzarchitektur, freier Handel, Gesundheit oder Migration bearbeitet und im Falle des Klimawandels maßgeblich umgesetzt werden. Dennoch können umfassende Lösungen nur in internationaler Zusammenarbeit geschaffen werden, die allgemein akzeptierte Verfahren erarbeitet, z. B. um Frieden und Sicherheit zu garantieren oder, wo erforderlich, zu fördern.

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Erst kam die Finanzkrise 2008, die unser Finanzsystem an den Rand des Zusammenbruchs brachte. Nur durch vereinte Anstrengungen und mit Steuermilliarden konnten die Banken stabilisiert werden. 2015 führten dann die Kriege und Konflikte im Nahen und Mittleren Osten, in Nord- und Subsahara-Afrika zur großen Flüchtlingswelle. Unsere Grenzen und unsere Aufnahmebereitschaft sahen sich einem erheblichen Stresstest ausgesetzt. Die repräsentative Demokratie mit den politischen Parteien der Mitte steht in Europa bis heute stark unter Druck. Parallel wuchs die Gefahr für den freien Welthandel und die Welthandelsorganisation (WTO) durch protektionistische Maßnahmen wichtiger Mitgliedsländer, allen voran der USA und Chinas. Das gefährdet besonders unseren auf Export und Handel beruhenden Wohlstand. Und schließlich wurde immer deutlicher, dass der Klimawandel reale Auswirkungen auf unser Klima in Deutschland und Europa mit Trockenheit und Unwettern hat. Trotz umfangreicher Maßnahmenkataloge verfehlen sowohl Deutschland als auch die EU ihre zugesagten Klimaziele. Und nun muss diesen Herausforderungen die globale COVID-19-Pandemie des Jahres 2020 (und darüber hinaus?) hinzugefügt werden.

Was ist all diesen Themen gemein? Sie stellen Probleme dar, die unser Gesellschaftsmodell mit Freiheit, Sicherheit und Wohlstand jetzt und für die Zukunft gefährden. Keines dieser Probleme können wir allein in Deutschland oder in der Europäischen Union lösen. Wir brauchen internationale Zusammenarbeit mit anderen Staaten. Nur eine Gemeinschaft von Staaten kann, auf der Basis von freiwillig akzeptierten Regeln, nachhaltige Lösungen erarbeiten und umsetzen.

Gleichzeitig stellen wir fest, dass vermehrt politische Kräfte und Regierungschefs in allen Teilen der Welt teilweise unter dem Jubel der Bevölkerung nationale Alleingänge proklamieren. Donald Trumps „America first“ trägt diesen Anspruch schon im Titel, aber auch Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro hat das Abkoppeln von der internationalen Zusammenarbeit in der Coronakrise und zuvor beim Klima- und Naturschutz als Ziel ausgerufen, um die nationale Souveränität zu wahren oder, wie in der britischen Brexit-Kampagne bezeichnet, „to take back control“. Von gemeinsamen Regeln wollen sie nur etwas wissen, wenn es ihnen zum Vorteil gereicht. Auch in Deutschland und der EU haben Parteien Erfolg, die einfache Lösungen anbieten. Sie verbreiten den Eindruck, man könne diese Probleme entweder alleine lösen (Migration, Finanzkrise, Handel) oder schlicht ignorieren (Klimawandel oder nun auch COVID-19).

Vor diesem Hintergrund reden wir in Politik, Medien und Thinktanks in letzter Zeit viel über den Zustand des Multilateralismus. Allerdings wissen laut einer Meinungsumfrage der Körber-Stiftung von 2019 zwei Drittel der Befragten nicht, was der Begriff bedeutet. Wir haben dabei eine Form der internationalen Zusammenarbeit vor Augen, bei der sich Staaten freiwillig auf der Basis von Vereinbarungen einbringen, die Rechte und Pflichten für alle Beteiligten erzeugen. Eine solche internationale Zusammenarbeit unterstützen in der Umfrage der Körber-Stiftung immerhin 57 Prozent der Befragten.

 

Für jedes Problem die richtige politische Ebene

Diese globale internationale Zusammenarbeit wird gebraucht, weil die Herausforderungen und Probleme weder national noch regional zu lösen sind. Zwar müssen auch auf lokaler oder nationaler Ebene Themen wie Sicherheit, Finanzarchitektur, freier Handel, Gesundheit oder Migration bearbeitet und im Falle des Klimawandels maßgeblich umgesetzt werden. Dennoch können umfassende Lösungen nur in internationaler Zusammenarbeit gefunden werden, die allgemein akzeptierte Verfahren erarbeitet, z. B. um Frieden und Sicherheit zu garantieren oder, wo erforderlich, zu fördern. Foren wie der VN-Sicherheitsrat, der Internationale Währungsfonds (IWF), die WTO, die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die Internationale Organisation für Migration (IOM) sind teilweise bereits vor Jahrzehnten mit diesem Ziel von den Staaten begründet worden und auch das internationale Übereinkommen von Paris ist 2015 so entstanden.

Die Konflikte im Nahen Osten wie z. B. in Syrien, dem Irak, dem Jemen oder in Libyen einzuhegen erfordert die Einwirkung auf die (manchmal unübersichtlichen) Konfliktparteien, aber auch die Zusammenarbeit mit anderen Staaten, die teilweise großen Einfluss auf die Konflikte haben wie Iran und Saudi-Arabien oder Russland und die Türkei. Die USA und Israel verfügen ebenfalls über direkten Einfluss in der gesamten Region, während sich China noch im Hintergrund gehalten hat. Das einzige aktuell zur Verfügung stehende Forum mit verbindlichem Charakter sind die 1945 gegründeten Vereinten Nationen. In diesem Rahmen können tragfähige Lösungen für Frieden und Sicherheit mit direkten Auswirkungen auf uns in Deutschland gefunden werden. Dass dies alles andere als einfach ist, ist unter anderem der Verfolgung der Eigeninteressen wesentlicher Akteure – etwa Russland, Iran, die Türkei und auch die USA – geschuldet. Dafür sind jedoch nicht die Vereinten Nationen die Ursache, die wegen der Freiwilligkeit auf den politischen Willen der Mitgliedstaaten angewiesen sind. Hinzu kommt die Blockademöglichkeit für bindende Beschlüsse des Sicherheitsrats durch ein Veto einer der fünf Mächte USA, China, Russland, Großbritannien und Frankreich, wovon gerade beim Nahen Osten durch Russland reichlich Gebrauch gemacht worden ist. Deutschland kann für solche Lösungen im Rahmen der VN (2019/20 sogar im Sicherheitsrat), der EU und der NATO werben. Durch die Übernahme von mehr eigener Verantwortung und klarer Formulierung eigener Interessen kann Deutschland seiner Stimme ein größeres Gewicht verleihen. Am Ende braucht Deutschland diese multilateralen Formate, um Fortschritte im Interesse der von den Konflikten betroffenen Menschen und im eigenen Interesse zu erreichen.

Deutschland braucht multilaterale Formate, um Fortschritte im Interesse der von Konflikten betroffenen Menschen zu erreichen.

Das gilt auch für den Klimawandel: In Ländern und Kommunen muss über die Anpassung an das sich verändernde Klima, also z. B. zunehmende Trockenheit im Sommer oder Unwetter zu allen Jahreszeiten, geredet und entsprechend gehandelt werden. Da können Bund und EU unterstützen und koordinieren. Die großen Maßnahmen zur dringend erforderlichen Senkung der Treibhausgasemissionen und die erforderliche Anpassung der Wirtschaft können nur auf multinationaler Ebene beschlossen werden. Im Pariser Klimaabkommen von 2015 sind beispielsweise nationale Aktionspläne zur Senkung der Emissionen festgelegt und die Verhinderung, Minimierung und ggf. der Ausgleich von Schäden vereinbart worden. Dies nicht zuletzt, um Nachteile für die deutsche Wirtschaft im europäischen und globalen Wettbewerb zu vermeiden, aber vor allem um die Reduktion der weltweiten Treibhausgase zu erreichen. Daher sind im Rahmen der Vereinten Nationen die Nachhaltigkeitsziele bis 2030 beschlossen worden. Diese verpflichten alle Mitgliedsländer als Agenda 2030 zu nachhaltiger Politik. So sind wesentliche Prinzipien einer wirtschaftlich, ökologisch und sozial nachhaltigen Sozialen Marktwirtschaft von der Staatengemeinschaft anerkannt worden.

 

Internationale Zusammenarbeit in unserem Interesse – Multilateralismus ist kein Selbstzweck

Für diese notwendige internationale Zusammenarbeit sind Zusammenschlüsse wie die VN oder die WTO zentrale Foren des Dialogs über unterschiedliche Interessen der Mitgliedstaaten. Sie sind auch die Orte zur Setzung gemeinsamer Regeln sowie zu deren Durchsetzung. Sie sollen dazu beitragen, globale öffentliche Gemeinschaftsgüter wie Frieden und Sicherheit, eine saubere und intakte Umwelt oder den Schutz des kulturellen Erbes bereitzustellen. Der Dialog über diese Themen kann im Ergebnis ein „globales Gemeinwohl“ fördern. Die Gefahren liegen im unterschiedlichen Verständnis solcher Begriffe. Daher ist das Subsidiaritätsprinzip, also die Zuordnung der richtigen Verantwortungsebene, ausgehend von dem Einzelnen über die Familie, die Gemeinde bis zum Nationalstaat der wirksamste Schutz vor Fehlentwicklungen und eine Garantie für Effizienz. Eine alles regelnde Weltregierung würde diesem Anspruch nicht gerecht werden.

Multilaterale Zusammenarbeit ist also kein Selbstzweck, sondern dient der Lösung bestimmter Probleme, die anders nicht gelöst werden können. Mandat, Ziele und Umsetzung müssen aktuellen Entwicklungen (wie der Digitalisierung oder der wachsenden Bedeutung künstlicher Intelligenz) angepasst werden. Ihre Aufgaben sollten genau auf diese Probleme ausgerichtet sein und ihre Organisation immer wieder kritisch hinterfragt werden. Dann kann auch der Nutzen dieser Zusammenarbeit den Bürgern verdeutlicht werden. Das ist vor allem nötig, um Legitimität bei den Mitgliedstaaten und ihren Bürgern zu erhalten und damit auch funktionsfähig zu sein.

Gleichzeitig hängen die multilateralen Organisationen vom politischen Willen ihrer Mitglieder ab, was gerade in diesen Tagen bei der WTO oder der WHO mit der Auseinandersetzung zwischen den USA und China besonders gut zu beobachten, aber bei Weitem kein neues Phänomen ist. Vom politischen Willen der Mitglieder, also der Staaten, hängen die Funktions- und Entscheidungsfähigkeit ab, aber durchaus auch die politischen Ziele solcher multinationaler Zusammenarbeit. Hier sind für uns die Werte wie Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und soziale Entwicklung der Maßstab. Danach sollten wir beurteilen, ob internationale Zusammenarbeit erstrebens- und unterstützenswert ist.

Eigene Werte und Interessen sind Richtschnur für internationale Zusammenarbeit.

Die Zusammenarbeit von Staaten zur Schaffung gemeinsamer Regeln gibt es schon seit dem 19. Jahrhundert (z. B. 1834 Deutscher Zollverein, 1874 Allgemeiner Postverein, 1919 Völkerbund). Wenn sich Staaten zur gemeinsamen Regelung einer bestimmten Frage mit unserem Wertekanon kollidierenden Zielen zusammenschließen, so wie das die europäischen Mächte zur Aufteilung Afrikas untereinander bei der Berliner Konferenz 1884/85 taten, dann ist das zwar multilateral, aber aus heutiger Sicht abzulehnen. Auch heute ist für uns eine multilaterale Zusammenarbeit wie die Shanghai Cooperation Organisation (SCO) unter Führung der autoritären Staaten China und Russland – trotz des 2017 erfolgten Beitritts Indiens – anders zu bewerten als die NATO mit klaren demokratischen Werten und Zielen, selbst wenn die aktuelle Politik des NATO-Mitglieds Türkei gerade in dieser Hinsicht Fragen aufwirft.

Eigene Werte und Interessen sind Richtschnur für internationale Zusammenarbeit. Dennoch gilt ebenso: Eine unabdingbare Voraussetzung für internationale Zusammenarbeit ist die Bereitschaft zum Kompromiss – denn nicht nur Menschen, sondern auch Staaten haben unterschiedliche Interessen. Obwohl alle Menschen und Staaten in Frieden und Sicherheit leben wollen, führen die unterschiedlichen Interessen doch immer wieder zu gewaltsamen Konflikten und Kriegen. Obwohl sicher die allermeisten Staaten ein Interesse an der Eindämmung des Klimawandels haben, gibt es doch für jeden Staat unterschiedliche Bedrohungen durch eben diesen Wandel, unterschiedliche Mittel, ihm entgegenzutreten, und eine jeweils unterschiedliche Verantwortung für die Ursachen durch den CO2-Ausstoß. Beispielsweise sind Küstenstaaten vom ansteigenden Meeresspiegel ebenso wie Staaten mit von der Austrocknung bedrohten landwirtschaft-lichen Flächen stärker bedroht als Binnenstaaten in gemäßigten Klimazonen. Industrialisierte Staaten verfügen über mehr Ressourcen und Potenzial, CO2-Reduktionen durchzusetzen als Entwicklungsländer, sehen aber mehr Risiken, den erreichten Entwicklungsstand zu verlieren. Obwohl das Coronavirus überall das gleiche ist, haben die Regierungen unterschiedliche Maßnahmen ergriffen. Das ist nun sogar Gegenstand geopolitischer Auseinandersetzungen geworden.

Somit kann niemand erwarten, in internationalen Foren und Verhandlungen nur seine Positionen durchzusetzen. Kompromisse in demokratisch aufgebauten Foren wie den Vereinten Nationen (außer dem Sicherheitsrat mit seinem Vetorecht für fünf Staaten) müssen diskutiert, ausgehandelt und schließlich vereinbart werden. Ideal wären mehr Mehrheitsentscheidungen, um zu schnelleren und klareren Beschlüssen zu kommen. Doch zeigt sich schon in der Europäischen Union – etwa bei der Verteilung von Asylbewerbern oder beim Dubliner Übereinkommen –, dass diese schnell zu einem Verlust an Legitimität bei Politikern und Gesellschaften führen und damit an Wirksamkeit und Verbindlichkeit verlieren. Hier sollte durch den weiteren Aufbau von Vertrauen und Verlässlichkeit mehr Spielraum erarbeitet werden. Das setzt jedoch insbesondere bei den demokratischen Ländern das Bestehen eines Grundkonsenses in der breiten Bevölkerung voraus, dass internationale Zusammenarbeit mit den unumgänglichen Kompromissen im eigenen Interesse liegt. Dafür müssen defizitäre Strukturen und Verfahren der internationalen Zusammenarbeit – Vetorechte, transparentere Wahlsysteme in Gremien und fehlende Sanktionsmechanismen – bei Verstößen offen angesprochen und muss an deren Behebung gearbeitet werden. Eine kritiklose Überhöhung multilateraler Organisationen dient nicht deren Legitimität und schadet somit dem Anliegen, durch Zusammenarbeit globale Probleme zu lösen.

In diesem Sinne ist eine „Allianz der Multilateralisten“, wie sie Außenminister Maas vor allem mit Frankreich propagiert, sicher gut gemeint. Allerdings ersetzt das Sammeln von Freunden, die im Übrigen durchaus unterschiedliche Interessen verfolgen, noch nicht die Vorlage notwendiger Reformen, die effektiv und mehrheitsfähig sein können. Wir brauchen Partner und Freunde, aber vor allem müssen wir gemeinsame Interessen identifizieren, um Reformen auf den Weg zu bringen.

Zum Einfluss gehört auch die Besetzung wichtiger Positionen mit Landsleuten, die deutsche und europäische Grundhaltungen einbringen. Gerade im Vergleich mit den großen Mächten USA oder China, aber selbst innerhalb Europas, ist Deutschland hier bisher recht zurückhaltend, sein Gewicht in diesem Sinne zu nutzen.

 

Auf der Basis demokratischer Werte

Demokratische (liberale) Werte wie die grundsätzliche Gleichrangigkeit der Mitglieder oder Mehrheitsentscheidungen und Rechtsstaatlichkeit sind leitende Prinzipien der internationalen Zusammenarbeit in multilateralen Organisati-onen wie den VN. Dort sind auch die wesentlichen Grund- und Menschenrechte sowie deren universaler Geltungsanspruch (seit 1948) verankert und von allen Mitgliedstaaten akzeptiert. Das führt zwar nicht zur unumschränkten Anwendung der Menschenrechte in allen Staaten, ist aber doch gerade auch für Personen und Gruppen, die sich für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einsetzen, eine unverzichtbare Grundlage und Rückendeckung. Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen hingegen wird immer wieder von Mitgliedern wie beispielsweise China, Iran, Saudi-Arabien, Kuba oder Venezuela missbraucht, um eben andere Werte mit Blick auf die universellen Menschenrechte zu vertreten. Diese Entwicklung droht auch in anderen multilateralen Systemen. Solche Instrumente multilateraler Zusammen-arbeit dürfen nicht den Gegnern der Demokratie überlassen werden. Um dies zu erreichen, ist die gezielte und enge Zusammenarbeit mit demokratischen Ländern in den VN und anderen Institutionen von enormer Bedeutung. Deutschland unternimmt verstärkte Anstrengungen, mit Ländern wie Kanada, Australien, Japan, Südkorea oder einigen Staaten Lateinamerikas und Afrikas zusammenzuarbeiten. Allerdings ist auch bei diesen nicht zu übersehen, dass unsere Interessen nicht in allen Themen übereinstimmen. Umso wichtiger ist die Zusammenarbeit bei den grundlegenden Themen der Demokratie und der Freiheit, die über freien Handel, Rechtsstaatlichkeit und Internet Governance auch immer eine direkte Verbindung mit unserem Wohlstand haben.

 

Wissenschaftliche Beratung für politische Entscheidungen

Für die politische Entscheidungsfindung ist die Expertise von Wissenschaft und Forschung eine wichtige Grundlage. Diese Expertise sollte weiterhin und möglicherweise noch verstärkt über Beratungsgremien wie dem Weltklimarat (IPCC) eingeholt werden. Dieser wurde zwischen den Mitgliedstaaten und den Vereinten Nationen vereinbart und bezieht Wissenschaftler und Experten ebenso wie Regierungsvertreter ein, um alle relevanten Informationen zum Klimawandel zusammenzustellen. Damit genießt er eine hohe Anerkennung und übt somit Einfluss auf die Politik aus, nicht zuletzt durch Aufgreifen seiner Daten in der Zivilgesellschaft. Wissenschaftliche Beratung ist für politische Entscheidungen enorm wichtig, kann diese aber nicht ersetzen. Das zeigt uns gerade die Bewältigung der COVID-19-Krise, in der Wissenschaftlern eine herausgehobene und prominente Rolle in vielen Ländern zugewachsen ist. Die politischen Entscheidungsträger müssen idealerweise in demokratischen Verfahren die unterschiedlichen Interessen und manchmal auch Sichtweisen in den jeweiligen Gesellschaften sowie zwischen diesen ausbalancieren und integrieren.

Einzelinteressen oder -meinungen absolut zu stellen führt in die Diktatur und kann von Demokraten nur abgelehnt werden. Dies gilt auch dann, wenn diese Meinungen von einer Vielzahl von Einzelpersonen unterstützt werden, sie aber keine im demokratischen Prozess ausreichenden Mehrheiten erreichen. Dies ist gerade beim Klimathema und bei Gruppen wie Extinction Rebellion zu beobachten, die für sich quasi ein Notstandsrecht beanspruchen: Um die Welt vor dem Untergang zu retten, werden teilweise sogar Gewaltakte gerechtfertigt. Um die demokratische Beteiligung jenseits der Regierungen sicherzustellen, sind Foren unter Beteiligung von Parlamentariern und Vertretern der Zivilgesellschaft zu begrüßen. Auch helfen internationale Gerichtshöfe, berechtigten Interessen Gehör und Geltung zu verschaffen.

 

Christdemokratie, internationale Zusammenarbeit und Multilateralismus

Geprägt vom Subsidiaritätsprinzip und vom Misstrauen gegenüber großen, zentralistischen Bürokratien, ist die Christdemokratie traditionell eher zurückhaltend in der Propagierung multilateraler Organisationen gewesen. Gleichzeitig haben wir in den letzten Jahren erlebt, wie globale oder zumindest kontinentale Herausforderungen zunehmend die gesellschaftliche und politische Wirklichkeit Deutschlands und der Europäischen Union bestimmen und internationale Zusammenarbeit dringend gebraucht wird. Es ist davon auszugehen, dass sich diese Entwicklung grundsätzlich auch nach der Bewältigung der COVID-19-Pandemie, die ja selbst ein solches Beispiel ist, fortsetzen wird. Daher sollten Christdemokraten als wichtigste politische Kraft in Deutschland und relevante Kraft in der EU sich noch aktiver mit der internationalen und multilateralen Zusammenarbeit als unumgängliches Instrument zur Bewältigung der jetzigen und zukünftigen globalen Herausforderungen auseinandersetzen und das eigene Profil weiter ausbauen.

Vor dem Hintergrund des selbstbewussten Auftretens autokratischer Länder ist ein stärkeres Engagement Deutschlands von entscheidender Bedeutung.

Gerade aus christdemokratischer Perspektive ist die Berücksichtigung kleinerer Staaten eine Notwendigkeit für die regelbasierte internationale Zusammenarbeit. Eine Weltordnung, in der demokratische Werte, Sicherheit, Wohlstand oder Nachhaltigkeit nur von den Vorstellungen eines Staates oder weniger mächtiger Staaten abhängen, birgt viele Risiken und Nachteile – auch für Deutschland. Deshalb mag es akademisch reizvoll sein, über die Vorteile einer multipolaren gegenüber einer unipolaren Weltordnung zu sinnieren. Für das Deutschland des Grundgesetzes und der sozialen Marktwirtschaft ist es wesentlich entscheidender, welche Wertvorstellungen die Weltordnung prägen – die freiheitlichen und offenen des bisherigen Westens unter Führung der USA oder autoritäre und nationalistische, wie sie von China, Russland und anderen vertreten werden.

Daher müssen diese Werte in flexiblen Bündnissen täglich erneut verteidigt werden. Insbesondere vor dem Hintergrund des zunehmend selbstbewussten Auftretens autokratischer Länder in internationalen Foren und des Rückzugs des langjährigen Garanten USA ist aus christdemokratischer Sicht ein stärkeres Engagement Deutschlands und der EU in internationalen Organisationen von entscheidender Bedeutung für die künftige globale Ordnung. Ein Rückzug aus internationalen Foren (wie ihn in vereinzelten Fällen derzeit die USA praktizieren sowie bei der WHO androhten und am 7. Juli 2020 vollzogen) führt nur zu einer Stärkung der Stimme von Akteuren wie China, Russland u. a. Diese möchten gezielt die ursprünglich von der westlichen Wertegemeinschaft inspirierten Leitprinzipien in ihrem Sinne umdeuten. Eine passive Haltung wird letztlich dazu führen, dass internationale Regeln ohnehin aufgestellt werden – nur eben ohne uns. Die Definitions- und Deutungshoheit über die Formulierung globaler Standards ist nicht nur im Bereich der Menschenrechte vital, sondern auch bei globalen Regeln für Daten, digitale und physische Infrastruktur und technische Normen. Hier eine passive Haltung einzunehmen, hätte fatale Folgen für unsere Wettbewerbsfähigkeit und damit den Wohlstand unserer und kommender Generationen.

In diesem Sinne sind die Beispiele der Weltbank und des IWF zu nennen, wo sich die USA und die Europäer zu lange Reformen im Sinne einer stärkeren Berücksichtigung aufstrebender Mächte, v. a. Chinas, verweigert haben. Dass dann China nicht nur eine eigene Entwicklungsbank für Asien (Asian Infrastructure Investment Bank, AIIB) gründet, sondern auch mit den BRICS-Staaten eine weitere (New Development Bank, NDB) ins Leben ruft, darf nicht verwundern. Es ist sicher richtig, dass sich Deutschland und andere europäische Länder aktiv in die AIIB einbringen, aber eine Reform der etablierten Institutionen Weltbank und IWF mit mehr Einfluss beispielsweise für China, Indien oder Brasilien wäre für die Stärkung der regelbasierten internationalen Zusammenarbeit besser gewesen als der Aufbau neuer paralleler Strukturen.

 

Was ist für die Christdemokratie zu tun?

Für die notwendigen Debatten der kommenden Monate sollen hier einige Gedanken des vorliegenden Textes in sieben Thesen zusammengefasst werden.

Sieben Thesen für Christdemokratische Politik zur internationalen Zusammenarbeit:

  1. Jede demokratische Gesellschaft braucht eine mehrheitliche Überzeugung der Notwendigkeit internationaler Zusammenarbeit. Deshalb muss in die Gesellschaften hinein für internationale Zusammenarbeit und ihre Wirkungsweise mit unumgänglichen Kompromissen geworben und überzeugt werden. Die Debatte über Internationale Zusammenarbeit muss in den politischen Parteien dringend ausgeweitet werden.
  2. Zu wirkungsvoller internationaler Zusammenarbeit gehört, kleinere Länder und deren Bedeutung zu berücksichtigen, wenn es um Handel u. ä. geht, wo wir „groß“ sind. In vielen Bereichen sind wir selbst „klein“ und können nur durch die EU (mit ihren kleineren Mitgliedstaaten) Einfluss gewinnen.
  3. In der Europäischen Union sollten deutsche und europäische Christdemokraten die Prinzipien der internationalen Zusammenarbeit vorbildhaft anwenden, um zu gemeinsamen europäischen Haltungen zu gelangen, die der Durchsetzung deutscher und europäischer Interessen und Werte in der Welt dienen. Sie sollten untereinander die Überzeugung pflegen, dass gemeinsame Entscheidungen auch dann richtig sein können, wenn sie nicht zu 100 Prozent den eigenen Vorstellungen entsprechen.
  4. Untereinander und in der Öffentlichkeit sollte der Versuchung widerstanden werden, unbeliebte Entscheidungen der EU oder den multilateralen Organisationen wie den Vereinten Nationen zuzuordnen, wenn diese doch von Einzelstaaten gemeinsam getroffen wurden.
  5. Durch mehr deutsche und europäische Verantwortungsübernahme bei internationalen Krisen und in internationalen Organisationen sollten der eigene Einfluss und die Gestaltungsmöglichkeiten gesteigert werden. Dazu gehört auch eine vorausschauende deutsche und europäische Personalpolitik.
  6. Notwendiger Reformbedarf vor allem zur Steigerung der Effektivität der multilateralen Organisationen ist zu identifizieren und der eigene Einfluss und die eigenen Ressourcen einzusetzen, um diese Reformen voranzutreiben. Einfluss und Ressourcen sollten auf realistische Ziele ausgerichtet sein. Eine permanente deutsche Mitgliedschaft im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen scheint nach rund zwanzigjährigen vergeblichen Bemühungen nicht dazuzugehören.
  7. Immer wieder ist zu hinterfragen, ob die Aufgaben auf der richtigen Ebene – Deutschland, Europa, global – angegangen werden. Es muss politisch diskutiert und definiert werden, was globale Gemeinschaftsgüter sind, die multilateral bereitgestellt werden sollen. Wo der politische Auftrag und die tatsächliche Ausführung auseinanderklaffen, sollten entsprechende Reformen angestrebt und dafür einflussreiche Partner gewonnen werden.

 

Es ist zu wünschen, dass die Union sich dieser Themen und Herausforderungen in der kommenden Phase mit der Weiterentwicklung des Grundsatzprogramms, bei der Wahl einer neuen Führung und in der politischen Aufstellung für die Bundestagswahlen 2021 mit großer Aufmerksamkeit annimmt.

 


 

Dr. Peter Fischer-Bollin ist Leiter der Hauptabteilung Analyse und Beratung der Konrad-Adenauer-Stiftung.

 


 

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