Ausgabe: 1/2025
Das Südchinesische Meer gilt seit vielen Jahren als geopolitischer Hotspot. In den vergangenen Monaten hat sich die Lage weiter zugespitzt. Immer wieder kam es zu gefährlichen Zusammenstößen insbesondere zwischen chinesischen und philippinischen Booten. Bei diesen Zwischenfällen drängen chinesische Schiffe philippinische Boote ab, es kommt teilweise zu heftigen Kollisionen und zum Einsatz von Wasserwerfern oder Lasern gegen philippinische Schiffsbesatzungen und Fischer. Der Konflikt droht zu eskalieren.
Seit vielen Jahrzehnten stehen sich im Südchinesischen Meer mehrere Staaten mit konkurrierenden Gebietsansprüchen gegenüber. In diesem Zusammenhang kam es bereits zweimal (1974, 1988) zu militärischen Auseinandersetzungen zwischen China und Vietnam. Etwa seit den 1970er-Jahren haben die Anrainerstaaten des Südchinesischen Meeres – China, die Philippinen, Vietnam, Malaysia, Taiwan und Brunei – damit begonnen, bestimmte Inseln, Riffe, Atolle und Seegebiete für sich zu beanspruchen. Das Ergebnis sind zahlreiche überlappende Territorialansprüche – insbesondere um die vier großen Inselgruppen Spratly, Paracel, Pratas und Scarborough. Mit Ausnahme von Brunei haben alle Anrainerstaaten bereits Gebäude auf Riffen oder Atollen errichtet und diese zum Teil auch militärisch ausgebaut.
Das Südchinesische Meer ist für die meisten anliegenden Länder wichtige Lebensader. Es ist reich an Fischbeständen und zentral für Ernährungssicherheit und Handel in der Region. Unter dem Meeresboden werden zudem große Vorkommen an Erdöl und -gas vermutet. Neben der Bedeutung für die regionale Stabilität ist das Südchinesische Meer auch international von hoher Relevanz. Da es sich um eine wichtige maritime Handelsroute handelt, können Entwicklungen im Südchinesischen Meer weltweit wirtschaftliche Auswirkungen haben. Die USA, wichtige Schutzmacht von unter anderem Japan, Südkorea, den Philippinen und Taiwan, haben Peking gegenüber immer wieder betont, dass sie ihre Beistandsverpflichtungen ernst nehmen. Für China geht es insbesondere um die militärstrategische Bedeutung und den Zugang zu den Seewegen des Pazifiks, die mit der unangefochtenen Vorherrschaft im Südchinesischen Meer einhergehen.
Chinas aggressives Vorgehen
Die Volksrepublik beansprucht – unter Bezug auf die Geschichte – basierend auf der sogenannten Ten-dash line (vormals „Nine-dash line“) mehr als 90 Prozent des Südchinesischen Meeres für sich. Beim Ausbau künstlicher Inseln und militärischer Außenposten geht Peking seit vielen Jahren mit beispielloser Geschwindigkeit und Entschlossenheit vor. Immer wieder dringt es mit seiner Seemiliz, mit der Küstenwache oder der Marine tief in die Gewässer der anderen Anrainerstaaten vor, drangsaliert dort insbesondere Fischer und Boote der Küstenwache und hält Gebiete besetzt. Dieses aggressive Vorgehen ist als Grauzonentaktik bekannt. Es handelt sich dabei um gewaltsame Aktionen, die aber unterhalb der Schwelle von Krieg liegen und sich somit in einer sogenannten Grauzone bewegen. Die Anrainerstaaten müssen in ihrer eigenen, bis 200 Seemeilen (370,4 Kilometer) jenseits der Küstenlinie reichenden Ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ) stets mit Störungen durch Chinesen und der Verletzung ihrer Souveränität rechnen – unter anderem mit hohen Verlusten für die eigene wirtschaftliche Entwicklung, da Fischfang in den traditionellen Gebieten oft durch Chinesen unterbunden wird.
Abb. 1: Ausschließliche Wirtschaftszonen und Gebietsansprüche im Südchinesischen Meer
Völkerrechtlich ist die Situation eindeutig. Laut Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (SRÜ) verletzt die Volksrepublik China durch ihr Vorgehen immer wieder die Souveränitätsrechte anderer Anrainerstaaten. In einem richtungsweisenden Urteil des internationalen Ständigen Schiedshofs in Den Haag 2016 wurde den Philippinen Recht gegeben und Chinas historische Ansprüche wurden zurückgewiesen. Bis heute erkennt Peking das Urteil nicht an.
Mit Blick auf das aggressive und illegale Vorgehen der Volksrepublik stellt sich die Frage, wie sich kleinere Länder gegen den übermächtigen Gegenspieler zur Wehr setzen können. Welche Ansätze und Strategien verfolgen Anrainerstaaten wie die Philippinen und Vietnam, um ihre Souveränität gegen die stärkste Seestreitkraft der Welt zu verteidigen, und wie erfolgreich sind sie dabei?
Philippinen und China auf Kollisionskurs – die Rolle der Schutzmacht USA
Zwar kam es 2024 fast wöchentlich zu Auseinandersetzungen zwischen philippinischen und chinesischen Schiffen, aber der Zwischenfall am 17. Juni 2024 war sicherlich der heftigste. Das philippinische Militär wurde von der chinesischen Küstenwache aggressiv gestoppt, als es sich auf dem Weg zu einer Routineversorgungsmission am Second Thomas Shoal befand – einem flachen Korallenriff rund 200 Kilometer westlich der philippinischen Insel Palawan und bekannt für das absichtlich auf Grund gesetzte philippinische Kriegsschiff BRP Sierra Madre. Auf Bildern und Videos des Vorfalls ist zu sehen, wie Chinesen die philippinischen Boote rammen und mit Spitzhacken und Messern auf die philippinischen Schiffe und Geräte einstechen. Schließlich wurde ein philippinischer Soldat bei der Aktion schwer verletzt. Besonders brisant ist dieser Vorfall auch, weil Manila als US-Verbündeter zuletzt erklärt hat, der Tod eines Filipinos durch chinesische Aktionen sei die rote Linie, die den Bündnisfall auslösen würde.
Die ehemalige Kolonialmacht USA ist der wichtigste Verbündete der Philippinen. Es bestehen mehrere verteidigungspolitische Abkommen und durch den 1951 geschlossenen gegenseitigen Verteidigungsvertrag würden die USA Manila im Kriegsfall zu Hilfe eilen. Die Beziehungen haben sich unter Präsident Marcos, seit dem 30. Juni 2022 im Amt, weiter intensiviert – auch als Reaktion auf die chinesischen Aggressionen im Südchinesischen Meer. Besonders deutlich wird das durch die Ankündigung der beiden Länder, dass die USA Zugang zu vier weiteren Militärstützpunkten in den Philippinen erhalten. Damit hat Washington Zugriff auf insgesamt neun philippinische Basen, auf denen US-Truppen rotierend stationiert werden können. Eine Eskalation zwischen den Philippinen und China im Südchinesischen Meer würde somit auch die USA betreffen, die in den vergangenen Jahren immer wieder betont haben – übrigens auch während der ersten Trump-Präsidentschaft –, ihren ältesten Vertragspartner in der Region verteidigen zu wollen.
Schleichende chinesische Besetzung in philippinischen Gewässern
Der philippinisch-chinesische Territorialkonflikt lässt sich bis zum Beginn der schleichenden chinesischen Besetzung von Mischief Reef Mitte der 1990er-Jahre zurückverfolgen. Das traditionell wichtige Fischfanggebiet der Philippinen ist Teil der Spratly-Inselgruppe und liegt nur 130 Seemeilen westlich von Palawan entfernt. Heute beherbergt Mischief Reef einen chinesischen Luftwaffenstützpunkt und wurde durch Aufschüttung künstlich erweitert. Somit hat Manila keinen Zugriff mehr auf das Riff in seiner AWZ, stattdessen aber einen militärischen Stützpunkt einer feindlich eingestellten Nation vor der eigenen Haustür.
Ein weiterer folgenreicher Vorfall im Südchinesischen Meer ereignete sich 2012 am Scarborough Shoal. Nachdem die philippinische Marine entdeckt hatte, dass sich mehrere chinesische Fischer am Atoll befanden und illegal Korallen abbauten, kam es zu einer zwei Monate andauernden gefährlichen Pattsituation zwischen Manila und Peking. Diese wurde schließlich durch die Vermittlung der USA aufgelöst, mit einer Vereinbarung beider Länder, die Schiffe abzuziehen. Während die philippinische Seite der Vereinbarung Folge leistete, blieb China entgegen der Abmachung am Scarborough Shoal – ohne Folgen. Dieser Vorfall führte auch zur Entscheidung der Philippinen, vor den Ständigen Schiedshof zu ziehen.
Marcos-Administration geht entschlossen gegen China vor
Während die engen Beziehungen zu den USA seit der Unabhängigkeit ein wichtiger Eckpfeiler sind und für eine gewisse Kontinuität in der Außen- und Sicherheitspolitik sorgen, haben die unterschiedlichen Administrationen jeweils verschiedene Ansätze gegenüber China verfolgt, was auch das Agieren der Philippinen im Südchinesischen Meer beeinflusst hat. Die aktuelle Marcos-Administration hat sich nach einem schweren Zwischenfall mit den Chinesen am Second Thomas Shoal im Februar 2023 dazu entschlossen, einen deutlich anderen Kurs einzuschlagen als der chinafreundliche Vorgänger Rodrigo Duterte. Dabei setzt die Regierung auf ein Bündel an unterschiedlichen Maßnahmen, um die Souveränität des Landes zu verteidigen und keine weiteren Gebiete im Westphilippinischen Meer (offizieller Name des Teils des Südchinesischen Meers in der philippinischen AWZ) an China zu verlieren.
Dazu zählen insbesondere die sogenannte Transparenzinitiative sowie der Auf- und Ausbau von Allianzen und Partnerschaften, der strategische Einsatz des Völkerrechts, die Modernisierung der Küstenwache und des Militärs sowie die Verstärkung von Außenposten im Westphilippinischen Meer – insbesondere des von den Philippinen auf Grund gesetzten Schiffs BRP Sierra Madre am Second Thomas Shoal. Auch wenn die aktuelle Administration deutlich entschlossener gegen Pekings Aggressionen im Südchinesischen Meer vorgeht, ist man weiterhin bemüht, die diplomatischen Kanäle mit China offenzuhalten und friedliche Lösungen zu finden.
Mit Transparenz gegen den übermächtigen Gegenspieler
Zentrales Element des aktuellen Regierungskurses ist die Transparenzinitiative, die darauf setzt, die chinesischen Grauzonentaktiken in den philippinischen Gewässern der Bevölkerung und der internationalen Gemeinschaft aufzuzeigen und dabei Chinas Selbstdarstellung als friedliche und verantwortungsvolle Großmacht als scheinheilig zu entlarven. Es handelt sich dabei nicht um eine ausformulierte Strategie und die Äußerungen zur Transparenzinitiative können unterschiedlich ausfallen, je nachdem, wen man in der philippinischen Regierung danach fragt.
Mit Blick auf die Ziele und Wirksamkeit sagt Commodore Jay Tarriela, Leiter des Büros für Transparenz im Westphilippinischen Meer, dass es sich nicht um ein Wundermittel handele, welches das chinesische Agieren kurzfristig ändern werde. Es gehe vielmehr darum, Unterstützung in der philippinischen Bevölkerung und von der internationalen Gemeinschaft für die eigene Position zu erhalten. In dieser Hinsicht scheint die Transparenzinitiative sehr wirksam zu sein, denn die diplomatische Unterstützung für Manilas Position im Südchinesischen Meer hat stark zugenommen. Jedes Mal, wenn sich ein Vorfall zwischen philippinischen und chinesischen Schiffen ereignet, kommt es zu einer Reihe von Solidaritätsbekundungen unter anderem von den USA, Australien, Japan, der EU und zahlreichen europäischen Ländern, darunter auch Deutschland. Und es bleibt nicht nur bei rhetorischen Bekenntnissen. Die Liste der in den vergangenen Monaten angekündigten und geschlossenen sicherheits- und verteidigungspolitischen Abkommen und Kooperationen ist lang, unter anderem stehen darauf Japan, Australien, Südkorea, Singapur, Vietnam, Deutschland, Großbritannien und Frankreich. Der Aufbau und die Festigung von Beziehungen und Allianzen insbesondere mit den Mittelmächten in der Region, aber auch zum Beispiel mit der EU, wurden durch die Transparenzinitiative deutlich vorangetrieben. Durch die internationale Unterstützung Manilas hat die philippinische Position an Stärke gewonnen.
Inwiefern die Transparenzinitiative jedoch zu einer Abschreckung beziehungsweise zu einer Verhaltensänderung Pekings führt, ist fraglich. Daten des US-amerikanischen Thinktanks Centre for Strategic and International Studies (CSIS) zeigen, dass Peking mehr Schiffe in die philippinischen Gewässer entsendet und die Intensität der Zusammenstöße zugenommen hat. Auch die Art der Schiffe beziehungsweise Akteure, die China einsetzt, zeigt, dass Peking weiter auf Eskalation und Einschüchterung setzt: Im Dezember 2024 wurde zum ersten Mal berichtet, dass Schiffe der Marine der Volksbefreiungsarmee sich philippinischen Booten näherten, diese beschatteten und aggressive Manöver durchführten.
Dennoch dürfte es nicht in das chinesische Kalkül passen, dass eine „kleine Nation“ sich Peking öffentlich widersetzt und aller Welt immer wieder zeigt, zu welchen illegalen Mitteln China greift. Hinzu kommt: Auch unter einem deutlich chinafreundlichen Präsidenten Duterte gab es zahlreiche Zusammenstöße zwischen den beiden Ländern, über die allerdings nicht berichtet werden durfte.
Der aktuelle philippinische Ansatz ist als mutige Reaktion eines kleineren Landes mit wenig Ressourcen auf das völkerrechtswidrige und aggressive Verhalten eines übermächtigen Gegespielers zu bewerten. Es liegt an Peking, sein Verhalten zu ändern und die Transparenzinitiative dadurch hinfällig zu machen – nicht an Manila, die Augen vor diesem Verhalten zu verschließen.
Chinas aggressive Taktiken gegenüber Vietnam
Während sich die internationale Aufmerksamkeit primär auf das Auftreten Chinas in der philippinischen AWZ und die damit verbundene öffentlichkeitswirksame Konfrontation zwischen Peking und dem US-Verbündeten Manila richtet, ist die Situation Hunderte Seemeilen westlich kaum weniger spannungsreich. Auch vietnamesische Fischer werden regelmäßig von chinesischen Schiffen bedrängt. Mit gleicher Regelmäßigkeit führt China zudem Unterwasser-Vermessungsarbeiten durch, bevorzugt in unmittelbarer Nähe vietnamesischer maritimer Erdöl- und Erdgasvorkommen. Außerdem gibt es Berichte über US-amerikanische Geheimdiensterkenntnisse, wonach China für Sabotageakte an den auf dem Meeresgrund des Südchinesischen Meeres verlaufenden vietnamesischen Glasfaserkabeln verantwortlich sei. Durch Grauzonentaktiken gekennzeichnete chinesische Einschüchterungsversuche sind somit auch im „Ostmeer“ (so die vietnamesische Bezeichnung für das Südchinesische Meer) an der Tagesordnung.
Vietnams Ansatz zur Sicherung seiner maritimen Souveränität
Bedingt durch sein kommunistisches Einparteiensystem, die geostrategische Lage, historische Erfahrungen sowie seine Bündnisfreiheit verfolgt Vietnam jedoch einen anderen Ansatz im Umgang mit dem chinesischen Agieren als die Philippinen. Deren Transparenzinitiative wird in Vietnam manchmal auch als „Megafon-Diplomatie“ bezeichnet. Vietnam hingegen behauptet leise, aber bestimmt seine Souveränität. Dabei will man sich nicht allein auf die Wirksamkeit des Seevölkerrechts oder die endlosen Verhandlungen über einen verbindlichen Verhaltenskodex verlassen, sondern setzt zum einen auf die normative Kraft des Faktischen und baut zum anderen die sicherheitspolitische Kooperation mit Drittstaaten wie den Philippinen aus.
Eine weitere entscheidende Komponente stellt die Anti-Zugangs-/Gebietsverweigerungs-Strategie (Anti-Access/Area Denial, A2/AD) dar, die den Bau und die Modernisierung von Militärbasen auf Inseln und Riffen unter Hanois Kontrolle beinhaltet. In diesem Zusammenhang sind auch die Landgewinnungsmaßnahmen Vietnams auf den Spratly-Inseln zu verstehen: Wie die Asia Maritime Transparency Initiative (AMTI) des Thinktanks CSIS auf Grundlage der Analyse von Satellitenaufnahmen feststellte, hat Vietnam große Anstrengungen unternommen, mittels Aufschüttungen und Ausbaggerungen neue Landflächen in den umstrittenen Gebieten des Südchinesischen Meeres zu schaffen – auf Kosten der fragilen Unterwasserökosysteme. So konnte Vietnam allein seit Juni 2024 rund 260 Hektar Neuland auf den Spratlys schaffen, nach etwa 280 Hektar im Zeitraum zwischen November 2023 und Mitte vergangenen Jahres. Damit hat Vietnam dort nun etwa dreiviertel so viel Land aufgeschüttet wie China während des Baus seiner sieben Militärbasen zwischen 2013 und 2016.
Diese Militärbasen verschafften China bislang einen signifikanten militärisch-strategischen Vorteil: Mit Mischief Reef, Subi Reef und Fiery Cross kontrolliert Peking die mit Abstand größten künstlichen Inseln im Südchinesischen Meer und militarisiert diese vollständig mit Anti-Schiffs- und Flugabwehrraketensystemen, Laser- und Störgeräten, Kampfflugzeugen sowie Start- und Landebahnen von mehr als drei Kilometern Länge. Dadurch erhöhte sich die Fähigkeit Pekings zur Überwachung, Machtprojektion und Abschreckung in dem umstrittenen Meeresgebiet. Und es erhöhte die Fähigkeit zur Schikanierung der anderen Anrainerstaaten mit eigenen Gebietsansprüchen. Denn die künstlichen Inseln stellen nicht nur unsinkbare Flugzeugträger mit Palmen dar, sondern dienen mit ihren Hafenanlagen auch als permanente Basen für die Stationierung von chinesischer Marine, Küstenwache und Seemiliz, die häufig mit den Fischereiflotten beispielsweise Vietnams und der Philippinen aneinandergeraten.
Vietnam modernisiert und erweitert seine militärische Infrastruktur
Dass Vietnam nun in gewisser Weise den chinesischen Ansatz der Landgewinnung nachahmt, versetzt Hanoi in die Lage, seine Start- und Landebahnen zu modernisieren und zu erweitern sowie seine vergrößerten Außenposten möglicherweise mit fortschrittlichen Waffen (beispielsweise mit Anti-Schiffsartillerie und Lenkflugkörpern), Überwachungsfähigkeiten (Radar) und Verteidigungsstrukturen auszustatten, die Angriffen standhalten sollen. In einem militärischen Konfliktfall würde dies die Kalkulationen Pekings verkomplizieren; es erfüllt somit eine Abschreckungsfunktion. Zugleich dienen die vietnamesischen Außenposten, wie auch die chinesischen, vermutlich als Basen für maritime Patrouillen. Somit kann Vietnam die beanspruchten Gewässer effektiver überwachen und dort seine maritimen Rechte gemäß SRÜ ausüben.
Kein alleiniger Gamechanger in dem von militärischer Machtasymmetrie geprägten Verhältnis zwischen Hanoi und Peking, aber doch von herausragendem strategischem Nutzen, ist insbesondere die Anlage neuer militärischer Flugplätze. Vietnam verfügte bis dato lediglich auf der für den Archipel namensgebenden Spratly-Insel über eine Start- und Landebahn von 1,3 Kilometern Länge – zu kurz für größere Transport- und Überwachungsflugzeuge oder Kampfbomber. Im zweiten Halbjahr 2024 begann Vietnam jedoch mit der Asphaltierung einer Start- und Landebahn von doppelter Länge – ausreichend lang für die Nutzung durch Kampfflugzeuge – auf der künstlich geschaffenen Insel Barque Canada Reef. Und auch auf dem aufgeschütteten Pearson Reef entsteht Satellitenbildern nach zu urteilen möglicherweise ein weiterer militärischer Flugplatz. Hanoi selbst hat zu den Ausbauplänen öffentlich nicht Stellung bezogen.
Reaktion auf Hanois Vorgehen
All dies ist Peking mitnichten verborgen geblieben, doch auffallend lange hielt man sich mit öffentlicher Kritik zurück und es sind auch keine Maßnahmen bekannt geworden, mit denen Peking versucht hätte, die Landgewinnungs- und Ausbaupläne Hanois zu durchkreuzen. Erst Anfang Dezember 2024 ließen sich regierungsnahe chinesische Experten mit teils harscher Kritik an dem Vorgehen Hanois zitieren: Demnach sei eine „entschlossenere Reaktion notwendig“, denn wenn dies unbeachtet bleibt, „wird Vietnams fortlaufende Bautätigkeit nur weiter zunehmen und das bestehende Gleichgewicht in der Region weiter stören. Dies wird nur zu größerer Instabilität und erhöhter Unsicherheit führen“. Andere Stimmen warnten gar alarmistisch davor, dass Vietnam den Vereinigten Staaten oder Japan die Nutzung der Start- und Landebahnen gestatten könnte. Dies ist jedoch aufgrund der vietnamesischen Verteidigungsdoktrin der Bündnis- und Blockfreiheit kein plausibles Szenario.
Während westliche Regierungen die Landgewinnungs- und Ausbaumaßnahmen Vietnams nicht offiziell kommentierten, finden sie in westlichen Expertenkreisen Zustimmung. Man sieht darin das Potenzial, das durch die chinesische Dominanz ausgehebelte Machtgleichgewicht im Südchinesischen Meer wiederherzustellen. So ist Alexander L. Vuving, Professor am Asia-Pacific Center for Security Studies auf Hawaii und Altstipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung, der Ansicht, dass „Vietnams Landgewinnung Hoffnung gibt auf die Wiederherstellung dieser [gegen Chinas Hegemonialstreben gerichteten, Anm. d. Verf.] Gegengewichte“. Ähnlich sieht dies der Vietnamexperte Bill Hayton von Chatham House, wobei er jedoch nicht davon ausgeht, dass die Maßnahmen Hanois in Peking ernsthafte Sorgen und Sicherheitsbedenken hervorrufen.
Inwiefern die zunächst durch besagte chinesische Experten vorgebrachte öffentliche Kritik einen neuen Ansatz in Pekings Politik ankündigt, bleibt abzuwarten. Offensichtlich ist jedoch, dass China bislang mit Ausnahme einer einzigen offiziellen Zurückweisung im Februar 2025 schweigsam und anscheinend tatenlos den vietnamesischen Aktivitäten zugesehen hat, während zugleich die Spannungen mit den Philippinen weiter östlich im Südchinesischen Meer stiegen. Daher wird der korrekten Interpretation der chinesischen Zurückhaltung weitreichende Bedeutung zugeschrieben, da sich hieraus auch Implikationen für das Konfliktverhalten Chinas gegenüber anderen Akteuren – wie zum Beispiel den Philippinen – ableiten lassen könnten.
Chinas vermeintliche Passivität gegenüber Vietnam
Im Wesentlichen lassen sich nach Expertenmeinung fünf sich gegenseitig beeinflussende Faktoren anführen, die als plausible Deutung für die vermeintliche chinesische Passivität dienen können. Da ist zum einen der unterstellte Unwillen Pekings, neben der Konfrontation mit Manila parallel einen zweiten Konfliktherd mit Hanoi eskalieren zu lassen, da man diplomatischen Schaden befürchtet. Zum anderen könnte Peking auch zu der Überzeugung gelangt sein, dass seine Eskalationsdominanz beschränkt ist und Hanoi bei (militärischem) Druck und Einschüchterungsversuchen nicht nachgiebig wäre, sondern im Gegenteil über Entschlossenheit und Risikobereitschaft verfügt. Hierbei kann auf den Präzedenzfall der Ölplattformkrise 2014 verwiesen werden, der zuungunsten Pekings ausging. Der dritte Faktor ist die Bündnisfreiheit Vietnams, in diesem Falle politisch ein Vorteil, da dadurch die vietnamesischen Aktivitäten im Südchinesischen Meer von China nicht als unmittelbare geopolitische Herausforderung betrachtet werden müssen.
Damit verbunden mag der Faktor eine Rolle spielen, dass Vietnam und China als kommunistisch regierte Bruderstaaten über verlässliche Gesprächskanäle zwischen den Herrschaftsparteien verfügen und Meinungsdifferenzen im Stillen geklärt werden können. Nicht zuletzt stellen die überlappenden Gebietsansprüche im Südchinesischen Meer nur einen Aspekt der bilateralen Beziehungen dar. Beide Länder sind neben der ideologischen Verbundenheit auch enge Wirtschaftspartner, es verbindet sie offiziell eine „umfassende strategische Partnerschaft“ und man bekennt sich auch zum Aufbau einer „Gemeinschaft mit geteilter Zukunft“. Der renommierte Vietnamexperte und emeritierte Professor Carlyle Thayer kommt daher zu dem Schluss: „Es ist eine komplexe Beziehung, aber nicht antagonistisch wie die zwischen China und den Philippinen. China versucht, die USA von den Philippinen zu vertreiben, und die USA sind nicht auf die gleiche Weise in Vietnam präsent.“
Manila – Hanoi: ziemlich beste Freunde?
Die Philippinen und Vietnam verfolgen unterschiedliche Strategien, wenn es um die Verteidigung ihrer maritimen Souveränität geht. Auch wenn es diese Unterschiede gibt und Vietnam – ähnlich wie andere Staaten der Gemeinschaft Südostasiatischer Nationen (ASEAN) – die Philippinen für deren „lautes“ Auftreten kritisiert, handelt es sich bei beiden Ländern um diejenigen ASEAN-Nationen, die sich am deutlichsten gegen das chinesische Vorgehen wehren. Auch deshalb zeichnet sich zwischen den zwei Ländern eine wachsende Kooperation ab und Manila und Hanoi werden gar als „Besties“ innerhalb der ASEAN bezeichnet. Insbesondere die Zusammenarbeit zwischen den Küstenwachen soll durch gemeinsame Übungen und Trainings intensiviert werden. Ein weiterer Bereich, in dem sich beide Nationen enger abstimmen wollen, sind die Zwischenfälle im Südchinesischen Meer – wie genau das passieren soll, ist aber bisher nicht bekannt.
Es ist eine positive Entwicklung, dass beide Länder im Bereich maritime Sicherheit enger kooperieren wollen. Leider ist von der ASEAN insgesamt wenig zu erwarten, wenn es um ein gemeinsames Vorgehen mit Blick auf Chinas illegales und aggressives Verhalten im Südchinesischen Meer geht – zu stark ist der Einfluss Pekings in vielen der südostasiatischen Staaten. Auch die Verhandlungen zu einem Verhaltenskodex werden zwar rhetorisch weiter unterstützt, aber hinter den Kulissen glaubt niemand an einen baldigen Abschluss. Deshalb ist es zu begrüßen, dass Vietnam und die Philippinen gemeinsam vorangehen und mit Blick auf die Lage im Südchinesischen Meer enger kooperieren wollen.
Wie weiter im Südchinesischen Meer?
Das Südchinesische Meer wird ein geopolitischer Hotspot bleiben, der die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft fordert. Die Gefahr, dass ein Zusammenstoß insbesondere zwischen China und den Philippinen oder auch mit Vietnam außer Kontrolle gerät, kann nicht von der Hand gewiesen werden. Die Folgen einer kriegerischen Auseinandersetzung im Südchinesischen Meer wären auf der ganzen Welt spürbar.
Deutschland und Europa sind gefordert, für ihre Interessen auch in dieser Weltregion einzustehen. Es geht darum, die Freiheit der Seewege und die regelbasierte Weltordnung zu verteidigen und Länder wie die Philippinen und Vietnam in ihrem Kampf für ihre Souveränität zu unterstützen. In den vergangenen Jahren hat Deutschland mit den Leitlinien zum Indo-Pazifik und dem wachsenden Engagement in der Region bereits bedeutende Weichen gestellt. Es war ein wichtiges Zeichen, dass Deutschland 2024 erneut ein Indo-Pazifik-Engagement mit Marine und Luftwaffe gezeigt hat und dieses Mal auch nicht davor zurückgeschreckt ist, umstrittene Gewässer zu durchfahren. Eine neue Bundesregierung sollte Deutschlands Rolle in der Region ausbauen und insbesondere Länder wie die Philippinen und Vietnam bei ihrem Kampf für die Durchsetzung des Völkerrechts unterstützen. Hierbei sollte auch die rüstungspolitische Ertüchtigung eine größere Rolle spielen.
Daniela Braun ist Leiterin des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in den Philippinen.
Florian C. Feyerabend ist Leiter des Auslandbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Vietnam.
Für eine vollständige Version dieses Beitrags inkl. Quellenverweisen wählen Sie bitte das PDF-Format.