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„Leave no one behind“

Umsetzung der Sustainable Development Goals im Bereich Gesundheit in fragilen und von Konflikt betroffenen Ländern

In den 2015 verabschiedeten globalen Nachhaltigkeitszielen (Sustainable Development Goals) der Agenda 2030 nimmt das Thema Gesundheit eine zentrale Rolle ein, um nachhaltige Entwicklung zu erreichen. Insbesondere in fragilen und von Konflikt betroffenen Kontexten, wie es derzeit in Venezuela und in Jemen der Fall ist, sehen sich diese ehrgeizigen Zielsetzungen jedoch zahlreichen Herausforderungen gegenüber, die ihre Erfolgschancen in Frage stellen.

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Gesundheit als Grundbedingung für nachhaltige Entwicklung

Gesundheit ist ein Gut, das allen Menschen zugänglich sein sollte– unabhängig von ihrem sozioökonomischen Status, ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihrem Geschlecht oder den geografischen Gegebenheiten. Zu dieser Feststellung sind die Gründerväter der Vereinten Nationen (VN) bereits 1948 gekommen, als sie mit Artikel 25 einen entsprechenden Passus in ihre „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ aufgenommen haben. Im selben Jahr wurde mit der Weltgesundheitsorganisation (­WHO) eine Institution gegründet, die sich zum Ziel gesetzt hat, für „alle Völker das höchstmögliche Gesundheitsniveau zu erreichen“ und in deren strategischer Schwerpunktsetzung sich zudem widerspiegelt, dass Gesundheit und nachhaltige Entwicklung untrennbar miteinander verbunden sind. Entsprechend ordnen sich die Aktivitäten im aktuellen Arbeitsprogramm auch den gesundheitsrelevanten Zielen der Agenda 2030 unter.

Den Nexus zwischen Gesundheit und nachhaltiger Entwicklung haben auch die Millennium Development Goals (­MDGs) der VN aufgegriffen, die von 2000 bis 2015 den übergreifenden weltweiten Rahmen für die Bewältigung zahlreicher entwicklungshemmender Herausforderungen bildeten und als Vorlage für die heutigen nachhaltigen Entwicklungsziele (­SDGs) der VN dienten. In beiden Entwicklungsvisionen spielt die Verbesserung der Gesundheit aller Menschen als „eine Voraussetzung, ein Indikator und ein Ergebnis nachhaltiger Entwicklung“ eine zentrale Rolle.

Der VN-Abschlussbericht zu den Millennium Development Goals dokumentiert, dass in vielen gesundheitsrelevanten Bereichen bis 2015 bereits beachtliche Fortschritte erzielt werden konnten. So ist beispielsweise der Anteil unter­ernährter Menschen in Entwicklungs­regionen von 23,3 Prozent (1990 bis 1992) auf 12,9 Prozent (2014 bis 2016) gesunken. Die Sterblichkeitsrate von Kindern unter fünf Jahren konnte zwischen 1990 und 2015 weltweit um mehr als die Hälfte gesenkt werden. Zusätzlich ist auch die Müttersterblichkeitsrate weltweit zwischen 1990 und 2015 um 45 Prozent zurückgegangen. Diese auf den ersten Blick positiven Entwicklungen dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die meisten Zielvorgaben der ­MDGs nicht erreicht wurden und dass die Fortschritte ungleichmäßig, sowohl zwischen Weltregionen als auch zwischen ländlichen und städtischen Gebieten, verteilt waren. Die große Forderung für die „Post-2015-Entwicklungsagenda“, die im September 2015 als Agenda 2030 von der VN-Generalversammlung verabschiedet wurde, war entsprechend, dass weiterhin energische Anstrengungen unternommen werden, um die gesundheitliche Versorgung der Menschen weltweit zu verbessern.

Wie sehr der Bereich Gesundheit in der Agenda 2030 verankert ist, zeigt sich besonders in ­SDG 3: „Ein gesundes Leben für alle Menschen jeden Alters gewährleisten und ihr Wohlergehen fördern“, mit seinen insgesamt 13 Unterzielen, unter anderem zur Reduzierung der weltweiten Mütter- und Kindersterblichkeit, der Bekämpfung übertragbarer Krankheiten und dem Zugang zu allgemeiner Gesundheitsversorgung. Gesundheitsrelevante Zielsetzungen und Indikatoren finden sich jedoch auch in den zahlreichen anderen ­SDGs.

Spezifische Herausforderungen in fragilen Kontexten und Konfliktsituationen

Im für Gesundheit zentralen ­SDG 3 wird das Unterziel 3.8– die Einrichtung einer „allgemeine[n] Gesundheitsversorgung, einschließlich der Absicherung gegen finanzielle Risiken, den Zugang zu hochwertigen grundlegenden Gesundheitsdiensten und Zugang zu sicheren, wirksamen, hochwertigen und bezahlbaren unentbehrlichen Arzneimitteln und Impfstoffen für alle“ als wichtiger Hebel gesehen, um die gesundheitsrelevanten Ziele zu erreichen. Davon sind jedoch insbesondere fragile und von Konflikt betroffene Länder weit entfernt, da die Kapazitäten dieser Staaten zur Bereitstellung selbst grundlegender Gesundheitsleistungen meist stark eingeschränkt sind.

Nur ein Bruchteil der Todesfälle in von Konflikten betroffenen Ländern ist die Folge direkter Kampfhandlungen.

So finden sich 50 Prozent der bis dato nicht erreichten gesundheitsrelevanten Ziele, beispielsweise hinsichtlich Mütter- und Kinder­sterblichkeit, in fragilen Kontexten. Wenn fragile Situationen darüber hinaus von Konflikt geprägt sind, erhöht sich nicht nur die Anzahl von Todesopfern und Verwundeten durch die Konflikthandlungen. Die mit Konflikt einhergehende Zerstörung von Infrastruktur und Wohnraum führt vielmehr auch zu einer Verschlechterung der allgemeinen Lebensbedingungen, mangelndem Zugang zu Nahrung, sauberem Wasser und Sanitärversorgung und schafft damit weitaus größere Gesundheitsrisiken für die betroffenen Bevölkerungen. Lediglich ein Bruchteil der Todesfälle in Konfliktsituation ist die Folge direkter Kampfhandlungen, während der Großteil der Todesfälle durch Krankheit und Mangel­ernährung begründet ist– Todesfälle, die durch Zugang zu Gesundheitsleistungen oftmals vermeidbar wären. Gesundheitssysteme in fragilen Kontexten und Konfliktsituationen sind jedoch durch die mutwillige oder kollaterale Zerstörung von Einrichtungen, die Flucht von Gesundheitspersonal und die mangelnde Versorgung mit Medikamenten in ihrer Funktionstüchtigkeit meist stark eingeschränkt. In vielen Fällen treten private Anbieter an die Stelle zusammengebrochener öffentlicher Gesundheitssysteme. Der Zugang zu diesen privaten Dienstleistungen ist aus finanziellen Gründen jedoch nur einer kleinen privilegierten Bevölkerungsschicht möglich. Frauen, Kinder, chronisch Kranke und (Binnen-)Flüchtlinge zählen in fragilen Kontexten zu den am stärksten gefährdeten Gruppen.

Durch eine stark eingeschränkte Leistungsfähigkeit beschränkt sich die Bereitstellung von Gesundheitsleistungen in diesen Kontexten dementsprechend oftmals auf Notfallbehandlungen. Vorsorge- und Impfleistungen hingegen sowie die Behandlung chronisch kranker Patienten fallen als erstes mangelnder finanzieller und operativer Leistungsfähigkeit zum Opfer. Dies führt in vielen Fällen zu einem Wiederausbruch bereits besiegt geglaubter Krankheiten und der raschen Ausbreitung von Epidemien. So finden sich mehr als 80 Prozent der Ausbrüche größerer Epidemien in fragilen Kontexten– oftmals mit grenzüberschreitenden Auswirkungen durch Migrationsbewegungen. Auch enden die negativen Einflüsse nicht mit dem Ende der Konflikt­handlungen. Experten gehen davon aus, dass Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit bis zu zehn Jahre nach Ende des Konflikts bestehen.

Solche Rückschritte in fragilen und von Konflikt betroffenen Staaten stellen daher ein nicht zu unterschätzendes Risiko für die weltweite Erreichung der Gesundheitsziele dar, da sie im schlimmsten Fall die Entwicklung in ganzen Regionen um Jahre zurückwerfen können.

Abb. 1: SDG 3 und seine 13 Unterziele sowie andere gesundheitsrelevante SDGs

https://www.kas.de/documents/259121/6470405/ertl_kaiser_2_2019_DE.png.svg/3bc8e274-f678-3b6c-774f-0a625c8bdc6a?t=1561561760124

Quelle: Sustainable Development Goals, VN 2015.

 

Fragile Gesundheit: Venezuela und Jemen

Im Folgenden sollen diese Herausforderungen exemplarisch an zwei Fallbeispielen aufgezeigt werden. Mit Venezuela wird ein fragiler Staat beleuchtet, der aufgrund seiner wirtschaftlichen und politischen Situation derzeit nicht in der Lage ist, das Gesundheitsniveau seiner Bevölkerung stabil zu halten oder gar zu steigern, und sich stattdessen von bereits erreichten Standards hinsichtlich der gesundheitsrelevanten Ziele der Agenda 2030 wieder entfernt. In Jemen, mit einer bereits schwachen Ausgangslage gesundheitsrelevanter Indikatoren, haben Jahre des Konflikts bestehende Schwächen verschlimmert, das Aufkommen neuer Bedrohungen gefördert und das Land in der Erreichung der Ziele weit zurückgeworfen.

Venezuela– Ein Land im Ausnahmezustand

Ursachen und Ausmaß der aktuellen Krise

Venezuela, das erdölreichste Land der Erde mit einer Bevölkerung von 32 Millionen Menschen (2018), befindet sich in einer politischen, wirtschaftlichen, sozialen und humanitären Krise, die dazu geführt hat, dass seit 2015 über 2,7 Millionen Menschen das Land verlassen haben. Im gleichen Zeitraum ist das ­BIP um rund 50 Prozent eingebrochen; die Inflation wird für 2019 auf siebenstellige Raten geschätzt. Das stark von Importen abhängige Venezuela hat durch den signifikanten Rückgang der nationalen Ölfördermenge von 54 Prozent seit 1998 und dem internationalen Fall der Rohölpreise im vergangenen Jahr 18 Prozent seines ­GDP eingebüßt.

Die Folgen dieser wirtschaftlichen Krise bekommt in erster Linie die Bevölkerung des Landes zu spüren, die unter einem weitverbreiteten Versorgungsnotstand leidet. Im ganzen Land herrscht seit Ausbruch der Krise ein Mangel an Lebensmitteln, sauberem Trinkwasser und medizinischer Versorgung– was den zentralen Zielsetzungen der Agenda 2030, zu deren Umsetzung sich auch die Regierung von Nicolás Maduro verpflichtet hat, entgegensteht. Gesundheitsrelevante Infrastrukturen können aufgrund dieser Beeinträchtigungen nur eingeschränkt funktionieren. Die unzureichende Versorgungslage schwächt die Menschen, vor allem besonders gefährdete Gruppen wie Kinder, Frauen und Kranke, und macht sie anfälliger für Krankheiten. Der Preis eines durchschnittlichen Warenkorbs ist 2018 durch die Hyperinflation um 283.880 Prozent gestiegen. Die Mehrheit der Bevölkerung kann sich den Grundbedarf an Lebensmitteln und Medikamenten nicht mehr leisten, zumal der staatlich festgelegte Mindestlohn nicht ausreicht und durch die Inflation schnell an Wert verliert.

Auswirkungen der Krise auf gesundheitsrelevante Aspekte

Die wirtschaftliche und politische Krise in Venezuela hat zu einer Verschlechterung zahlreicher gesundheitsrelevanter Indikatoren des Landes geführt. Hierzu zählen u. a. Ernährungssicherheit (­SDG 2.1, 2.2), Kindersterblichkeit (­SDG 3.2), Müttersterblichkeit (­SDG 3.1), eine grundlegende Gesundheitsversorgung (­SDG 3.8), die Verbreitung von Infektionskrankheiten (­SDG 3.3) sowie der Zugang zu einer sicheren Trinkwasser-, Sanitär- und Energieversorgung (­SDG 6.1, 6.2 und 7.1), aber auch die Zahl der Opfer vorsätzlicher Tötung und konfliktbezogener Todesfälle (­SDG 16.1). Als Ursache hierfür ist in erster Linie der akute wirtschaftliche und medizinische Versorgungsnotstand zu nennen. Hinzu kommt der Anstieg von Gewalt und Kriminalität, der teilweise durch den Versorgungsnotstand hervorgerufen wird.

Als Folge der staatlichen Misswirtschaft ist Venezuela stark vom Import von Lebensmitteln und Konsumgütern abhängig. Durch die stetig sinkende Agrarproduktion kann das heutige Produktionsniveau lediglich 25 Prozent des nationalen Bedarfs abdecken. Gleichzeitig wurde die Einfuhr von Grundnahrungsmitteln zwischen 2016 und 2017 um 67 Prozent reduziert. Trotz der staatlichen Verteilung von Lebensmitteln mithilfe von Comité Local de Abastecimiento y Producción (­CLAP)-Boxen litten 2018 80 Prozent der Haushalte an Nahrungsmittelknappheit, in deren Folge immer häufiger Mangelernährung auftritt. Waren 2013 nur 3,6 Prozent der Venezolaner davon betroffen, ist der Anteil 2017 auf 11,7 Prozent angestiegen. Etwa 280.000 Kinder unter fünf Jahren litten 2017 an akuter, lebensgefährlicher Mangelernährung.

Die grundlegende medizinische Versorgung der Bevölkerung, wie in ­SDG 3.8 gefordert, ist seit der Verschärfung der politischen und wirtschaftlichen Krise im Land nicht mehr möglich, da Medikamente, medizinische Hilfsmittel und Geräte wie Spritzen und Skalpelle nicht in ausreichender Menge zur Verfügung stehen. Laut offiziellen Angaben der venezolanischen Regierung ist die Kindersterblichkeitsrate zwischen 2015 und 2016 um 30 Prozent angestiegen, die Müttersterblichkeitsrate sogar um 65 Prozent. Mit Blick auf die von der Agenda 2030 geforderten Ziele ist dies eine verheerende Entwicklung.

Von dem medizinischen Versorgungsnotstand sind insbesondere chronisch Kranke betroffen. So waren beispielsweise 87 Prozent der registrierten ­AIDS-Patienten von der Versorgung mit Medikamenten abgeschnitten, was bei über 5.000 Betroffenen zum Tod geführt hat. Durch den illegalen Handel mit Medikamenten auf dem Schwarzmarkt ergeben sich zusätzliche gesundheitliche Risiken. Zudem sind medizinische Einrichtungen in ihrer Arbeitsfähigkeit eingeschränkt. So gaben in einer nationalen Krankenhausstudie im März 2018 70 Prozent der befragten Einrichtungen an, nur unregelmäßig mit Strom und Trinkwasser versorgt zu werden. Aufgrund von niedrigen Löhnen haben darüber hinaus zwischen 2012 und 2017 22.000 Ärzte das Land verlassen, was die medizinische Versorgungslage zusätzlich erschwert. Einen Hebel, dieser Entwicklung entgegenzuwirken, würden die Unterziele 3.c und 3.d der Agenda 2030 bieten, die die Rekrutierung, Ausbildung und Bindung von Gesundheitsfachkräften fordern und dazu aufrufen, „die Kapazitäten aller Länder […]in den Bereichen Frühwarnung, Risikominderung und Management nationaler und globaler Gesundheitsrisiken [zu] stärken.“ Würden diese Ziele nachhaltig verfolgt und umgesetzt, wären auch fragile und von Konflikt betroffene Staaten Gesundheitskrisen gegenüber besser gewappnet.

Der Mangel an Medikamenten, medizinischer Versorgung und sauberem Trinkwasser führt dazu, dass vermeidbare Infektionskrankheiten und Krankheiten, die bereits als besiegt galten, wieder auf dem Vormarsch sind. So traten zwischen Juni 2017 und September 2018 5.500 Fälle von Masern auf, von denen 64 tödlich endeten. Zwischen 2008 und 2015 gab es dagegen lediglich einen Fall. Bei Tuberkulose war 2017 die höchste Krankheitsrate seit 40 Jahren zu verzeichnen. Auch Diphtherie- und Malaria-Fälle sind im Zuge der Krise massiv angestiegen. Letztere Krankheit galt in Venezuela seit 1961 als ausgerottet; zwischen 2010 und 2015 stieg die Anzahl der Fälle um 359 Prozent. Aufgrund rückläufiger Anstrengungen bei der Bekämpfung der Malaria-Mücke und Engpässen bei den Malaria-­Medikamenten ist dieser Wert zwischen 2016 und 2017 noch einmal um 71 Prozent auf 411.586 Fälle gestiegen.

Ebenfalls zentrale Indikatoren für die Erreichung von ­SDG 3 sind der Zugang zu sauberem Trinkwasser und Strom, der sich im Zuge der Krise massiv verschlechtert hat. So kam es im März dieses Jahres fast im gesamten Land zu anhaltenden Stromausfällen und dem damit verbundenen Zusammenbruch der Trinkwasserversorgung. Nur 18 Prozent der Bevölkerung haben derzeit regelmäßig Zugang zu sauberem Wasser. Die in erster Linie auf Versäumnisse der Regierung zurückzuführenden Schwachstellen in der Strom- und Wasserversorgung wurden durch klimabedingte Ereignisse weiter verschärft.

Eine Verbesserung der gesundheitsrelevanten Indikatoren ist in Venezuela aufgrund der anhaltenden politischen Krise nicht in Sicht. Ein kleiner Lichtblick ist vor diesem Hintergrund, dass das Rote Kreuz seit Mitte April die Erlaubnis hat, die notleidenden Menschen in Venezuela mit dem Nötigsten an Medikamenten, Trinkwasser und Nahrung zu versorgen.

Jemen– Humanitäre Krise auf der Arabischen Halbinsel

Von den Römern aufgrund seines Reichtums als Arabia Felix, das glückliche Arabien, bezeichnet, lässt sich heute von dieser Beschreibung des Jemen nicht mehr viel erkennen. Nach über vier Jahren Krieg befindet sich das Land in einer der schwersten humanitären Krisen weltweit. Nach VN-Schätzungen sind 24,1 Millionen Menschen– 80 Prozent der Bevölkerung– auf humanitäre Hilfe angewiesen. Ernährungsunsicherheit und akute Mangelernährung gefährden große Teile der Bevölkerung; rund 18 Millionen Menschen haben keinen Zugang zu sicherer Wasser- und Sanitärversorgung und mehr als vier Millionen Menschen mussten ihr Zuhause verlassen. Seit 2017 breiten sich darüber hinaus vermeidbare Krankheiten wie Cholera und Diphtherie aus.

Bereits vor Ausbruch des Konflikts war Jemen aufgrund mangelnden Zugangs zu Gesundheits-, Sanitär- und Trinkwasserversorgung und hoher Armutsraten weit von der Erreichung der internationalen gesundheitsrelevanten Ziele entfernt. Durch die Konflikthandlungen und damit einhergehenden Zerstörungen hat sich diese schwache Ausgangslage in eine humanitäre Krise ausgeweitet.

Zerstörung der Gesundheitsinfrastruktur

Ein wichtiger Faktor in der derzeitigen Krise ist die Zerstörung der ohnehin schwachen Gesundheitsinfrastruktur. Durch Luftangriffe und Kämpfe, aber auch durch limitierte Medizinvorräte und Unterbesetzung aufgrund seit 2016 nicht bezahlter staatlicher Gehälter, ist inzwischen nur noch die Hälfte der Gesundheitseinrichtungen funktionsfähig. Damit haben 19,7 Millionen Jemeniten keinen angemessenen Zugang mehr zu Gesundheitsleistungen. Eine Abdeckung der grundlegenden Gesundheitsleistungen wie in ­SDG 3.8 gefordert, ist in dieser Situation nicht annähernd gewährleistet. Darüber hinaus wurden seit 2015 120 Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen registriert, die zu weiteren Schließungen und zur Flucht des Gesundheitspersonals führen. Die teils noch verfügbaren privaten Gesundheitsdienstleister sind für den Großteil der Bevölkerung aufgrund der hohen Kosten nicht zugänglich.

Ausbruch vermeidbarer Krankheiten

Im Kontext des mangelnden Zugangs zu Gesundheitsleistungen, des fast kompletten Wegfalls von Impfleistungen und des mangelnden Zugangs zu sicherer Trinkwasser- und Sanitärversorgung für inzwischen knapp 18 Millionen Personen haben sich seit 2016 zunehmend vermeidbare und besiegt geglaubte Krankheiten ausgebreitet. So erlebt das Land seit 2017 einen der schlimmsten Choleraausbrüche seiner Geschichte, mit inzwischen mehr als 1,3 Millionen Krankheits- und fast 2.800 Todesfällen. Auch Diphtherie hat sich seit Ende 2017 mit 3.200 vermuteten Krankheitsfällen ausgebreitet und die saisonal auftretenden Malaria- und Dengue-Fieberausbrüche haben sich seit Beginn des Konflikts deutlich verschlimmert. Der Großteil dieser Krankheitsfälle wäre durch den Zugang zu rascher medizinischer Versorgung behandelbar, verläuft unter den aktuellen Bedingungen jedoch meist tödlich. Hinsichtlich der Bekämpfung der durch Wasser übertragenen und vernachlässigten Tropenkrankheiten (­SDG 3.3) und der Erhöhung der Bevölkerung mit Impfschutz (­SDG 3.b) zeigt sich entsprechend eine deutlich negative Entwicklung der ­SDG-Zielerreichung.

Ernährungsunsicherheit

Nach vier Jahren Konflikt sind zudem mehr als 20 Millionen Menschen– 67 Prozent der Bevölkerung– von Ernährungsunsicherheit betroffen, davon fast zehn Millionen Menschen, die an ex- tremem Hunger leiden. Rund zwei Millionen Kinder sind akut mangelernährt. Da Jemen zu 90 Prozent von Nahrungsimporten abhängig ist, treffen konfliktbedingte Unterbrechungen und Behinderungen von Importen die Bevölkerung besonders hart. Auch hinsichtlich der Bekämpfung von Hunger und Ernährungsun­sicherheit (­SDG 2.1 und 2.2) entfernt sich Jemen also zunehmend von der Erreichung der Nachhaltigkeitsziele. Darüber hinaus sind durch den Zusammenbruch der Wirtschaft, den Wertverlust der Währung und den massiven Preisanstieg für Nahrungsmittel und Benzin inzwischen 81 Prozent der Bevölkerung unter die Armutsgrenze gerutscht. Selbst dort, wo Lebensmittel verfügbar sind, können viele Jemeniten sich diese schlicht nicht mehr leisten. Die in ­SDG 1 postulierte Armutsbekämpfung scheint damit in weite Ferne gerückt.

Mangelnder Zugang zu Trinkwasser- und Sanitärversorgung

Bereits vor 2015 war Jemen durch gering ausgeprägte Wasser- und Sanitärversorgung gekennzeichnet– lediglich 52 Prozent der Bevölkerung hatten Zugang zu sauberem Trinkwasser und 46 Prozent zu sicherer Sanitärversorgung. Die konfliktbedingte Zerstörung der Wassersysteme hat diese Ausgangssituation merklich verschlimmert und verhindert damit jegliche Verbesserung auf dem Weg zur Zielerreichung der entsprechenden ­SDGs (6.1 und 6.2). So fehlt inzwischen für 17,8 Millionen Menschen der Zugang zu sicherem Trinkwasser und sanitären Einrichtungen. Dies macht die Bevölkerung anfälliger für Krankheiten sowie den Ausbruch von Epidemien und steht konträr zu den ­SDGs 3.3 und 3.9.2, die eine Verringerung der Verbreitung und der Todesfälle durch Krankheiten aufgrund von verunreinigtem Wasser zum Ziel haben.

Auswirkungen auf besonders gefährdete Gruppen

Wie auch in anderen fragilen und von Konflikt betroffenen Kontexten sind Kinder, Frauen, chronisch Kranke und (Binnen-)Flüchtlinge in Jemen besonders gefährdet. So ist für die rund 4,3 Millionen Binnenflüchtlinge der Zugang zu sicherer Wasser- und Sanitärversorgung und Nahrung noch eingeschränkter als für den Rest der Bevölkerung. Fehlende Schwangerschaftsuntersuchungen und die steigende Zahl von Geburten ohne qualifiziertes Gesundheitspersonal tragen zu einer Zunahme der Mütter- und Neugeborenensterblichkeit bei, die bisherige Verbesserungen dieser Indikatoren für ­SDG 3.1 und 3.2 rückgängig machen. Chronisch kranke Menschen sowie Schwerkranke leiden ebenfalls besonders unter der Situation. Seit Beginn des Konflikts starben jedes Jahr 25 Prozent der jemenitischen Dialysepatienten, da die lebensnotwendigen Sitzungen nicht ausreichend verfügbar sind. Der Anteil der Todesfälle aufgrund nichtübertragbarer Krankheiten (u. a. Herz-Kreislauferkrankungen, Krebs) hat sich durch fehlende Behandlungsmöglichkeiten von 23,1 Prozent (2015) auf 57 Prozent (2018) erhöht– eine Entwicklung, die konträr zur entsprechenden Zielsetzung von ­SDG 3.4 läuft. Kinder sind insbesondere durch die Kombination aus Mangelernährung, fehlendem Zugang zu sicherem Trinkwasser und Gesundheitsleistungen sowie der hohen psychischen Belastung gefährdet. Es lässt sich somit eine negative Entwicklung des Indikators der Anzahl von Kindern mit einer altersgemäßen Entwicklung hinsichtlich Gesundheit, Lernen und psychosozialem Wohlbefinden (­SDG 4.2.1) attestieren. Save the Children geht von 85.000 Kindern unter fünf Jahren aus, die seit Beginn des Konflikts in Folge von Krankheit und Mangelernährung gestorben sind.

Direkte Opfer von Gewalt

Das Armed Conflict Location & Event Data Project (­ACLED) registrierte von Januar 2016 bis November 2018 mehr als 60.000 konfliktbedingte Todesfälle. VN-Angaben sprechen von mindestens 17.640 zivilen Opfern, darunter 6.872 Todesopfer von März 2015 bis November 2018. Diese Zahlen bedeuten eine drastische Verschlechterung auf dem Weg zur Zielerreichung der Verringerung aller Formen der gewaltbedingten Sterblichkeit (­SDG 16.1).

Von einer raschen Stabilisierung der humanitären Krise ist in Jemen derzeit nicht auszugehen.
Ausblick

Im Rahmen von VN-vermittelten Friedensgesprächen im Dezember 2018 einigten sich die Regierung von Präsident Hadi und die Huthis unter anderem auf eine Waffenruhe. Der Erfolg der Vereinbarung bleibt jedoch ungewiss und eine rasche Stabilisierung des Landes als notwendige Voraussetzung für bedeutende Verbesserungen der humanitären Lage der Bevölkerung ist damit derzeit nicht in Sicht.

Fazit

Wie in den ­SDGs durch zahlreiche Querverbindungen in den Zielsetzungen verdeutlicht, ist Gesundheit ein Querschnittsthema, dessen Erreichung durch zahlreiche Faktoren beeinflusst wird und wiederum zur Erreichung anderer Zielsetzungen beiträgt. Während sich in stabilen und ausreichend finanzierten Kontexten dadurch positive Synergieeffekte ergeben, entsteht in fragilen und von Konflikt betroffenen Ländern oftmals eine Art Abwärtsspirale, in der sich die Auswirkungen fehlender Gesundheits-, Sanitär-, Ernährungs- und Energieversorgung gegenseitig verstärken. Dies führt zu einer Stagnation oder sogar einem Rückschritt auf dem Weg zur Erreichung gesundheitsrelevanter Ziele. Statt sich in Richtung einer allgemeinen, hochwertigen und bezahlbaren Gesundheitsversorgung zu bewegen, entfernen sich fragile Staaten vielmehr von diesem Ziel, wie die beiden Fallbeispiele Venezuela und Jemen zeigen. Trotz der grundsätzlichen Verpflichtung der dortigen Regierungen und anderer am Konflikt beteiligten Staaten zur Umsetzung der Agenda 2030 ist aufgrund der Verschlechterung der gesundheitsrelevanten Indikatoren in beiden Fällen davon auszugehen, dass diese im Zuge der jeweiligen Krisensituation nicht prioritär verfolgt wird. Die Gründe hierfür unterscheiden sich von Fall zu Fall, sind jedoch tendenziell in mangelnden Kapazitäten, fehlendem politischen Willen und gegensätzlichen Interessen zu verorten.

Mit einem prognostizierten Anstieg des Anteils der Menschen, die weltweit in fragilen Kontexten leben, wird sich der Graben zwischen Bevölkerungen mit Zugang zu angemessener Gesundheitsversorgung und Menschen in fragilen Ländern, die diesen Zugang nicht oder nur in Ansätzen haben, zunehmend weiten. Dies stünde im klaren Gegensatz zum Leitsatz der globalen Nachhaltigkeitsziele: Leave no one behind.

Einer solchen Entwicklung sollte sich die internationale Gemeinschaft entschlossen entgegenstellen und für Gesundheit als öffentliches Gut und Menschenrecht eintreten. Hier bietet die Agenda 2030, die von über 190 Staaten der Welt unterzeichnet wurde, eine wichtige Chance, um den komplexen Herausforderungen in fragilen Kontexten zu begegnen.

So postuliert die Agenda den Zugang zu Gesundheit für alle als grundlegendes Menschenrecht und etabliert damit das Erreichen universaler Gesundheitsversorgung für sich genommen als zentrales Ziel, um ein besseres Leben für alle zu ermöglichen. Gleichzeitig verortet die Agenda durch ihren vernetzten Charakter Gesundheit als Querschnittsthema im Nexus von Sicherheit, humanitärer Hilfe, nachhaltiger Entwicklung und Friedensförderung– und verweist damit auch auf die zentrale Rolle von Gesundheit als– wie eingangs erwähnt– „eine Voraussetzung, ein Indikator und ein Ergebnis nachhaltiger Entwicklung“.

Durch die Betonung globaler Partnerschaften weist die Agenda ebenso den Weg zur Erreichung der Ziele. Nur durch eine koordinierte und vernetzt gedachte Vorgehensweise aller involvierten Akteure, die sich aus den Bedürfnissen der jeweiligen Bevölkerungen ableitet, können die komplexen Herausforderungen zur Erreichung gesundheitsrelevanter Ziele in fragilen Kontexten erfolgreich angegangen werden. Hierfür ist auch eine entsprechende Anpassung der Finanzierungsprioritäten internationaler Geber notwendig. Um die globalen gesundheitsrelevanten Ziele der Agenda 2030 zu erreichen, schätzt die WHO die Kosten bis zum Jahr 2030 auf 134 bis 371 Milliarden ­US-Dollar pro Jahr. In armen– und hier insbesondere in fragilen und von Konflikt betroffenen – Ländern ergibt sich für die Erreichung dieser Ziele jedoch eine Finanzierungs­lücke von jährlich bis zu 54 Milliarden US-Dollar und damit ein massiver Bedarf für finanzielle Unterstützung. Letztendlich ist es wichtig, dass internationale Bemühungen auch darauf abzielen, die Relevanz der Agenda 2030 in den jeweiligen Ländern zu stärken und diese dazu zu befähigen, ihre Gesundheitsinfrastrukturen nachhaltig zu stärken und resilienter zu machen.

Entscheidend ist jedoch auch die Bereitschaft aller Beteiligten– sowohl Staaten, Konfliktparteien als auch sonstiger Akteure– die Agenda 2030 mit ihrem vernetzten Charakter gezielt als Instrument zur Prävention und Eindämmung von Konflikten und Krisen zu erkennen und zu nutzen.

 


Veronika Ertl ist Referentin für Entwicklungspolitik der Konrad-Adenauer-Stiftung.

 



Martina Kaiser ist Referentin für nachhaltige Entwicklung der Konrad-Adenauer-Stiftung.

 


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