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Auslandsinformationen

Postkoloniale Diskurse in der ­brasilianischen Außenpolitik

von Philipp Gerhard

Zwischen West und Süd

Ob Israel oder Ukraine: Brasiliens Außenpolitik hat zuletzt manche westlichen Partner irritiert. Was haben postkoloniale Diskurse damit zu tun?

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Auf einen Blick
  • Brasilien ist ein westliches Land. Im Gegensatz zu den meisten afrikanischen und asiatischen Staaten, aber ähnlich wie bei den meisten anderen lateinamerikanischen Staaten, liegt die Unabhängigkeit bereits rund 200 Jahre zurück. Kontinuität und ein enges Verhältnis zu den westlichen Staaten prägten weite Teile dieser Zeit.
  • Seit den 1970er-/1980er-Jahren hat Brasilien seine Außenbeziehungen zunehmend nach „Süden“ diversifiziert. Enttäuschung über die Haltung westlicher Staaten in der brasilianischen Schuldenkrise war ein wichtiger Faktor hinter dieser Entwicklung.
  • Postkoloniale Diskurse sind nicht ursächlich für dieses Phänomen verantwortlich, haben es aber punktuell verschärft. Sie sind in Brasilien ein aus nordamerikanischen und europäischen Universitäten importiertes Elitenphänomen, das vor allem bei linken Parteien und deren Vorfeldorganisationen Anklang findet.
  • Außenpolitisch relevant wurden diese Diskurse in den vergangenen Jahren vor allem durch die präsidentielle Außenpolitik von „Lula“ da Silva, sichtbar insbesondere durch dessen verbale Ausfälle gegen Israel und die enge Anbindung an afrikanische Staaten. Hier weicht Lula teils von der Politik des Außenministeriums ab.
 

Der eine wurde im Jordan getauft, der andere in Israel zur Persona non grata erklärt. Der Unterschied zwischen dem ehemaligen Präsidenten Jair Messias Bolsonaro und dem aktuellen Präsidenten Luiz Inácio „Lula“ da Silva könnte kaum deutlicher ausfallen. Während der Erste einen betont israelfreundlichen Kurs einschlug, suchte Lula die Konfrontation. Beim Gipfeltreffen der Afrikanischen Union im Februar 2024 hielt er sich nicht zurück, als er etwas heiser vor die Mikrofone trat. So sei die Bombardierung des Gazastreifens durch die israelische Luftwaffe ein beispielloses Verbrechen. Nur „als Hitler beschloss, die Juden zu ermorden“, sei Vergleichbares geschehen.

Nach Lulas Weigerung, der Ukraine Munition zu liefern und den russischen Angriffskrieg als solchen zu ächten, staunten die Europäer ein zweites Mal nicht schlecht, als der brasilianische Präsident die israelischen Attacken auf den Gazastreifen als Völkermord einordnete. Eine solch harsche Wortwahl hatten sie nicht erwartet. Die israelische Regierung reagierte prompt und bannte den ehemaligen Arbeiterführer. Seitdem herrscht Eiszeit zwischen Brasília und Jerusalem. Israel mag ein Sonderfall sein und ist seit ehedem als „moderner Apartheid-“ oder „Kolonialstaat“ ein beliebtes Feindbild unter Anhängern des Postkolonialismus. Brasilien, wie auch die meisten der lateinamerikanischen Nationen, galten bislang auf internationalem Parkett jedoch nicht als die typischen Anwälte der postkolonialen Sache – ausgenommen vielleicht Kuba und Bolivien. Dieser Beitrag soll ein besseres Verständnis darüber vermitteln, welchen Stellenwert postkoloniale Gedanken- und Theoriekonstrukte tatsächlich in der brasilianischen Außenpolitik haben.

 

Wie postkolonial ist Brasilien?

Als er in den grauen Novemberhimmel blickte, wusste er nicht, ob er jemals wieder zurückkehren würde. Ende des Jahres 1807 bestieg der portugiesische Prinzregent und spätere König João VI. das Schiff, das ihn in einer monatelangen Überfahrt nach Rio de Janeiro bringen sollte. Er floh vor spanischen und französischen Truppen, die auf Lissabon marschierten und das Stammland seines Hauses besetzen würden. João VI. würde sich nicht mit der napoleonischen Oberhoheit arrangieren oder sich bei seinen britischen Verbündeten exilieren. Nein, er wählte Brasilien als Zufluchtsort, wo er den Waffengang auf dem Alten Kontinent überdauern wollte.

Dass der Souverän eines europäischen Königshauses in eine Kolonie übersiedeln würde, bleibt nicht die einzige Kuriosität am Vorabend der staatlichen Eigenständigkeit Brasiliens. Noch als Teil des portugiesischen Weltreichs erfuhr Brasilien nicht zuletzt als Königssitz einen Bedeutungsgewinn innerhalb des imperialen Gefüges Lusitaniens. Schon vor seiner politischen Emanzipation von Portugal war Brasilien also phasenweise bedeutender als die eigentliche Kolonialmacht. Zu gewaltig schienen seine Ausmaße, zu reich seine Felder und Minen, um hinter dem Mutterland zurückzustehen.

Brasilien sagte sich zwar los von der Kolonialherrschaft Portugals und erlangte seine Unabhängigkeit im Jahr 1822, ein tiefgreifender Wandel setzte allerdings nicht ein. Die Monarchie bestand unter Joãos Sohn fort und gefiel sich als Kaiserreich Brasilien, die koloniale Gesellschaftshierarchie mitsamt der Sklaverei durchlief kaum eine Revision und auch wirtschaftlich blieb das Land auf die Erzeugung und den Export weniger Rohstoffe ausgerichtet. Der Blick in die Geschichte ist insbesondere aufgrund der Abgrenzung Lateinamerikas zu den ehemaligen Kolonien Afrikas und Asiens relevant. Auf der einen Seite erlangten die lateinamerikanischen Kolonien etwa 140 Jahre vor den Staaten Afrikas und Asiens ihre Unabhängigkeit und hatten damit schlichtweg mehr Zeit, ihr nation building zu bewerkstelligen. Somit lässt sich das „post“ in postkolonial im Falle Brasiliens akzentuieren. Auf der anderen Seite lassen sich aber durchaus Parallelen zwischen Lateinamerika und den afroasiatischen Staaten konstatieren. Insbesondere die anhaltend hohe soziale Ungleichheit in Brasilien und seinen lateinamerikanischen Nachbarn ist ein augenscheinliches Charakteristikum von gesellschaftlichen Nachwirkungen der Kolonialzeit.

Die Sprachrohre eines postkolonialen Diskurses gehören in Brasilien nur in seltenen Fällen zu den Marginalisierten.

Der lange Marsch zum Postkolonialismus

Brasilien rangiert seit Jahrzehnten ganz oben bei Indikatoren sozialer Ungleichheit wie dem Gini-Koeffizienten. Auch mehr als 200 Jahre nach Erlangung der Unabhängigkeit von Portugal lassen sich gesellschaftliche Machtbeziehungen konstatieren, die aus der Zeit gefallen scheinen. Gerade afrobrasilianische Bevölkerungsgruppen haben in der Regel einen schlechteren Zugang zu Bildung, sind häufiger Opfer von Gewalt und in der Politik unterrepräsentiert. Die Frage, wie Ethnie und sozioökonomische Teilhabe korrelieren, lässt sich aufgrund der starken Heterogenität der brasilianischen Bevölkerung hingegen weder eindeutig noch knapp beantworten. Trotz fortwährender Verbesserungen zeigt sich aber zweifellos eine markante Ungleichheit in der brasilianischen Bevölkerung, die Machtstrukturen mit durchaus kolonialen Reminiszenzen abbildet.

Die gesellschaftlichen Resonanzräume postkolonialer Narrative sind aber zuvorderst die Universitäten des Landes, die immer noch über eine gewisse soziale Exklusivität verfügen. Auch in diesem Bereich erzielte Brasilien große Fortschritte, dennoch sind im akademischen Umfeld diejenigen Bevölkerungsgruppen überrepräsentiert, die im brasilianischen Alltag seltener mit Benachteiligung konfrontiert sind. Eine gewisse Tendenz, dass sich die soziale Ungleichheit perpetuiert, besteht daher. Nur mit einem entsprechenden Diplom lassen sich die Eignungsprüfungen (concurso) zu einer höheren Beamtenlaufbahn absolvieren, die mit üppigen Salären lockt. Nur mit dem entsprechenden Universitätsabschluss gelingt der Eintritt in eine reichweitenstarke Denkfabrik. Kurzum: Die Sprachrohre eines postkolonialen Diskurses gehören in Brasilien nur in seltenen Fällen zu den Marginalisierten. Damit stehen sie in einer Reihe zu den Vordenkern des Postkolonialismus, wie Edward Said, Frantz Fanon und insbesondere dem großbürgerlichen Michel Foucault.

Wie auch in Deutschland erfreuen sich postkoloniale Denkansätze insbesondere an den geistes- und sozialwissenschaftlichen Fakultäten des Landes großer Beliebtheit. Wie auch in Deutschland neigen diese Fachbereiche politisch eher nach links. Wie auch in Deutschland gehört eine postkoloniale Forschungsperspektive zum guten Ton im Wissenschaftsbetrieb. Es handelt sich beim Postkolonialismus als Leitvorstellung des akademischen Schaffens vorrangig um eine Modeerscheinung, die von angelsächsischen Universitäten an die Hochschulen vor Ort schwappte. Vor diesem ideologischen Hintergrund werden wissenschaftliche Arbeiten mit einem postkolonialen Filter angefertigt, durch den das Untersuchungsobjekt hinsichtlich asymmetrischer Machtstrukturen seziert wird. Die Erkenntnis daraus bleibt oft überschaubar, andere Faktoren werden durch das postkoloniale Sezieren marginalisiert oder trivialisiert. All das ist jedoch keine Besonderheit des brasilianischen Hochschulbetriebes, sondern lässt sich so auch in der Bundesrepublik wiederfinden.

In Brasilien steht der Postkolonialismus als akademischer Trend in einer Sequenz mit dem Universitätsmarxismus der 1950er- und 1960er-Jahre und der Dependenz- beziehungsweise Weltsystemtheorie der 1970er- und 1980er-­Jahre. Wie jedoch insbesondere die dependência-Ansätze des brasilianischen Soziologen und späteren Präsidenten Fernando Henrique Cardoso zeigen, entbehrten sie eines inhärenten soziorevolutionären Impulses. Dies ist auch plausibel, denn die Anhänger können nicht daran interessiert sein, dass sich ihr gesellschaftlicher Status radikal verändert. Als (vermeintliche) Fürsprecher der Marginalisierten tragen sie ihre Überzeugungen zwar bis in die brasilianische Bundespolitik und -verwaltung, erhalten dort aber nur beschränkt Gehör. An politischer Attraktivität mangelt es dem Postkolonialismus jedoch nicht. Er eignet sich schließlich dazu, Missstände der als ungerecht aufgefassten internationalen Ordnung oder der ehemaligen Kolonialmacht anzulasten.

Lula nutzt postkoloniale Argumentationsmuster in seiner Außenpolitik primär, um seine Unterstützungsbasis zu Hause zu festigen.

Postkoloniale Sichtweisen sind in Brasilien vor allem in den linken Parteien und deren Vorfeld anzutreffen. Dabei übersetzt sich der politische Anspruch, die benachteiligten Bevölkerungsgruppen zu repräsentieren, in eine globale Perspektive. Der Kampf um Gerechtigkeit, um das dabei mitschwingende Pathos nicht außer Acht zu lassen, wird nicht als ein nur auf Brasilien beschränktes Phänomen verstanden. Der Postkolonialismus ermöglicht es, eine – wenn auch nur oberflächliche – Gemeinsamkeit zwischen den ehemals kolonisierten Völkern herzustellen. Als Ausrichterin internationaler Großveranstaltungen im vergangenen und laufenden Jahr gelingt es der brasilianischen Regierung, soziale Themen auf die Weltbühne zu projizieren. So standen die Bekämpfung des Welthungers und eine weltweit bindende Besteuerung von sogenannten Superreichen auf der brasilianischen Agenda für den G20-Gipfel im vergangenen Jahr. Auch auf dem diesjährigen BRICS+-Gipfel liegt ein Fokus des Gastgebers auf der Ernährungssicherheit.

Das sind zwar an sich keine postkolonialen Botschaften, sie reihen sich aber in eine Folge von Kommentaren ein, die der umtriebige Präsident Lula in die Mikrofone der Weltöffentlichkeit spricht. Bei einer Rede vor der angolanischen Nationalversammlung im August 2023 hatte er bereits auf beide Themenfelder rekurriert: „Es kann nicht sein, dass ein Prozent der Menschen reicher ist als 50 Prozent der Ärmsten. Es kann nicht sein, dass in der Welt genug Nahrungsmittel für alle Lebewesen produziert werden können, aber 735 Millionen Menschen jede Nacht hungrig zu Bett gehen müssen.“ Die Minderung der sozialen Ungleichheit hatten sich die linken Parteien und hier zuvorderst die Regierungspartei PT zunächst mit Blick auf das eigene Land auf die Fahnen geschrieben. Erst mit der Diffusion postkolonialer Theoriekonstrukte von den Universitäten in den Politikbetrieb erfolgte ihre Ausweitung auf die Außenbeziehungen Brasiliens. In seiner präsidentiellen Außenpolitik nutzt Lula postkoloniale Argumentationsmuster primär, um seine Unterstützungsbasis zu Hause zu festigen; sekundär, um auch im Ausland Zuspruch zu finden. Es besteht also eine Wechselbeziehung zwischen der Innen- und Außenpolitik Brasiliens.

 

Außenpolitische Prioritäten und postkoloniale Ambivalenzen

Es ist genau diese Wechselwirkung zwischen Innen- und Außenpolitik, die auch die erhebliche Disparität zwischen Bolsonaro und Lula in ihrem Verhältnis zu Israel erklärt. Lulas Vorgänger Bolsonaro begeisterte sich regelrecht für das „Heilige Land“ und suchte den Schulterschluss mit der israelischen Regierung. Zu Benjamin Netanjahu unterhielt er beste Beziehungen und bezeichnete ihn als Freund und Bruder. Vereinfacht wurde dieses innige Verhältnis natürlich durch eine weltanschauliche Nähe zwischen beiden Regierungschefs. Aus seiner dezidiert pro-israelischen Einstellung konnte Bolsonaro jedoch auch innenpolitisches Kapital schlagen.

Evangelikale stellen in Brasilien einen bedeutenden politischen Faktor dar.

Das Bekenntnis zu Israel ist dabei nur ein, dafür aber besonders sichtbares, Zeichen, wie sich der ehemalige Präsident als Verteidiger christlich-abendländischer Werte inszenierte. Ähnliches lässt sich beim US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump beobachten, der ebenfalls als vehementer Unterstützer Israels und der Netanjahu-Regierung gilt. Untermauert wird diese zur Schau gestellte Religiosität durch die knapp gescheiterten Attentate auf Bolsonaro und Trump. Beide wähnten sich fortan dafür bestimmt, die Geschicke ihres Landes zu leiten. Wichtigster, wenn auch nicht einziger, Adressat einer solchen Inszenierung sind die Evangelikalen, die eine loyale Basis bieten.

In Brasilien sind die Evangelikalen schon längst ein bedeutsamer Faktor in der Politik geworden, der nicht ignoriert werden kann. Keine andere Glaubensgemeinschaft wächst so stark wie diese charismatische Wandlung der Kirche. Bolsonaro hatte instinktiv die Bedeutung der Evangelikalen erkannt und sie von Anfang an in seine Kampagne eingebunden. So war er mit einem der bekanntesten Pastoren Brasiliens nach Israel gereist und hatte sich dort von ihm im Jordan taufen lassen. Seine Strategie verhieß Erfolg. Auch heute noch würden rund 80 Prozent der Evangelikalen für Bolsonaro stimmen. Bei Kundgebungen in Brasilien, die von Bolsonaro unterstützt werden, gehört es mittlerweile dazu, dass in der in den Nationalfarben gelb und grün gekleideten Masse immer wieder die israelische Flagge aufblitzt. Neben den Evangelikalen findet die politische Rechte traditionell Unterstützung in der Mittel- und Oberschicht des Landes. Eine gewisse ethnische Differenz zwischen den beiden politischen Extremen lässt sich daher auch im so heterogenen Brasilien erkennen.

Die Linke versucht, die brasilianische Identität stärker auf ihre nichteuropäischen Wurzeln auszurichten.

Die politische Linke hingegen orientiert sich an anderen Bevölkerungsgruppen, um diese als Unterstützungsbasis zu konsolidieren. Der ehemalige Arbeiterführer Lula vermochte es bislang nicht, die Evangelikalen hinter sich zu scharen, und setzt daher voll auf seine traditionelle Anhängerschaft. Gerade innerhalb der universitären Linken, die typischerweise anti-US-amerikanische Ressentiments bedient, lässt sich Zuspruch generieren, indem ein bestimmter Kanon an Ländern oder Persönlichkeiten adressiert wird. So, wie bei den Rechten Trump, Javier Milei oder Nayib Bukele hoch im Kurs stehen, verfügt auch die Linke über ihre Ikonen. Besonders in seinen ersten beiden Mandaten drückte Lula so regelmäßig Sympathien für den venezolanischen Staatschef Hugo Chávez und den kubanischen Präsidenten Fidel Castro aus. Es blieb dabei im Wesentlichen bei Sympathiebekundungen, die zu unverbindlich waren, um Brasilien außenpolitisch zu schaden, aber gleichzeitig deutlich genug, um seine Unterstützer zu Hause zu umgarnen.

Doch gingen den Linken offenbar einige ihrer Vorbilder aus. Die Begeisterung für das Castro-Kuba geht zweifellos auf die 1950er- und 1960er-Jahre zurück, in denen die kleine Insel den übermächtigen Vereinigten Staaten die Stirn bot und ihre Revolution zu exportieren versuchte. Die Begeisterung für das Chávez-Venezuela liegt in den 2000er-Jahren begründet, als es die sprudelnden Einnahmen aus dem Ölgeschäft ermöglichten, großzügige Sozialprogramme aufzulegen. Aber schon das letztgenannte Beispiel weist ein Verfallsdatum auf. Sobald die Petrodollars nicht mehr die Staatskasse fluteten, verblasste der Glanz des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ und trübte sich die Euphorie seiner Unterstützer ein. So büßte Venezuela in den vergangenen 20 Jahren seine Strahlkraft sowohl auf die brasilianische als auch auf die lateinamerikanische Linke ein. Erst der Aufstieg postkolonialer Theorien an den Universitäten schuf einen neuen Akklamationsrahmen.

In Verbindung mit der Identitätspolitik wurde die zuvor materiell angelegte Ungleichheitsdoktrin um eine ethnische Komponente ergänzt. Durch den Postkolonialismus verläuft die neue imaginierte Konfliktlinie also nicht mehr nur zwischen den Besitzenden und den Mittellosen, sondern auch zwischen weiß und nichtweiß. Dadurch, dass ein neues Attribut hinzugefügt wird, ermöglicht sich die Ausweitung des verbindenden Elements. War es bis dato ein wie auch immer gearteter internationaler Sozialismus, also eine anhand politischer Schnittmengen definierte Allianz, ist es nun eine Kategorie an Staaten mit kolonialer Vergangenheit und den entsprechenden ethnischen Charakteristika ihrer Bevölkerung. Als Bezeichnung für diese Staatengruppe wird auch in Brasilien kaum noch das Äquivalent für „Entwicklungsländer“ verwendet, sondern es hat sich „Globaler Süden“ eingebürgert. Die politische Linke versucht, die brasilianische Identität stärker auf ihre nichteuropäischen Wurzeln auszurichten.

In anderen Staaten Lateinamerikas lässt sich in den vergangenen Jahrzehnten eine ähnliche Entwicklung beobachten, die als Re-Indigenisierung bezeichnet wird. Länder wie Ecuador, Peru und insbesondere Bolivien exponieren ihr indigenes Erbe, was auch zulasten des europäischen Einflusses geht. Durch diese „Rückbesinnung“ versprechen sich die Staatschefs eine soziokulturelle Festigung des Nationalstaats – und ihrer Unterstützungsgruppen. In Brasilien lässt sich ein ähnliches, wenn auch deutlich abgeschwächtes Unterfangen mit der Betonung der afrikanischen Wurzeln der brasilianischen Nation beobachten. Was den innenpolitischen Gegensatz zwischen links und rechts befeuert, ist daher nicht zuletzt die Frage nach der eigenen Identität und welchen Stellenwert die europäischen oder afrikanischen Wurzeln Brasiliens einnehmen sollen. Während die Linken in die postkoloniale Solidarität einscheren und das europäische Erbe in Zweifel ziehen, wird die Rechte nicht müde, sich als Bewahrerin einer abendländisch-christlichen Kultur darzustellen, die implizit das Band mit Europa knüpft.

Freilich handelt es sich dabei um Kontrastpositionen, die jedoch in der präsidentiellen Außenpolitik der beiden Gegenpole Lula und Bolsonaro zum Tragen kommen. So wie Lula ausfällig über Israel wurde, äußerte sich Bolsonaro wiederholt undiplomatisch gegenüber Venezuela. Beide Präsidenten attackierten damit die auswärtigen Freunde ihrer innenpolitischen Gegner, um diese in Verruf zu bringen. Diese Ausschläge in der präsidentiellen Außenpolitik finden sich so allerdings nicht in der institutionellen Außenpolitik des Itamaraty genannten brasilianischen Außenministeriums wieder. In seinen Außenbeziehungen setzt das Land insgesamt auf Kontinuität und eine gehörige Portion Pragmatismus. Dieser Pragmatismus führt dazu, dass von allzu politisch motivierten Allianzen in der Regel Abstand gehalten wird. Was zählt, ist der Nutzen für Brasilien.

Programmatisch schließt das nicht ein postkoloniales Argumentationsmuster in der brasilianischen Außenpolitik aus. Etablierte Machtbeziehungen infrage zu stellen und diese gegebenenfalls abzulösen, bietet einige Anknüpfungspunkte für die Diplomaten des Itamaraty. So ist die Reform des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, das Schaffen alternativer Leitwährungen neben dem US-Dollar oder ein Wandel in den verbliebenen Bretton-Woods-Institutionen, wie dem Internationalen Währungsfonds, seit geraumer Zeit ein Anliegen Brasiliens. Die Veränderung des globalen Status quo ist im Interesse des Landes. Brasilien sieht sich als (kommende) Großmacht und priorisiert seine Außenbeziehungen dahingehend, dass die wirtschaftliche Entwicklung und das internationale Ansehen gesteigert und seine Ambitionen untermauert werden. Postkoloniale Diskurse in der Außenpolitik können daher situativ der Logik des Außenministeriums entsprechen.

Lulas Holocaust-Vergleich stieß nicht nur Diplomaten sauer auf.

Gerade für zwei Weltregionen lässt sich dies feststellen: für den Mittleren Osten und Subsahara-Afrika. Schon vor dem 7. Oktober 2023, nämlich seit den 1970er-Jahren, teilte die brasilianische Außenpolitik die Auffassung, die palästinensische Eigenständigkeit gegenüber Israel zu unterstützen. Das äußerte sich darin, dass Brasilien bei den verschiedenen Abstimmungen in internationalen Organisationen, allen voran den Vereinten Nationen, für die Palästinenser Partei ergriff. Brasilien beherbergt zwar die weltweit größte Diaspora von Syrern und Libanesen, doch ist dieser Umstand kein Grund für die Parteinahme. Stattdessen ist es ein strategisches Kalkül. War Brasilien vor 50 Jahren noch von Öllieferungen aus der arabischen Welt abhängig, überwiegen auch heute noch ökonomische Faktoren hinter dem Votum für die Palästinenser. Demografisch und wirtschaftlich kann Israel nicht mit den arabischen Staaten mithalten. Gegenwärtig ist Brasilien zwar nicht mehr auf Ölimporte angewiesen, betreibt aber regen Handel mit der arabischen Welt, die ein nicht zu unterschätzendes Ziel brasilianischer Exporte darstellt.

Es bleibt aber festzuhalten, dass die Parteinahme für die Palästinenser nicht voller weltanschaulicher Überzeugung ist. Das Votum für die arabische Welt soll nicht als Stimme gegen Israel aufgefasst werden, wie es das Itamaraty darzustellen versucht. Zwischen der präsidentiellen und der institutionellen Außenpolitik besteht daher phasenweise ein Spannungsverhältnis, insbesondere dann, wenn der Präsident allzu sehr von der Linie des Itamaraty abweicht. Lulas Holocaust-Vergleich stieß nicht nur den Diplomaten, sondern auch der interessierten Öffentlichkeit sauer auf und seitdem hält sich der Präsident mit seinen Äußerungen zurück. Bolsonaro scheiterte hingegen mit dem Versuch, die brasilianische Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem zu verlegen. Die divergierenden Beispiele der Präsidenten Bolsonaro und Lula sind an den beiden Extremen des außenpolitischen Spektrums angesiedelt. Als Chef der Exekutive verfügt der brasilianische Präsident über mannigfaltige Einflussmöglichkeiten auf den außenpolitischen Kurs des Landes, doch sind ihm auch Grenzen gesetzt.

Brasiliens afrikanisches Erbe macht Beziehungen über den Südatlantik hinweg historisch greifbar.

Auch gegenüber Subsahara-Afrika verfolgt Brasilien eine interessengeleitete Politik. Seit den 1970er-Jahren versucht Brasilien, seine Beziehungen über den Südatlantik hinweg auszubauen. Beliebte Anknüpfungspunkte sind der erhebliche afrobrasilianische Bevölkerungsanteil und das Erbe der portugiesischen Kolonialherrschaft, was sich vor allem gegenüber den PALOP-Staaten, also denjenigen afrikanischen Ländern, in denen Portugiesisch Amtssprache ist, ausdrückt. Indem es sich den afrikanischen Staaten gegenüber als Entwicklungsland darstellt, zielt Brasilien darauf ab, in internationalen Organisationen, insbesondere den Vereinten Nationen, eine breitere Unterstützungsbasis aufzubauen. Auch dabei ist das Ziel, für sich selbst gewisse Vorteile zu erreichen. Die Lusophonie ist dabei aber kein Ausschlusskriterium, sondern vereinfacht allenthalben den Austausch. Zur Hochphase seiner Afrikapolitik in den 2000er-Jahren intensivierte Brasilien auch die Beziehungen zum anglo- und frankophonen Afrika.

Während der israelisch-palästinensische Dualismus innerhalb der postkolonialen Theorien einen besonderen Stellenwert einnimmt und besonders anfällig für Polemiken ist, weisen die brasilianischen Beziehungen zu Subsahara-Afrika einen anderen Hintergrund auf. Wegen des markanten afrikanischen Erbes Brasiliens sind die Beziehungen über den Südatlantik hinweg mehr als nur ein weltpolitischer Lackmustest, wie im Falle Israels, sondern historisch greifbar. Es ist daher alles andere als abwegig, dass Präsident Lula die Gemeinsamkeiten zwischen Brasilien und Afrika hervorhebt. Auch hier gilt jedoch, dass der ehemalige Arbeiterführer sich vom Itamaraty abzuheben versucht. So pflegt er die Beziehungen zum afrikanischen Kontinent tendenziell intensiver, als sie von der institutionellen Außenpolitik konzipiert werden.

Kurz bevor er den Vergleich zwischen den israelischen Angriffen auf den Gazastreifen und den genozidalen Verbrechen der Nationalsozialisten vor der Generalversammlung der Afrikanischen Union aufstellte, beschwor er das Band zwischen Brasilien und Afrika: „Der Kampf Afrikas hat viel gemein mit den Herausforderungen Brasiliens. Mehr als die Hälfte der 200 Millionen Brasilianer haben nach eigenen Angaben afrikanische Wurzeln. Wir, Afrikaner und Brasilianer, müssen in der kommenden Weltordnung unsere eigenen Wege beschreiten.“ Auch hierbei verfolgte der Präsident eine außen- und eine innenpolitische Stoßrichtung. Das Beschwören gemeinsamer Wurzeln soll die Verbundenheit zwischen Brasilien und dem afrikanischen Kontinent über den Südatlantik hinweg stärken und außenpolitisch Einfluss und Unterstützung generieren. Innenpolitisch generiert die Afrikapolitik des ehemaligen Gewerkschaftsführers Sympathie und Zustimmung unter denjenigen Bevölkerungsgruppen, die sich immer selbstbewusster zu ihren afrikanischen Wurzeln bekennen.

 

Auf Kurs Westsüdwest?

Brasiliens Einstieg in die sogenannte Süd-Süd-Kooperation erfolgte nicht zufällig im „Verlorenen Jahrzehnt“. In den 1980er-Jahren ächzte das Land unter einer drückenden Schuldenlast und war volkswirtschaftlich kaum handlungsfähig. Wurde es zuvor als „zweites Japan“ gehandelt und schien fast schon die Schwelle zu einem Industrieland überschritten zu haben, verschwand das Land im Schuldensog. Erst nachdem es von seinen vormaligen engen Partnern in Nordamerika und Westeuropa enttäuscht wurde, erst als diese keine Unterstützung mehr für die Prämisse der wirtschaftlichen Entwicklung Brasiliens boten, orientierte sich das Land gen Süden. Egal ob bei den BRICS oder bei einem Überschwang postkolonialer Rhetorik darf dieser historische Umstand nicht vergessen werden. Äußerungen und Entscheidungen aus dem brasilianischen Präsidentenpalast mögen überraschen und irritieren, und doch ist Brasilien nach wie vor ein westliches Land. Der Westen, das sind nicht nur die NATO oder die OECD. Er reicht weiter. Europäer und Deutsche müssen sich wieder attraktiv machen. So attraktiv, dass Brasilien von sich aus an einer Wiederaufnahme der engen Zusammenarbeit, wie sie vor den 1980er-Jahren bestand, interessiert ist. Das geht nur mit Angeboten, die im beiderseitigen Interesse liegen.

 


 

Philipp Gerhard ist Trainee im Auslandsbüro Brasilien der Konrad-Adenauer-Stiftung.

 


 

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