Ausgabe: 2/2025
- Postkoloniale und antikapitalistische Denkmuster gehen in Lateinamerika seit Jahrzehnten eine Symbiose ein, aus der sich die Rhetorik vieler Linker in der Region speist; Epizentrum dieses Diskurses ist Havanna.
- Besagter Diskurs zeichnet sich weltpolitisch durch ausgeprägtes Schwarz-Weiß-Denken aus: auf der einen Seite der Westen als Aggressor, auf der anderen Seite der „Globale Süden“ – autoritäre Regime eingeschlossen – als Opfer.
- Die Verteidigung und Verklärung linksautoritärer Regierungen in Lateinamerika ist Kernbestandteil dieser Rhetorik und der Organisationen, die sie transportieren: an erster Stelle das 1990 von Fidel Castro und Lula da Silva gegründete Foro de São Paulo. Kritik an Diktaturen wird abgewiesen. Diese verstoße gegen das Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten.
- Während die lateinamerikanische Linke den „Imperialismus“ des Westens kritisiert, ignoriert sie viel zu oft die imperialen Bestrebungen ihrer internationalen Verbündeten wie Russland und China.
- Kulturell-diskursive Dominanz ist ein Erfolgsfaktor für die lateinamerikanische Linke. Das Mitte-Rechts-Spektrum sollte sich dieser Auseinandersetzung stellen und Begriffe wie Demokratie und universelle Menschenrechte gegen identitätspolitische Verfälschungen verteidigen.
Am 19. Januar 2025 veröffentlichte das von der kubanischen Diktatur gelenkte Online-Medium Cubadebate in seiner Reihe „Antikapitalistische Tribüne“ einen Kommentar mit dem Titel: „Gegen den Faschismus und den Imperialismus: Politik, Taktik und Organisation“. In ihm bezeichnet Manu Pineda, spanischer Europaabgeordneter der „Vereinigten Linken“, die autokratischen Regime in Kuba und Venezuela als „wichtigste Pfeiler“ eines „antihegemonialen Projektes“ und fordert alle linken und „progressiven“ Bewegungen Lateinamerikas auf, hinter ihnen „ohne Angst und Komplexe“ die Reihen zu schließen und so die „politische und wirtschaftliche Dominanz des Westens“ herauszufordern. Jede „lauwarme“ Einstellung gegenüber Kuba und Venezuela torpediere die Anstrengungen, eine „gerechtere, multipolare Welt, die sich vom Joch des Imperialismus befreit hat“, zu schaffen. Der Europaparlamentarier konnte sich über weite Verbreitung seines Textes freuen. So reproduzierten ihn nicht nur der vom venezolanischen Regime kontrollierte regionale Fernsehkanal Telesur, sondern auch der Hisbollah-nahe libanesische Fernsehkanal Al Mayadeen sowie die syrische Nachrichtenagentur Shafaqna.
Der Kommentar steht in dreierlei Hinsicht beispielhaft für interne Dynamiken der lateinamerikanischen Linken: Zum einen exemplifiziert er eine weit verbreitete Sicht der internationalen Beziehungen, in welcher der Westen die Position des Bösen einnimmt, zu dessen Bekämpfung die angewendeten Mittel zweitrangig sind. Weiterhin zeigt der Text den transnationalen Charakter dieses Diskurses und seine weltweite Anschlussfähigkeit. So schreibt ein spanischer Linkspolitiker auf einer kubanischen Homepage zur Unterstützung linksautoritärer Regime in Lateinamerika und findet nicht nur dort, sondern auch in der islamistischen Szene Zustimmung. Und schließlich ist die Artikulationsachse des Diskurses einmal mehr Havanna, seit der kubanischen Revolution im Jahr 1959 quasireligiöser Sehnsuchtsort für Generationen lateinamerikanischer und internationaler Linker und selbsternannter Hort des antikolonialen Kampfes.
Viele Narrative der autoritären Linken Lateinamerikas stammen entweder direkt aus der kubanischen Diskursküche oder wurden dort als Zutaten angeliefert, mit revolutionär-romantischem Aroma angereichert und anschließend auf dem gesamten Kontinent konsumiert und assimiliert. Insbesondere gilt dies für Diskurse, die sich in postkoloniale Denkmuster einpassen. Susanne Schröter definiert diese: „Die postkoloniale Theorie basiert im Wesentlichen auf einem binären Weltbild, in dem die Täter- und Opferpositionen klar verteilt sind. Vereinfacht geht es um den ‚Westen‘ als Täter und den sogenannten Globalen Süden als Opfer.“ Vor diesem Hintergrund weist Schröter ebenfalls darauf hin, wie viele postkoloniale Theoretiker in der Tradition der ursprünglich von der Sowjetunion betriebenen Verbindung zwischen Antikolonialismus und Antikapitalismus im Rahmen einer kommunistischen Logik stehen. Der Sowjetunion, so die Autorin, gelang es damit, sich international als antikoloniale Macht darzustellen, obwohl sie selbst kolonial agierte.
„Hyänen und Schakale“
Das postrevolutionäre Kuba wurde schnell zum lateinamerikanischen Labor dieser Verbindung von Antikolonialismus und Antikapitalismus. Exemplarisch stehen hier die Worte des ehemaligen Industrieministers und Zentralbankpräsidenten der Revolutionsregierung, Ernesto „Che“ Guevara, im Soldatenrock vor den Vereinten Nationen im Jahr 1964: „Unsere freien Augen öffnen sich heute in Richtung neuer Horizonte. Sie sind frei, das zu sehen, was sie in der Zeit, als wir koloniale Sklaven waren, nicht sehen konnten – dass die ‚westliche Zivilisation‘ hinter ihrer prächtigen Fassade ein Bild voller Hyänen und Schakale versteckt.“
Daraus folgerte der 1967 beim Guerillakampf in Bolivien getötete Guevara die Forderung nach einer „Befreiung Lateinamerikas vom kolonialen Joch“. Bereits vier Jahre zuvor hatte Fidel Castro vor demselben Weltgremium erklärt: „Es muss klargestellt werden, dass die Regierung der USA nicht Anwalt der Freiheit ist, sondern Ausführungsorgan der Ausbeutung und der Unterdrückung gegen die Völker der Welt.“
Kubas Diktatur versteht sich seit ihrem Ursprung 1959 als Opfer und reklamiert diesen Opferstatus global für die „Völker der Welt“. Getreu seiner Charakterisierung der westlichen Zivilisation als eine Ansammlung von „Hyänen und Schakalen“ fand das Castro-Regime schnell zum symbiotischen Bund mit der Sowjetunion als in Wahrheit wichtigstem Antagonisten der freien Welt.
Der argentinische Diplomat und Journalist Juan B. Yofre zeigt in seinem Werk „Es war Kuba“, dass die Koordination der Politik der kubanischen Revolutionsregierung mit der Sowjetunion schon unmittelbar nach der Machtergreifung der Revolutionäre begann. Die Abhängigkeit Kubas als „Untergeordneter“ und nicht als Bündnispartner der Sowjetunion wurde im Rahmen der sogenannten Kubakrise 1962 besonders deutlich. Damals wurde die Stationierung von sowjetischen Mittelstreckenraketen und Truppen auf Kuba in Moskau beschlossen, bevor die kubanischen Autoritäten von den Plänen überhaupt in Kenntnis gesetzt wurden.
Trotz seiner Eigenschaft als De-facto-Vasallenstaat der Sowjetunion prägte Kuba die 1961 in Belgrad gegründete sogenannte Blockfreienbewegung und nutzte diese Bühne zur weltpolitischen Profilierung mit dem hohen moralischen Anspruch eines „Beispiels“ für die Welt. Die kubanischen Guerillakrieger und ihre gezielte mediale Inszenierung bedienten die Revolutionssehnsucht von Generationen lateinamerikanischer und europäischer Linker. Der Erfolg dieser Strategie war und ist durchschlagend. Trotz der Bilanz der kubanischen Ein-Parteien-Diktatur mit zehntausenden Opfern, unzähligen Menschenrechtsverbrechen und der Abwesenheit von Rechtsstaatlichkeit, freier Presse oder legaler Opposition seit mindestens 65 Jahren bestimmt Havanna weiter in erstaunlicher Weise die Diskurse vieler lateinamerikanischer Linker. Die moralische Reinwaschung oder zumindest Relativierung der kubanischen Diktatur ist kulturell dabei auch im Westen verankert. Ein Beispiel hierfür ist der Hollywood-Streifen „Die Reise des jungen Che“ aus dem Jahr 2004, der auf einer Autobiografie seines Protagonisten basiert.
Dieser andauernde Image-Erfolg der kubanischen Diktatur ist besonders überraschend, da die Vorzeichen für sie nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion von 1989 bis 1991 alles andere als vielversprechend erschienen. Kuba, das über keinerlei nennenswerte Rohstoffvorkommen verfügt, stürzte nicht nur in eine schwere Wirtschafts-, sondern auch in eine Sinnkrise.
In dieser Situation wandte sich Fidel Castro an seine lateinamerikanischen Freunde und Bewunderer, angeführt vom brasilianischen Gewerkschafter und heutigen Staatspräsidenten Luiz Inácio („Lula“) da Silva. Gemeinsam luden beide 48 linksrevolutionäre Parteien und teilweise gewaltbereite Organisationen aus 14 Ländern vom 2. bis 4. Juli 1990 nach São Paulo ein. Ziel war es, „einheitliche und einstimmige Vorschläge im antiimperialistischen Kampf des Volkes“ zu erarbeiten. Geboren war das Foro de São Paulo (FSP). Innerhalb von nur einer Dekade konnten mit dem FSP verbundene Kräfte in einem Großteil der Region durch demokratische Wahlen an die Macht gelangen. Zentraler Fackelträger und Financier dieses neuen Zusammenschlusses wurde dabei der 1999 ins Amt gekommene venezolanische Staatschef Hugo Chávez. Der alternde Fidel Castro wurde für Chávez zu einer Art ideologischer Vaterfigur, deren Regime er durch venezolanische Erdöleinnahmen zu stabilisieren half.
Kronjuwel der kubanischen soft power
Das FSP, für das die vorbehaltlose Verteidigung des Regimes in Havanna identitätsstiftend war und ist, wurde schnell zum Kronjuwel der kubanischen soft power. Hierdurch gelang es, den kubanischen Diskurs vom internationalen und antikolonialen Klassenkampf gegen den westlichen Systemfeind USA in ganz Lateinamerika nicht nur weiter hoffähig zu machen, sondern ihm an die zentralen Schalthebel der Macht zu verhelfen. So ist das 2017 in Managua (Nicaragua) verabschiedete politische Grundsatzprogramm des FSP, der „Consenso de Nuestra América“, nicht nur „dem Beispiel für revolutionäre Konsequenz des Kommandanten Fidel Castro“ gewidmet, sondern fordert auch die „Befreiung unserer Völker von der imperialistischen und kapitalistischen Herrschaft“ sowie von der „kolonialen Beherrschung“.
Blickt man auf die Parteien, die derartige Erklärungen durch ihre Mitgliedschaften im FSP legitimieren, findet man neben den autokratischen Staatsparteien aus Kuba, Venezuela oder Nicaragua auch nach innen demokratischen Spielregeln folgende Parteien wie die brasilianische Arbeiterpartei Lulas, die Sozialistische Partei Chiles der ehemaligen Präsidentin und UN-Menschenrechtshochkommissarin Michelle Bachelet, die Frente Amplio Costa Ricas oder wichtige Teile der uruguayischen und chilenischen Frente Amplio. Offenbar zeigen diese Parteien wenig Berührungsängste mit ihren autokratischen Schwestern. Gleichzeitig werden antiwestliche Ressentiments innenpolitisch zur Legitimierung der eigenen Herrschaft genutzt. Nur ein Beispiel ist der Brief des ehemaligen linkspopulistischen mexikanischen Staatschefs Andrés Manuel López Obrador (AMLO), dessen Partei MORENA ebenfalls zum FSP gehört, an den spanischen König im Jahr 2019. Felipe VI. solle sich, so AMLO, für die Verbrechen während der spanischen Eroberung Amerikas im 16. Jahrhundert entschuldigen. Die Weigerung des Monarchen, Folge zu leisten, führte zu dessen Nicht-Einladung zur Amtsübernahme von AMLOs Nachfolgerin und Parteifreundin Claudia Sheinbaum.
Wie das 2024 erschienene Buch „Die rosa Galaxie“ zeigt, wuchs aus dem FSP und dem Tandem Lula/Castro ein ganzes Ökosystem an linken internationalen Organisationen, Parteienverbänden, Thinktanks, Akademikervereinigungen, Aktivistengruppen und staatlichen sowie privaten Presseorganen. Teil dieser rosa Galaxie sind etwa die aus mehrheitlich prominenten Linkspolitikern bestehende Aktivistengruppe der Grupo de Puebla um die Ex-Präsidenten Rafael Correa (Ecuador) und Evo Morales (Bolivien) sowie den spanischen Ex-Ministerpräsidenten José Luis Rodríguez Zapatero, der Akademikerverband Consejo Latinoamericano de Ciencias Sociales (CLACSO) oder die überregional agierende, aber stark in Lateinamerika verankerte Organisation „Progressive International“.
Derartige Gruppen bauen ideologisch auf die von der Komintern bis zur Blockfreienbewegung etablierte Tradition des Internationalismus der Linken auf. So stellte die „Progressive International“ ihren Gründungskongress 2019 unter den Titel „Internationalismus oder Auslöschung“ und verabschiedete eine Grundsatzerklärung, in der sie die „Dekolonialisierung des Planeten“ forderte. Epizentrum dieser Versuche bleibt dabei Kuba. So veranstaltete die Organisation in Havanna im Jahr 2024 mit dem kubanischen Staatschef Miguel Díaz-Canel als Starredner einen Kongress über eine „neue Weltwirtschaftsordnung“. Gemeinsam erarbeiteten Persönlichkeiten wie der ehemalige kolumbianische Präsident Ernesto Samper, der ehemalige ecuadorianische Präsidentschaftskandidat Andrés Arauz oder der Koordinator der Grupo de Puebla, Marco Enríquez-Ominami, einen „Plan zum Aufstand des Globalen Südens, zur Erneuerung des Weltsystems durch neue und alternative Institutionen“.
Transnationale autoritäre Kooperation
In der Tradition der engen Verbindung Kubas zur Sowjetunion unterhalten zentrale Akteure der autoritären lateinamerikanischen Linken engste Verbindungen zu den internationalen autoritären Playern Russland, China und Iran, während sie deren imperialistische Aktivitäten weitgehend ignorieren. Wie schon bei Che Guevara ist auch heute das gemeinsame Ziel die Bekämpfung der Vorherrschaft der westlichen, freiheitlich-demokratischen Ordnung. Statt des globalen Exports des Guerillakampfes setzt man heute auf andere Formen der transnationalen autoritären Kooperation – etwa im medialen, akademisch-kulturellen und politischen Bereich. Dass sich diese Beziehung gerade für China auch wirtschaftlich lohnt, ist mehr als nur ein Nebeneffekt.
Besonders auffällig sind die medialen Verbindungen. So ist das spanischsprachige Programm von Russia Today (RT) nicht nur das erfolgreichste fremdsprachige Programm des Kreml-Sprachrohrs überhaupt, sondern rekrutiert seine Journalisten häufig aus ehemaligen Mitarbeitern venezolanischer oder kubanischer Staatsmedien sowie aus dem Umfeld linkspopulistischer Politiker. Nur eines von vielen Beispielen ist die Talkshow, in der der ehemalige ecuadorianische Staatschef Rafael Correa auf RT Gesinnungsgenossen wie Nicolás Maduro (Venezuela), Evo Morales (Bolivien) oder Cristina Fernández de Kirchner (Argentinien) interviewt. Zudem nehmen russische Auslandsmedien wie RT oder Sputnik Narrative des venezolanischen Regimes genauso auf wie venezolanische Staatsmedien etwa die „Befreiung“ von Städten in Donezk durch die russische Armee feierten. Einer ähnlichen Logik folgt der iranische spanischsprachige Auslandskanal HispanTV, der neben seinem israelfeindlichen Programm eine klare Färbung mit den Narrativen der rosa Galaxie aufweist. Für den spanischen Politologen Sergio Castaño ist dies allen ideologischen Unterschieden zum Trotz damit zu erklären, dass islamistische Gotteskrieger und selbsternannte laizistische „Progressive“ „im Antikapitalismus und Antiimperialismus Gemeinsamkeiten finden, die sie dazu bringen, Synergien zu nutzen, um ihre jeweiligen Ziele voranzutreiben“.
Ähnliches geschieht im akademischen Raum. So fand im Oktober 2023 während des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine ein akademisches Forum statt, das linke Wissenschaftler mit akademischen Kreml-Apologeten zusammenbrachte – organisiert von der Staatlichen Universität Sankt Petersburg, der Agentur Sputnik sowie dem akademischen Arm der rosa Galaxie, CLACSO. Anwesend auf dem Kongress war der ehemalige CLACSO-Exekutivdirektor Atilio Borón, der in der lateinamerikanischen Presse schreibt, Russland verteidige sich gegen die „Aggression“ der NATO. Die Unterwerfung von CLACSO unter die kubanische Agenda wurde 2023 deutlich, als die amtierende Exekutivdirektorin Karina Batthyány in die staatliche Akademie der Wissenschaften Kubas aufgenommen wurde. Die uruguayische Soziologin erklärte in einem Land mit gleichgeschalteten Universitäten: „Uns eint ein offener, kritischer und gesellschaftlich relevanter wissenschaftlicher Erkenntnisgewinn.“ CLACSO „kooperiert“ auch mit staatlichen chinesischen Forschungseinrichtungen, etwa im Rahmen eines Buchprojektes 2023, welches die offizielle Geschichtsschreibung der Kommunistischen Partei Chinas in spanischer Sprache verbreitet.
Politisch stehen China, Russland und die rosa Galaxie vereint hinter den linksautoritären lateinamerikanischen Regimen. Jüngstes Beispiel ist die Gratulation des chinesischen Botschafters in Nicaragua zur neuen Verfassung an die dortige Diktatur im März 2025. Die Magna Charta, die der Herrscherfamilie Ortega-Murillo alle Macht im Staate sichert und den Rechtsstaat und die Gewaltenteilung faktisch aussetzt, sei „demokratisch“ und „revolutionär“, so der Diplomat. Chinas Präsident Xi Jinping war einer der ersten Gratulanten des autoritären Staatschefs Nicolás Maduro nach der Wahlfarce in Venezuela vom 28. Juli 2024. Das venezolanische Regime und seine Regierung seien „gute Freunde, die sich gegenseitig vertrauen“, so Xi. China werde immer „die gerechte Sache Venezuelas“ unterstützen, sich „jeder ausländischen Einmischung“ zu widersetzen.
Absolutistische Sicht des Nichteinmischungsprinzips
Das aus der Blockfreienbewegung übernommene Argument der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten ist im linksautoritären Diskurs besonders präsent. In Bezug auf die Haltung der Grupo de Puebla zu Kuba und Venezuela bemerkt der chilenische Mitarbeiter der Gruppe, Daniel Flores: „Wir diskutieren diese Projekte nicht, weil wir Respekt vor der Autonomie der Völker haben.“ Wenn jedoch jede Kritik an autoritären Regimen mit dem Argument der „Autonomie der Völker“ abgewiesen wird, bedeutet dies de facto die Infragestellung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und des Konzeptes der individuellen Rechte jedes Menschen. Hier trifft sich das Narrativ der lateinamerikanischen Linken mit der seit Jahren aus Peking betriebenen internationalen Umwidmung des Menschenrechtsbegriffs in dem Sinne, dass das „Recht auf wirtschaftliche Entwicklung über alle Rechte priorisiert werden muss – insbesondere über zivile und politische Rechte“.
Der US-amerikanische Jurist Tanner Larkin nennt diesen Versuch Chinas, die internationalen Normen umzuwidmen, „Normfare“. Die Kommunistische Partei Chinas hege dabei eine „harte, absolutistische Sicht auf Staatssouveränität und Nicht-Intervention“. Diese „harte, absolutistische Sicht“ führt zur direkten Gegnerschaft zur westlichen Demokratie. In dem Moment, wo der antikoloniale, antiimperialistische Kampf zum Selbstzweck wird, wird die freiheitliche Demokratie zum Herrschaftsinstrument des Westens.
Exemplarisch steht hier die Weltsicht des argentinischen Psychologen, Philosophen und marxistischen Aktivisten Marcelo Colussi in einem von CLACSO 2024 herausgegebenen und im Rahmen eines Kooperationsabkommens zwischen CLACSO und der schwedischen Entwicklungsagentur SIDA finanzierten Buch unter dem Titel „Auf in den Sozialismus“:
„Die Welt dreht sich um zwei entgegengesetzte Pole – die Besitzer der Produktionsmittel und die Arbeiter. Dazu kommen alle anderen Gegensätze: Patriarchat, Rassismus, Imperialismus, Kolonialismus, Heteronormativität, Ökozid. Der Sozialismus […] ist ein Kriegsruf, um eine neue Gesellschaft zu schaffen, in der all diese Ungerechtigkeiten gemeinsam ausgelöscht werden können.“ Später heißt es: „Was absolut klar erscheint, ist, dass es im Rahmen bourgeoiser Demokratien nicht möglich ist, durch Wahlen reale sozialistische Alternativen zu schaffen. […] Den Sozialismus erreicht man nur, indem man den Dominationsapparat der herrschenden Klasse zerstört – die Bourgeoisie.“
Kulturelle und politische Siege der autokratischen Linken
Warum jedoch sind antikolonial-antidemokratische Diskurse so erfolgreich? Einen Blick auf die Strategie der autoritären Linken bot Álvaro García Linera, ehemaliger Vizepräsident der Regierung von Evo Morales und Mitglied der Grupo de Puebla sowie der Progressive International, in einer Rede auf der von CLACSO organisierten „Lateinamerikanischen Konferenz für Sozialwissenschaften“ 2018:
„Regierungen und progressive Kräfte in Lateinamerika verfügten zudem über die Stärke, auf früheren kulturellen Erfolgen aufzubauen – sowohl über einen Zeitraum von zehn bis zwanzig Jahren als auch konzentriert in den Monaten oder Jahren vor großen kathartischen sozialen Aufständen. Gramsci hatte Recht: Alle populären, politischen oder militärischen Erfolge erfordern vorherige kulturelle Erfolge, die in verschiedenen Lebensbereichen erzielt wurden: an Universitäten, in den Medien, in der Nachbarschaft, im Alltag, in der Familie und so weiter.“
Den in der rosa Galaxie zusammengeschlossenen Akteuren der lateinamerikanischen Linken gelang es durch systematisches Vordringen in den kulturellen Bereich, wesentlich in Kuba gepflegte postkoloniale Denkmuster erfolgreich in die lateinamerikanische Moderne zu überführen.
Am Beispiel der linksautoritären Akteure der rosa Galaxie Lateinamerikas lässt sich die binäre postkoloniale Einteilung der Welt in „Täter“ und „Opfer“ gut nachvollziehen. Täter sind in dieser Logik die „Hyänen und Schakale“ der westlichen Zivilisation, der „Neoliberalismus“, der „Imperialismus“ und der „Faschismus“, während alle Akteure, die diesen bekämpfen, ausnahmslos in die Opferkategorie gehören, darunter auch autokratische Staaten und Diktaturen. So wird die im eingangs zitierten Artikel angemahnte Unterstützung Venezuelas und Kubas oder auch Chinas oder Russlands zu einer Art antikolonialem Glaubensbekenntnis und jede Relativierung zu einem Verrat. Diese Tendenz geht selbst manchem Linken zu weit. So schrieb der Journalist und ehemalige Büroleiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung in São Paulo und Buenos Aires, Gerhard Dilger, 2024 treffend in der taz:
„Selten hört man in diesen Kreisen ein böses Wort über selbstherrliche Caudillos wie Daniel Ortega in Nicaragua oder auch den Bolivianer Evo Morales, in deren Weltbild demokratische Regierungswechsel nicht vorgesehen sind. Das wohlbegründete Misstrauen gegen die USA und deren Interventionen seit 200 Jahren schlägt allzu oft in ein krudes Schwarz-Weiß-Denken um, das die Politik Beijings oder Moskaus noch heute in einem erstaunlich milden Licht erscheinen lässt.“
Diskursive Schwäche der politischen Mitte
Dabei ist die relative Stärke autoritärer und postkolonialer Diskurse in Lateinamerika auch der Schwäche der Gegenseite geschuldet. Die politische Mitte beziehungsweise das Mitte-Rechts-Spektrum beschränkt sich viel zu häufig auf Themen wie Wirtschaft und Sicherheit, ohne die autoritäre Linke im kulturell-diskursiven Bereich zu stellen. Diese Zurückhaltung ebnet den Akteuren der rosa Galaxie den Weg, da auch während konservativer Regierungsperioden der kulturell-intellektuelle Humus viel zu sehr von linksautoritären und postkolonialen Diskursen bestimmt bleibt. Andererseits öffnet die diskursive Schwäche der politischen Mitte rechtspopulistischen Akteuren die Tür, deren identitätspolitische und mitunter verschwörungstheoretische Agenda wenig mit einem freiheitlich-demokratischen Gesellschaftsverständnis zu tun hat. Ein Beispiel ist der 35-jährige argentinische Bestsellerautor Agustín Laje aus dem Dunstkreis der Unterstützer des argentinischen Präsidenten Javier Milei, der die Forderung eines „Kulturkriegs“ gegen den sogenannten „Globalismus“ in rechten lateinamerikanischen Kreisen populär macht.
Ein ernsthafter Versuch, auch auf kulturell-diskursivem Gebiet die Dominanz der rosa Galaxie zu durchbrechen und durch eigene freiheitlich-demokratische Narrative zu ersetzen, ist für die politische Mitte schon aus Selbsterhaltungsinstinkt dringend notwendig. Dafür gibt es zahlreiche Ansätze. So muss der Begriff der Demokratie als universelles politisches Leitbild ständig gegen Verformungen und Aushöhlungen von jeglicher Seite in Schutz genommen sowie mit Inhalt und Leben gefüllt werden. Das Gleiche gilt für den universellen Wert der Menschenrechte. Diese beiden Konzepte, die nach allen Umfragen weiterhin von einer großen Mehrheit der Lateinamerikaner grundsätzlich gestützt werden, sind die wichtigsten diskursiven Schätze der politischen Mitte. Umso wichtiger ist es deshalb auch, sie nicht durch eine zu weite Definition und identitätspolitische Interpretationen zu verwischen und somit angreifbar zu machen.
Auf der klaren Basis dieser Werte ist die Offenlegung der Widersprüche der autoritären Linken jenseits von rechten Echokammern dringend notwendig. Wenn es nicht gelingt, wichtige Teile der demokratischen Linken durch Information und Artikulation auch emotional von der autoritären Linken zu trennen, wird dieses Unterfangen extrem schwierig. Größte Herausforderung ist es, die zahlreichen Widersprüche hinter der ständigen Angriffshaltung des postkolonialen Diskurses aufzuzeigen und so das Täter-Opfer-Denken zu durchbrechen. Ansätze hierfür gibt es genug – von der Visualisierung der Menschenrechtsbilanz linksautoritärer Regime etwa durch die Sichtbarmachtung von Folter und politischen Gefangenen, der Entmystifizierung der antikolonialen Heldengestalten wie Fidel Castro oder „Che“ Guevara bis hin zur Offenlegung der internationalen Netzwerke autoritärer Kooperation.
Zudem sollten sich gerade die europäischen Staaten in Zeiten der geopolitischen Polarisierung bewusst sein, dass die Penetration antiwestlicher Diskurse an eher weniger beachteter Stelle, wie etwa an lateinamerikanischen Universitäten, umso effektiver ist. Nicht zuletzt sollte die europäische Entwicklungszusammenarbeit vor diesem Hintergrund genau überprüfen, ob all ihre „Partner“ diesen Namen auch wirklich verdienen. Denn hinter antikolonialen Diskursen verbirgt sich eine transnationale Struktur von Akteuren, die am westlich-zivilisatorischen Selbstverständnis nagen und die Grundwerte des freiheitlich-demokratischen Modells zu zerstören suchen.
Sebastian Grundberger ist Referent für die Andenländer bei der Konrad-Adenauer-Stiftung. Bis Dezember 2024 leitete er das Regionalprogramm Parteiendialog und Demokratie in Lateinamerika mit Sitz in Montevideo. Er ist Autor des Buches „Die rosa Galaxie. Wie linksautoritäre Netzwerke und ihre internationalen Alliierten die Demokratie in Lateinamerika untergraben“.
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