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KAS-Peter Bouserath
Essay

Das Adenauer-Bild der DDR

von Prof. Dr. Hermann Wentker

Diffamierungen und vergangenheitspolitische Kampagnen

Als personifiziertes Feindbild der DDR war Konrad Adenauer zahlreichen Anfeindungen und Unterstellungen ausgesetzt, die die SED gezielt über ihre Propagandainstrumente in der DDR und in der Bundesrepublik lancierte. Die verschiedenen Facetten der Anschuldigungen wirken bis heute nach. Sie entwickelten sich im Laufe der Zeit in Relation zum jeweils aktuellen Selbstbild der SED.

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CDU-Bundesparteitag am 14.-17. März 1964 in Hannover. Konrad Adenauer am Rednerpult. KAS-Peter Bouserath
CDU-Bundesparteitag am 14.-17. März 1964 in Hannover. Konrad Adenauer am Rednerpult.

Der erste Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, Konrad Adenauer, wurde zum Feindbild Nr. 1 für die DDR-Führung. Wie bei allen Feindbildern diente dies einerseits zur Abgrenzung in dem propagandistisch geführten deutsch-deutschen Kalten Krieg. Damit war andererseits die Konturierung eines positiven Selbstbildes untrennbar verbunden, das das genaue Gegenteil dessen darstellte, das die SED und ihre Hilfstruppen bekämpften. Kampagnen zur Beschwörung von Feinden dienen allgemein dazu, die eigene Identität zu bestärken und die Bevölkerung zu mobilisieren. Das gilt es zu bedenken, wenn im Folgenden auf die unterschiedlichen Elemente des Adenauer-Bildes der DDR näher eingegangen wird.

 

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Adenauer als Separatist und Landesverräter

Es war kein Zufall, dass im unmittelbaren Vorfeld der ersten Bundestagswahl am 14. August 1949 Adenauer vom Chefpropagandisten der SED, Albert Norden, als „Veteran des Landesverrats“ bezeichnet wurde. Und wenige Monate später stellte SED-Generalsekretär Walter Ulbricht fest: „Mit einem alten Separatisten wie Adenauer kann man keine Verhandlung führen.“ Damit und mit anderen Diffamierungen spielte die SED-Führung darauf an, dass Adenauer angeblich nicht zum ersten Mal einen Teil Deutschlands abspalten wollte: Bereits in den Jahren unmittelbar nach 1919 habe sich Adenauer für eine eigenständige Rheinische Republik stark gemacht. Diese Legende wurde vor allem von Otto Winzer, dem Leiter der Kanzlei von DDR-Präsident Wilhelm Pieck, in der Broschüre Der Vaterlandsverrat des Dr. Konrad Adenauer. Vom Separatismus zur ‚Integration Europas‘ (1952) verbreitet. Amerikaner und Franzosen, so wurde darin unterstellt, wussten schon 1945, dass sie sich Adenauers für die Losreißung Westdeutschlands bedienen konnten, da er schon in den frühen 1920er Jahren sein Vaterland verraten habe. Das Gleiche geschehe jetzt wieder. Dabei stützte sich Winzer vor allem auf eine trübe Quelle: die Erinnerungen des tatsächlichen Separatisten Hans Dorten, in denen dieser behauptete, Adenauer habe gemeinsam mit ihm und anderen in den 1920er Jahren einen eigenen „Rheinstaat“ errichten wollen. Winzer zog eine gerade Linie von den damaligen angeblichen separatistischen Bestrebungen Adenauers zu dessen Westpolitik nach 1948. Der Separatismus-Vorwurf war indes unzutreffend: Adenauer hatte für das besetzte Rheinland nach 1919 nur im äußersten Notfall an eine Loslösung von Preußen mit staatsrechtlich fixiertem Sonderstatus im Reichsverband gedacht – eine Abspaltung vom Deutschen Reich kam für ihn nicht in Frage. Die DDR knüpfte mit ihren Invektiven – ob bewusst oder unbewusst, sei dahingestellt – auch an NS-Publikationen an, die ebenfalls zu belegen versuchten, dass Adenauer ein Separatist gewesen sei. All das fand auch Eingang in die bundesdeutsche Publizistik: Kein geringerer als Rudolf Augstein zog ebenfalls eine Verbindung zwischen den Separatismus-Vorwürfen und der Westpolitik Adenauers. Der Hintergrund der Attacken aus Ost-Berlin war klar ersichtlich: Sie sollten die eigenen deutschlandpolitischen Offerten, die 1952 in der Stalin-Note gipfelten, legitimieren. Doch auch danach pflegte die DDR-Führung ihr Image als Verfechter der deutschen Einheit gegen den angeblichen Separatisten Adenauer. Als anlässlich von dessen Rücktritt 1963 das Neue Deutschland Adenauer mit Bismarck verglich, schnitt ersterer schlechter ab als letzterer: Bismarck habe die deutsche Einheit geschaffen – wenn auch eine „junkerlich-großbürgerliche“ –, Adenauer hingegen werde „in die Geschichte eingehen als Spalter Deutschlands, als Begründer des imperialistischen, militaristischen Separatstaates mit der Hauptstadt Bonn“. Wenngleich Adenauer in seiner Amtszeit wiederholt Berlin besuchte und seinen gehörigen Anteil daran hatte, dass West-Berlin die zweite Berlin-Krise (1958–1962) überlebte, machte die SED ihn überdies zu „Berlins ärgstem Feind“.

Adenauer als Kriegstreiber, Revanchist und Imperialist

Da Adenauer seit 1950 die Wiederbewaffnung betrieb, um auf diese Weise Souveränität und Sicherheit für die Bundesrepublik im Rahmen einer westlichen Verteidigungsgemeinschaft zu erlangen, wurde er aus Sicht der DDR-Führung zum „Kriegstreiber“. Die DDR hatte selbst seit 1948 (unter sowjetischer Regie) kasernierte Polizeiverbände aufgestellt, Vorläufer der 1952 ins Leben gerufenen Kasernierten Volkspolizei – sie war also keineswegs unschuldig an der Wiederaufrüstung im Westen Deutschlands. Doch als der Vertrag über eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft am 26./27. Mai 1952 auch von der Bundesrepublik unterzeichnet wurde, stand für die SED-Führung das Verdikt über die Bundesregierung fest: „Die Adenauer-Regierung ist die Regierung des reaktionärsten, militaristischen, profitgierigsten Kreise des westdeutschen Finanzkapitals, die unter dem Kommando des USA-Imperialismus Westdeutschland den aggressiven Zielen des Atlantikkriegspaktes opfern wollen. Die Adenauer-Regierung ist eine Vasallen-Regierung der USA.“ (Brief des SED-Politbüros an Stalin, 2.7.1952) Adenauer galt als „Lakai Amerikas“ und als Militarist, der im Auftrag Washingtons die Deutschen in einen Bruderkrieg treiben sollte. Das Argument fand sich auch in einer Urteilsbegründung des Obersten Gerichts von 1954 gegen sieben Angeklagte, die beschuldigt wurden, in der Organisation Gehlen tätig gewesen zu sein: „Adenauer und seine Hintermänner, die amerikanischen Imperialisten, glauben, daß sie ihre Ziele nur mit den Mitteln eines dritten imperialistischen Weltkrieges realisieren können.“ Und dazu bedienten sie sich der „Organisation Gehlen“, einer „faschistische[n] und militaristische[n] Organisation“. Vor diesem Hintergrund wurde Adenauer auch beschuldigt, Hitlers Macht- und Kriegspolitik fortzusetzen. In einer Kollage des Neuen Deutschland vom Dezember 1958 posierten über Adenauer am Rednerpult des Bundestages Adolf Hitler mit erhobenem rechtem Arm und Wilhelm II. mit gezogenem Säbel. Da der Bundeskanzler gleichzeitig am Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik und an der Nichtanerkennung der Oder-Neiße-Grenze festhielt, galt er der DDR-Führung zudem als Revanchist und Imperialist. In diesem Zusammenhang war die Charakterisierung Adenauers, der sich allen sowjetischen Vorschlägen zur Wiedervereinigung widersetzte, als „Apostel des Kalten Krieges“ noch relativ milde.

 

Adenauer als Exponent des „Monopolkapitals“

In der ostdeutschen Propaganda wurde Adenauer wiederholt auch mit dem nach 1945 wiederaufgestiegenen westdeutschen und internationalen „Finanz-“ oder „Monopolkapital“ in Verbindung gebracht. Das blieb jedoch nicht im Allgemeinen; die SED und insbesondere die Ost-CDU versuchten, diese Verbindung anhand verschiedener Personen zu konkretisieren. Um die angeblich engen Verbindungen Adenauers zum deutschen und internationalen „Monopolkapital“ zu belegen, wurde auf die entfernte US-amerikanische Verwandtschaft von Adenauers zweiter Frau, Gussie Zinsser, verwiesen. Deren Bruder Hugo Zinsser war Leiter der Rhein-Main-Bank gewesen; deren Cousins in den USA seien Teilhaber des amerikanischen Konzerns John P. Morgan. Überdies zählte der amerikanische Hohe Kommissar in Deutschland, John McCloy, zu deren Verwandtschaft. Das zeige, so der LDPD-Vorsitzende Manfred Gerlach, „die internationale Verflechtung des Großkapitals und die enge Beziehung Adenauers zu diesen Kreisen, die auch seine Rolle als willfähriges Werkzeug der amerikanischen Imperialisten erklärt“. Die Ost-CDU wiederum machte Adenauer dafür verantwortlich, dass die CDU in der Bundesrepublik zur „Partei der deutschen Finanzoligarchie“ geworden sei. Denn bekannte „Vertreter des westdeutschen Monopolkapitals“ wie Adenauer, Robert Pferdmenges, Hermann Josef Werhahn und Günter Henle gehörten ihrer Führung an. Während der Kölner Bankier Pferdmenges ein enger Berater und Freund Adenauers war, handelte es sich bei dem Unternehmer Werhahn um dessen Schwiegersohn: Die jüngste Tochter Adenauers, Elisabeth („Libet“), die mit letzterem verheiratet war, stand ihrem Vater besonders nahe und übernahm oft bei dessen Auftritten im In- und Ausland die Funktion der „Kanzlergattin“. Indem ausgerechnet die DDR-CDU diese Vorwürfe erhob, wollte sie sich deutlich von ihrer Schwesterpartei in der Bundesrepublik abgrenzen und der SED demonstrieren, dass sie dieser auch in der gegen Adenauer gerichteten Propaganda ergeben folgte.

 

Adenauer und der Nationalsozialismus

Adenauer wurde nicht nur, wie im Zusammenhang mit seiner Politik der Wiederbewaffnung gezeigt, bezichtigt, die auf Krieg ausgerichtete Politik Hitlers fortzusetzen. Die SED-Spitze diffamierte Adenauer auch als den „Hitler unserer Tage“, der offen den „militaristisch-faschistischen Staatsstreich“ vorbereite, um „die Reste der Demokratie zu beseitigen und die offene Diktatur der Konzern- und Bankherren zu errichten“. Um diese Behauptungen zu untermauern, suchte die SED-Führung nach Ansatzpunkten, um Adenauers Nähe zum Nationalsozialismus vor und nach 1933 zu belegen. Das erwies sich als besonders schwierig, da sich Adenauer dem Nationalsozialismus widersetzt hatte: Bei Hitlers Besuch in Köln im Februar 1933 hatte er als Oberbürgermeister die an der Deutzer Brücke angebrachten Hakenkreuzfahnen entfernen lassen. Infolgedessen wurde Adenauer zunächst vorläufig vom Dienst suspendiert und am 17. Juli 1933 endgültig abgesetzt. Dennoch versuchte die SED, in einem Gesuch Adenauers an den preußischen Innenminister um Versetzung in den pensionsberechtigten Ruhestand vom August 1934 einen Beleg für dessen Förderung der NSDAP vor 1933 zu finden. In dem Schreiben hatte Adenauer unter anderem dargelegt, dass er zu Beginn der 1930er Jahre – entgegen der Anweisung des preußischen Innenministers Carl Severing – der NSDAP städtische Versammlungsräume und Sportplätze zur Verfügung gestellt und das Hissen der Hakenkreuzfahne gestattet habe. Hintergrund war offensichtlich das Beharren auf seiner Prärogative als Oberbürgermeister und seine Entscheidung, NSDAP und KPD nicht mit verwaltungsrechtlichen Mitteln auszugrenzen. Im November 1961 veröffentlichte das Neue Deutschland  faksimilierte Ausrisse aus dem Gesuch. Hinzu kam noch der infame Vorwurf, Adenauer sei Antisemit gewesen und habe sich 1934 das Babelsberger Haus des nach England emigrierten Juden Paul Wiener angeeignet. Beides war unzutreffend: Adenauer hatte vielmehr beste Verbindungen zu Vertretern der jüdischen Gemeinde in Köln unterhalten und das Haus Wieners mit dessen Zustimmung nur für einige Zeit gemietet.

22. August 1961: Bundeskanzler Konrad Adenauer (r.) und Franz Amrehn, Bürgermeister von Berlin, an der Mauer. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung Bildbestand B 145 Bild-00009316
22. August 1961: Bundeskanzler Konrad Adenauer (r.) und Franz Amrehn, Bürgermeister von Berlin, an der Mauer.

All das erwies sich aus Ost-Berliner Sicht indes als unzureichend, um Adenauer persönlich als Unterstützer und Nutznießer des Nationalsozialismus erscheinen zu lassen. Daher konzentrierte sich die SED-Führung auf das Umfeld des Bundeskanzlers, wo sie sehr viel eher fündig wurde. Die entsprechende Kampagne gegen ehemalige Nazis in der Bundesrepublik hatte schon 1957 mit einer Propagandaoffensive gegen „Hitlers Blutrichter“ begonnen, nahm aber an Fahrt auf, nachdem es in zahlreichen westdeutschen Städten an der Jahreswende 1959/60 zu antisemitischen Schmierereien gekommen war. Wenngleich der Verfassungsschutz Adenauer informierte, dass das Ministerium für Staatssicherheit der DDR (MfS) dafür verantwortlich sei – und der Bundeskanzler von einer Steuerung der Vorfälle von kommunistischer Seite überzeugt war –, haben sich in den Stasi-Akten bisher keine schriftlichen Beweise dafür finden lassen. Die Kampagnen gegen Bonn richteten sich unter anderem gegen Personen aus Politik, Militär, Verwaltung, Justiz und Wirtschaft, denen – meistens zu Recht – ihre NS-Vergangenheit vorgehalten wurde, um den „faschistischen“ Charakter der Bundesrepublik zu „beweisen“. Die DDR hingegen verwies darauf, dass sie mit der Bodenreform und den Enteignungen in der Industrie mit dem Kapitalismus auch die Grundlagen des Faschismus beseitigt habe.

Diese Kampagnen zu schildern, würde hier zu weit führen. Verwiesen sei aber auf das Vorgehen gegen den Bundesvertriebenenminister Theodor Oberländer und gegen den Chef des Bundeskanzleramts, Hans Globke. Oberländer, den auch Adenauer als „braun, sogar tiefbraun“ bezeichnet hatte, wurde – zu Unrecht – vorgeworfen, im Juli 1941 in Lemberg als Kommandeur des Bataillons „Nachtigall“ einen Befehl zum Massaker an der jüdischen Bevölkerung gegeben zu haben. Höhepunkt der Kampagne war ein Schauprozess gegen Oberländer vor dem Obersten Gericht der DDR im April 1960, in dem dieser in Abwesenheit zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt wurde. Das MfS scheute dabei nicht vor Manipulationen des Materials zurück. Mit dem Rücktritt Oberländers von seinem Amt am 3. Mai 1960 hatte die DDR indes ein wesentliches Ziel erreicht.

Im Vorfeld des Prozesses gegen Adolf Eichmann in Israel im Jahre 1961 nahm die SED den Adenauer-Vertrauten Globke ins Visier, einen der Kommentatoren der Nürnberger Rassengesetze. Indem man Globke als den „Eichmann Bonns“ bezeichnete und zum „engsten Vertrauten Himmlers“ hochstilisierte, versuchte man eine Verbindungslinie zwischen dem Kanzleramtschef und dem ehemaligen „Judenreferenten“ im Reichssicherheitshauptamt zu konstruieren. Parallel zu der Propagandakampagne drängte der dafür Verantwortliche, Albert Norden: „Wir brauchen unbedingt ein Dokument, das in irgendeiner Form die direkte Zusammenarbeit Eichmanns mit Globke beweist.“ Obwohl das nicht gefunden werden konnte, setzte Ost-Berlin die Kampagne fort, die im Juli 1963 ebenfalls in einen Schauprozess vor dem Obersten Gericht mündete, der nach dem Willen der SED „ein Weltprozeß gegen das Bonner Unrechtssystem“ werden sollte. Globke wurde, wie vor ihm Oberländer, in Abwesenheit zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt. Dass er im selben Jahr aus seinem Amt schied, war jedoch nicht Konsequenz des Prozesses, sondern hing schlicht mit dem Erreichen der Altersgrenze für die Pensionierung zusammen.

 

Resümee

Wenngleich die SED und ihr Apparat immer wieder versuchten, Belege für ihre Anschuldigungen gegen Adenauer zu finden, ging es ihnen nicht um die Person des ersten Bundeskanzlers. Adenauer war vielmehr das personifizierte Feindbild: Er stand für die Bundesrepublik, die es im Rahmen der deutsch-deutschen Propagandaschlacht zu bekämpfen, ja, zu besiegen galt. Von daher wurde die Bundesrepublik oft auch als „Adenauer-Staat“ oder „Adenauer-Regime“ bezeichnet. Dabei schreckte Ost-Berlin weder vor falschen Behauptungen noch vor Fälschungen zurück. Die Verbreitung von „Fake News“ war elementarer Bestandteil der Propaganda-Kampagnen gegen Adenauer und die Bundesrepublik.

Diese zielten vor allem auf die Deutschen in West und Ost, wobei im Verlauf der Zeit eine Akzentverschiebung zu beobachten ist. Zunächst, insbesondere bis 1952, wurde versucht, mit der gesamtdeutschen Karte den „Separatisten Adenauer“ auszustechen, nicht nur im Osten, sondern auch im Westen Deutschlands. Doch als die SED-Führung immer weniger an eine Wiedervereinigung zu ihren Bedingungen glaubte, wurde deren Zielsetzung defensiver: Es ging nun vor allem um eine Stabilisierung der Verhältnisse in der DDR, die sich Ende der 1950er/Anfang der 1960er Jahre in einer tiefen Krise befand.

Die Frage, welche Wirkung die Kampagnen entfalteten, ist schwer zu beantworten. Ein SED-Bericht über das Dorf Wendemark in Sachsen-Anhalt infolge der Ausrufung des „Neuen Kurses“ am 9. Juni 1953 legt nahe, dass die Propaganda auf taube Ohren stieß: „Das gesamte Dorf ist in der Gaststätte betrunken und trinkt auf das Wohl von Adenauer.“ Eine Allensbach-Erhebung von 1992 unter West- und Ostdeutschen ergibt kein einheitliches Bild: Zwar waren im Westen 34 Prozent und im Osten nur 9 Prozent der Meinung, Adenauer habe am meisten für Deutschland geleistet; dass Adenauer sich in der Frage der Wiedervereinigung große Verdienste erworben habe, bekundeten jedoch 24 Prozent der Ostdeutschen und nur 19 Prozent der Westdeutschen. Zu vermuten ist, dass auf die Dauer die unablässig wiederholten Stereotypen in der DDR nicht ganz ohne Wirkung blieben. Ähnliches galt für die vergangenheitspolitischen Propagandakampagnen seit 1957. Diese verursachten zwar nicht den damals kritischer werdenden Umgang mit der NS-Vergangenheit im Westen Deutschlands, aber sie verstärkten einen bereits vorhandenen Trend. Insgesamt lässt sich jedoch feststellen, dass es den meisten Ostdeutschen alles andere als gleichgültig war, wer Bundeskanzler war: Nachgewiesen ist vor allem die große Popularität von Willy Brandt in der DDR, aber auch dessen Nachfolger Helmut Schmidt und Helmut Kohl waren vor allem aufgrund ihres Eintretens für menschliche Erleichterungen im Ost-West-Verkehr unter den Ostdeutschen geachtete Persönlichkeiten.

 

Hermann Wentker ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Potsdam und Leiter der Abteilung Berlin des Instituts für Zeitgeschichte.

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