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Essay

Krisenjahre des Liberalismus

von Jens Hacke

Über die Gegenwart der Zwischenkriegszeit

In der Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen und Theorien der Zwischenkriegszeit können wir Vieles lernen, das uns einen realistischen Blick auf die Gegenwart ermöglicht, sagt der Politikwissenschaftler Jens Hacke. Vorstellungen der Notwendigkeit einer „wehrhaften Demokratie“, Antitotalitarismus und der Gedanke des sozialen Rechtsstaats wurzeln in dieser Zeit. Nach 1945 hatten die Deutschen offenbar die richtigen Lehren aus dem Scheitern der Weimarer Republik gezogen, aber eine weitere Erkenntnis aus dieser Zeit lautet, dass die liberale Demokratie ein anspruchsvolles und voraussetzungsreiches Projekt ist, das keine Existenzgarantie kennt.

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Beratungen des Deutschen Reichstags am 3. Dezember 1930. SZ Photo/Süddeutsche Zeitung Photo
Beratungen des Deutschen Reichstags am 3. Dezember 1930.

Wann immer liberale Demokratien in unruhige Fahrwasser geraten sowie innere und äußere Bedrohungen zu erkennen sind, sind die Vergleiche zu den 1920/30er Jahren schnell zur Hand. Die Epoche der Zwischenkriegszeit bietet sich als dramatisch-multiple Vorbildkrise an, um vor autoritären Gefahren zu warnen, gesellschaftliche Fliehkräfte zu diagnostizieren und Symptome parlamentarischer Dysfunktionalität zu analysieren. Lange meinte man gerade in Deutschland, die Lektionen aus Weimar gelernt zu haben. Die bösen Geister von Irrationalismus und Gewaltbereitschaft, nicht zuletzt das Verhängnis eines vehementen Antiliberalismus, wirkten gebannt. Das Grundgesetz hatte die richtigen Lehren aus der „unentschiedenen“ Weimarer Verfassung gezogen und die über Jahrzehnte gewachsenen demokratischen Lebensformen in der Zivilgesellschaft mussten eine ernsthafte Infragestellung des politischen Systems unvorstellbar erscheinen lassen. Stärkung des Parlamentarismus, konstruktives Misstrauensvotum, Beschränkung des Präsidentenamtes auf repräsentative Funktionen, ein renovierter Föderalismus, Fünfprozenthürde – all das schien dafür zu sorgen, dass Regierungsbildungen einer starken Mitte für Kontinuität sorgen und eine gewachsene demokratische Kultur Extremisten und Demokratiegegnern keine Chancen eröffnet. Doch diese bundesrepublikanische Sicherheit ist ins Wanken geraten und auch der internationale Vergleich mit Blick auf die USA, Frankreich, die Niederlande oder Österreich kann nur noch wenig zur Beruhigung beitragen, wenn man den enormen Wählerzuwachs der rechtsextremen AfD in jüngster Vergangenheit in Rechnung stellt.

 

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Dass der Liberalismus (was immer damit genau bezeichnet werden soll) zum kranken Patienten erklärt wird, hängt nicht nur mit der Pulverisierung seiner parteipolitischen Exponenten zusammen. Trump-Amerika und der internationale Rechtspopulismus als Konjunkturaufschwung „illiberaler Demokratie“ spielen eine vertraute Melodie: Der Liberalismus entfalte seine destruktive Energie, weil er traditionale Bindungen zerstört, Wokeness und identity politics eines linksakademischen Milieus oktroyiere und die neoliberale Bereicherung globaler Eliten befördere. Mit der politischen Idee des Liberalismus hat das natürlich wenig zu tun, und seltsamerweise ist von dessen spannungsreichem Verhältnis zur Demokratie in solchen Abgesängen nie die Rede. Immerhin zählt der Brückenschlag zwischen Demokratie und Liberalismus, die Kombination von gleichem Wahlrecht, Sozial- und Rechtsstaat, modernem Repräsentativsystem und Gewaltenteilung zu den nachhaltigsten Innovationen des 20. Jahrhunderts. Die liberale Demokratie, die man nach 1918 Massendemokratie nannte, gab es vorher nicht. Für ihre Etablierung war der Abbau von Klassen- und Geschlechterschranken ebenso notwendig wie die Ausweitung der demokratischen Staatsaufgaben.

 

Liberalismus und Demokratie

Die Verbindung von Liberalismus und Demokratie war also alles andere als naturgegeben. Im Gegenteil, der Liberalismus tat sich im langen 19. Jahrhundert äußerst schwer mit dem demokratischen Gedanken. Mit Volkssouveränität und umfassenden Gleichheitsbestrebungen hatten bürgerliche Liberale wenig im Sinn. Ebenso wie der große britische Philosoph John Stuart Mill beharrte Max Weber in Deutschland auf den Eigentums- und Bildungsprivilegien der bürgerlichen Schichten. Anders als Mill, der politische Mitbestimmung an einen staatsbürgerlichen Eignungstest knüpfte und für ein ungleiches Pluralwahlrecht eintrat, sah der Realist Weber nicht nur die Notwendigkeit einer Elitenherrschaft, sondern hielt an der Unausweichlichkeit einer allgemeinen Demokratisierungsbewegung fest. So unmöglich es war, den heimkehrenden Soldaten und den Frauen nach dem Ersten Weltkrieg weiterhin das freie und gleiche Wahlrecht vorzuenthalten, so klar war für ihn auch, dass die bürgerlichen Besitz- und Bildungstitel weiterhin diejenigen bevorteilten, die den Beruf zur Politik wählen. Mit Blick auf die Vereinigten Staaten wusste Weber, dass die Gewährung demokratischer Partizipationsrechte noch lange keine Einebnung gesellschaftlicher Unterschiede bedeuten würde.

Weber war zwar Demokrat, aber die Parteiendemokratie mit Wahlkämpfen und parlamentarischen Auseinandersetzungen war für ihn hauptsächlich ein Mittel zur Auslese politischen Führungspersonals. Normative Erwägungen etwa hinsichtlich einer erwünschten breiten politischen Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger spielten für ihn eine untergeordnete Rolle. In seinen Augen waren demokratische Dynamik und personalisierte Entscheidungskompetenz des durchsetzungsstarken Politikers vor allem deshalb notwendig, um gegen die Sachzwänge der Bürokratie ein Moment menschlicher Entscheidungsfreiheit zu retten.

Webers kampfbetontes und elitäres Politikverständnis wirkt mittlerweile antiquiert. Er kannte keine Zivilgesellschaft, in der sich Bürgerinnen und Bürger für Politik engagieren konnten. Für ihn stand jedoch fest, dass Politik fortan nicht mehr auf demokratische Legitimation verzichten konnte. Diese Einsicht ist nicht zu unterschätzen. Sie machte Liberalen klar, dass sie sich, wie widerstrebend auch immer, der Demokratie öffnen mussten.

Weimars liberale Demokraten gingen bald weit über den 1920 verstorbenen Weber hinaus. Hartnäckig hält sich das Vorurteil, dass es der ersten deutschen Demokratie an großen Vordenkern gefehlt habe. Dabei wird zweierlei übersehen: Zum einen verzichteten nachfolgende demokratische Intellektuelle auf Webers nationale Emphase und tragische Attitüde, zum anderen wirbelte die Botschaft der Vernunft und des liberalen Common Sense naturgemäß weniger Staub auf. Bei den demokratischen Staatsrechtlern wie Hans Kelsen, Hugo Preuß, Richard Thoma oder Hermann Heller spielte der Gedanke der demokratischen Teilhabe der Bürger, der Schutz ihrer Grund- und Freiheitsrechte sowie die herausgehobene Rolle der politischen Parteien eine zentrale Rolle. In viel stärkerer Weise als Weber thematisierten sie demokratische Gleichheit, den Schutz von Minderheiten und die sozialintegrative Kraft der Demokratie. Für Kelsen war das Ziel demokratischer Politik der soziale Friede, und die Fähigkeit zum Kompromiss die zentrale politische Tugend.

Der britische Ökonom und Diplomat John Maynard Keynes (1883-1946). Aufnahme vom 5. Juni 1940. Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo
Der britische Ökonom und Diplomat John Maynard Keynes (1883-1946). Aufnahme vom 5. Juni 1940.

Verteidigung und Evolution liberaler Ideen

Zur Krisendebatte der Zwischenkriegszeit gehört die Erosion liberaler Kernüberzeugungen und die Anfälligkeit bürgerlicher Kreise für einen neuen Autoritarismus. Die Sehnsucht nach einer starken Führungsfigur ließ zahlreiche liberale Intellektuelle mit der parlamentarischen Praxis hadern und über Modelle einer „autoritären Demokratie“ (Karl Loewenstein) oder „Führerdemokratie“ (Alfred Weber) nachdenken. Klassisch ausgerichtete Wirtschaftsliberale, die den wesentlichen Gegner traditionell im Marxismus verorteten, standen nun vor dem Problem, dass die Ökonomie zur Disposition des demokratischen Parteienwettbewerbs stand. Auch wenn die bürgerlichen Parteien in der aufgeheizten Atmosphäre der Novemberrevolution taktische Zugeständnisse an die allgemeinen Forderungen nach einer Sozialisierung der Schlüsselindustrien gemacht hatten, favorisierten liberale Ökonomen rationale Marktmodelle ohne den störenden Einfluss eines demokratischen Souveräns. Ludwig von Mises würdigte darum folgerichtig den Faschismus als Aufhalter einer sozialistischen Revolution, weil nach seinem instrumentellen Verständnis Politik in erster Linie dem Markt zu dienen habe. Eine solche Haltung beförderte das Schreckbild eines „autoritären Liberalismus“ (Hermann Heller), der im Interesse des Kapitals agierte.

Zwei wichtige liberale Denkstile lassen sich exemplarisch gegenüberstellen: Moritz Julius Bonn verkörperte den realpolitisch orientierten prinzipienfesten Liberalen, der die Orientierung an den Grundsätzen von Freiheit und Chancengleichheit zur Geltung brachte, für Minderheitenschutz, „sozialen Pluralismus“, parlamentarische Regierung und Mehrheitsentscheidung warb sowie den Rationalismus und die Kompromiss- und Friedensfähigkeit des Liberalismus hervorhob. Die Dynamik der Marktwirtschaft wollte er, dem idealisierten Vorbild der Vereinigten Staaten nacheifernd, nutzen, um einen demokratischen Kapitalismus zu verwirklichen. Der Liberalismus blieb für ihn ein unabgeschlossenes Projekt, weil er sich immer wieder aufs Neue der ideologisch inspirierten Gewaltbereitschaft und den regressiven Mächten des Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus entgegenstellen müsse.

John Maynard Keynes hingegen avancierte zum prominentesten liberalen Intellektuellen seiner Zeit und forderte eine umfassende Modernisierung des Liberalismus. Keynes stellte nicht, wie ihm unterstellt wurde, den Freihandel in Frage, er bezweifelte nur, dass sich auf einer ökonomischen Doktrin eine politische Theorie gründen lasse. Dem Kapitalismus attestierte er die Unfähigkeit zur geistigen Selbstverteidigung, weil er keinen politischen Appeal mehr besitze. Der Liberalismus müsse sich aus seiner ökonomischen Fixierung lösen und neue Antworten für die Aufgaben des Tages finden. Damit meinte Keynes nicht nur eine interventionistische Wirtschafts- und Geldpolitik, also die aktive Gestaltung ökonomischer Rahmenbedingungen, sondern empfahl eine grundsätzliche politische Neuorientierung: in Friedensfragen, im Hinblick auf eine dezentrale und effiziente Governance, aber auch gesellschaftspolitisch müsse man sich an die Spitze sozialer Entwicklungen stellen, um die Stellung der Frau, Heiratsgesetze, gleichgeschlechtliche Beziehungen und den Drogenkonsum zu liberalisieren. Undogmatisch fordert er ein Denken, das sich an den Freiheitsbedürfnissen des Individuums orientiert.

 

Antitotalitarismus, wehrhafte Demokratie, gezähmter Kapitalismus

Einen Einschnitt bedeutete die Auseinandersetzung mit dem Faschismus. In den 1920er Jahren wurde die staatliche Ordnung zum ersten Mal durch eine Massenbewegung von rechts bedroht. Liberale Demokraten erkannten in der faschistischen Politik der Gewalt, in der Suspendierung des Rechtsstaates, im Antiparlamentarismus und im Führerkult Symptome eines neuartigen europaweiten Phänomens. Für echte Demokraten war die Haltung zum Faschismus daher ein Lackmustest ihrer freiheitlichen Überzeugungen. In den Grundzügen entwickelten die Verteidiger der Republik, die sich von links- und rechtsideologischen Massenbewegungen bedrängt sahen, bereits eine Vorform der Totalitarismustheorie. Die Konfrontation mit Bolschewismus, Faschismus und Nationalsozialismus führte schließlich zu einer strengen kategorialen Trennung von Diktatur und Demokratie. Weder konnte die Diktatur als republikanisches Verfassungsinstitut Bestandteil einer demokratischen Verfassung sein noch die Vorstellung aufrechterhalten werden, dass eine kombinatorische Lösung möglich sei, die den Diktator durch von ihm selbst initiierte Plebiszite krypto-demokratisch legitimierte. Gegen Rechtsbrüche, Terror und die Suspendierung bürgerlicher Freiheiten gab es kein Mittel mehr, sobald der Weg des demokratisch verfassten Rechtsstaates verlassen war.

Die Erkenntnis, dass die demokratische Lebensform einen besonderen Schutz benötigte, war ins Zentrum liberalen Denkens gerückt. Der Staatsrechtler Karl Loewenstein sollte im Exil das Konzept der „militant democracy“ entwickeln. Es verdankt sich zu wesentlichen Teilen der Weimarer Erfahrung, und Loewenstein hatte auf der Staatsrechtslehrertagung 1931 in Halle bereits erste Ansätze dazu formuliert: „Der Staat, der von zwei radikalen Flügelparteien bewußt bedroht wird, muß sich entschlossen dagegen zur Wehr setzen.“ Loewenstein war sich aber auch der Tatsache bewusst, dass der wirksamste Schutz in der Einübung und Pflege einer demokratischen Kultur liege.

Angesichts existentieller Bedrohung durch Gewaltregime gewann für Liberale die demokratische Lebensform als zivilisatorische Errungenschaft der Moderne an Gewicht. Charakteristisch dafür war der neuerliche Rekurs auf den Humanismus und die Menschenrechte. Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg plädierte darum auch Thomas Mann für einen „militanten Humanismus“, der die westliche Demokratie verteidigen sollte. Das Bekenntnis zu Werten und die Frontstellung gegen den Totalitarismus schufen den neuen common ground für einen demokratischen Liberalismus.

Verändert hatte sich auch die liberale Vorstellung von Ökonomie und Gesellschaft. Beschleunigte Modernisierungserfahrungen und der politische und kulturelle Wandel sorgten dafür, dass die liberale Demokratie ganz neue Gestaltungsräume für die Politik erschloss. Aus dem warfare state hatte sich rasch der Wohlfahrtsstaat entwickelt, der aufgrund gesteigerter Verantwortlichkeiten Sozial- und Wirtschaftspolitik mitgestalten musste. Dem konnten sich auch Liberale nicht entziehen. Das Ende des Laissez-faire verkündete John Maynard Keynes spätestens 1926 in seiner gleichnamigen epochalen Rede, aber dieses Faktum war den meisten liberalen Denkern schon vorher klar. Die Umstellung von Kriegs- auf Friedenswirtschaft und die Bewältigung der Kriegsfolgen verlangten einen aktiven Staat, keinen Nachtwächter. Im Begriff des Sozialliberalismus bündelte sich das progressive Potential, das erst einmal für intellektuelle Aufbruchsstimmung, in der Krise aber schließlich für Überforderung sorgte.

Die meisten liberalen Ökonomen erkannten im Staat das wichtigste Instrument zur notwendigen Pazifizierung und Steuerung des Kapitalismus. Es gab den engagierten Sozialliberalismus der Brentano-Schule, die Brücken zur Sozialdemokratie und zur Gewerkschaftsbewegung schlagen wollte. Liberale Pragmatiker entwarfen das Leitbild eines demokratischen Kapitalismus, dessen Wertschöpfung allen Bevölkerungsteilen zugutekommen sollte. Vordenker eines sozialen Kapitalismus wiederum suchten nach dritten Wegen. Und es gab die Impulse einer neuliberalen Ordnungsökonomik, die mit Walter Eucken, Alexander Rüstow und Wilhelm Röpke die Rolle des Staates völlig neu konzipierte, nämlich unter der Prämisse, dass ideale Marktbedingungen erst herzustellen seien, weil man sich nicht auf eine „invisible hand“ verlassen konnte. Freilich sahen insbesondere Walter Eucken und Alexander Rüstow die Interessengruppen einer pluralistischen Gesellschaft noch als Störfaktoren an, und für die parlamentarische Parteiendemokratie hegten sie zunächst wenig Sympathie. Gleichwohl entwickelten diese Ökonomen Ansätze, die dann später unter dem Label des Ordoliberalismus und der Sozialen Marktwirtschaft in der Bundesrepublik einflussreich werden sollten.

Portrait des Ökonomen Moritz Julius Bonn (1873–1965). Bundesarchiv, Bild 146-1990-080-26A / CC-BY-SA 3.0
Portrait des Ökonomen Moritz Julius Bonn (1873–1965).

Leitplanken für die Zeit nach 1945

„Wehrhafte Demokratie“, Antitotalitarismus und ein sozial eingehegter „rheinischer Kapitalismus“ – damit sind wesentliche Ideen bezeichnet, die nach 1945 das politische Selbstverständnis in Westdeutschland prägen sollten. Insofern haben die Verlierer von 1933 späte Siege errungen. Allerdings lässt sich die Ideengeschichte gewiss nicht als stringente Kette von Lernprozessen verstehen. Doch zur umfassenden Neujustierung liberalen Denkens zählten ein neues Kontingenzbewusstsein, eine Wende zur Skepsis und ein geschärfter Sinn für politische Gewalt. Das Wissen darum, dass demokratische Gesellschaften nicht davor gefeit sind, in zivilisatorische Regression und eine Herrschaft des Unrechts abzugleiten, prägte ein normativ erneuertes, aber zugleich realistisch gewordenes liberaldemokratisches Denken.

Demokratie, so die aus der Zwischenkriegszeit gewonnene Grundeinsicht, war nur als parlamentarisch-repräsentative Regierungsform funktionsfähig und durfte den Pfad der freiheitsgarantierenden Rechtsstaatlichkeit nicht verlassen. Doch darin erschöpft sich das Vermächtnis der liberalen Weimarer Demokraten nicht. Sie wussten auch, dass die demokratische Verfassung keine Existenzgarantie kennt. Hans Kelsen sah den Identitätskern der Demokratie darin, ihren Feinden nur mit Argumenten begegnen zu dürfen. Gegen eine demokratische Selbstpreisgabe gab es aus seiner Sicht kein probates Mittel. Diese Haltung rief bei wehrhaften Republikanern Widerspruch hervor. Aber auch sie sahen, dass Republik- und Verfassungsschutzmaßnahmen stumpfe Schwerter blieben, solange sie sich nicht auf breite Mehrheiten stützten. Die liberale Demokratie benötigt die erneuerungsfähige Vision einer gerechten Gesellschaft, sie hängt von der alltäglichen Einübung ihrer Praktiken ebenso ab wie von der Pflege ihrer Institutionen und von der Sorge um sozial Benachteiligte.

Die Demokratiedebatte der Zwischenkriegszeit gehört fraglos zu den Sternstunden der politischen Ideengeschichte. In der Auseinandersetzung mit den Vordenkern der liberalen Demokratie gewinnen wir ein Gefühl für die Herausforderungen der Gegenwart. Die Einsichten des 20. Jahrhunderts bleiben aktuell, weil sie uns daran erinnern, wie anspruchsvoll das Projekt der liberalen Demokratie tatsächlich ist. Dass die heutigen Bedingungen für den Erhalt und die Weiterentwicklung dieses politischen Modells trotz aller Kassandrarufe viel günstiger sind als damals, sollte für künftige Herausforderungen Mut machen.

 

Jens Hacke lehrt als Vertretungsprofessor Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Halle-Wittenberg.

 

 

Literaturhinweise:

  • Moritz Julius Bonn: Die Krisis der europäischen Demokratie. München 1925.
  • Edmund Fawcett: Liberalism. The Life of an Idea. Princeton 2014.
  • Alexander Gallus/Ernst Piper (Hg.): Die Weimarer Republik als Ort der Demokratiegeschichte. Eine kritische Bestandsaufnahme. Bonn 2023.
  • Christoph Gusy (Hg.): Demokratisches Denken in der Weimarer Republik. Baden-Baden 2000.
  • Jens Hacke: Liberale Demokratie in schwierigen Zeiten. Weimar und die Gegenwart. Hamburg 2021.
  • Hans Kelsen: Verteidigung der Demokratie. Abhandlungen zur Demokratietheorie. Tübingen 2006.
  • John Maynard Keynes: Das Ende des Laissez-Faire. Ideen zur Verbindung von Privat und Gemeinwirtschaft. Berlin 1926 (Neuausgabe 2011).
  • Karl Loewenstein: Militant Democracy and Fundamental Rights I & II, in: American Political Science Review 31, S. 417-432, 638-658.
  • Max Weber: Gesammelte Politische Schriften. Tübingen 1988, 5. Aufl.

 

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